8. KAPITEL
Taylor und Baldwin gingen für weitere vierzig Minuten mit Supervisory Special Agent Hall die Einzelheiten durch, kamen aber zu keinen neuen Ergebnissen.
Hall war ein guter Cop, das musste Taylor zugeben. Er hakte seine Checkliste ab, wie sie es auch getan hätte – methodisch und genau wandte er sich ohne zu hetzen dem nächsten Punkt erst zu, wenn jedes Detail von allen Seiten beleuchtet worden war. Sie waren alle auf die falschen Agents hereingefallen und waren nun sehr darauf bedacht, keine weiteren Fehler mehr zu machen. Taylor respektierte das und versuchte, ihre Ungeduld im Zaum zu halten. Sie machte sich Sorgen um Fitz und wollte einfach nur so schnell wie möglich wieder zurück auf vertrautes Terrain, an einen Ort, von dem sie wusste, dass sie sich dort vernünftig schützen konnte.
Die ganzen Agents. Sie beneideten Hall nicht um seine Aufgabe, die Familien zu informieren. Doch würde er das erst tun müssen, wenn sie alle Spuren an allen Tatorten gesichert hatten.
Ihr kam ein verrückter Gedanke, der wie ein Sturm durch ihren Kopf toste. Könnte die falsche Sansom der Pretender sein? War es möglich, dass es sich die ganze Zeit um eine Frau gehandelt hatte?
Auf den zweiten Gedanken erschien ihr dies doch eher unwahrscheinlich. Sie hatten DNA von verschiedenen Tatorten, aber dort falsche Spuren zu hinterlassen war einfach. Sie rief sich in Erinnerung, wie die Frau sich vorgebeugt hatte, um alle Einzelheiten zu hören; bei der Beschreibung der verschiedenen Morde hatten ihre Augen geleuchtet.
Nein, das fühlte sich nicht richtig an. Es war zwar möglich, aber so unwahrscheinlich, dass Taylor die Gedanken aus ihrem Kopf verbannte. Dieser Verrückte war ein Mann, der Frauen benutzte und sie dann wegwarf wie ein benutztes Taschentuch – auf den Boden geworfen, ohne einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden.
Als der SBI-Agent mit ihnen fertig war und anfing, den Tatort zu sichern, rief sie ihre Chefin, Commander Joan Huston, an und berichtete von den Neuigkeiten. Mit Huston zu sprechen half Taylor, sich zu beruhigen – ihre Chefin war so pragmatisch wie kompetent. Huston versicherte Taylor, dass Fitz gut angekommen war und später am Tag von den Augenspezialisten im Vanderbilt operiert werden würde. Lincoln Ross würde die ganze Zeit über bei ihm bleiben.
Endlich hatte Taylor das Gefühl, wieder atmen zu können. Fitz war in Sicherheit.
Jetzt konnte sie sich auf die vor ihr liegenden Probleme konzentrieren.
Das Polizeirevier von Nags Head glich einem aufgescheuchten Ameisenhügel. Kriminaltechniker waren ausgeschwärmt. Die Leichen mussten noch abtransportiert werden, doch im Moment waren noch zu viele Beweise zu sichern. Trotz der Kälte taumelte eine einsame, vom Blut betrunkene Fliege durch den Flur. Taylor schlug nach ihr und verfehlte sie. Fluchend sah sie zu, wie sie in einem Lüftungsloch verschwand. Die Fliege würde zurückkommen, und sie würde Freunde mitbringen. Taylor hoffte, dass sie schnell hier fertig waren.
Baldwin und sie wurden in verschiedene Räume gebracht, um Phantombilder von den drei Verdächtigen erstellen zu lassen. Taylor vermisste die alten Zeiten, als noch wirkliche Künstler die Bilder gezeichnet hatten. Die Software, mit der man heute arbeitete, war zwar schnell und bequem, doch es fehlte ihr ein gewisses Maß an Perfektion, die Möglichkeit, durch leichte Schattierungen die Feinheiten herauszuarbeiten, wie es nur ein Mensch mit einem Bleistift konnte. Während der Officer ihre Beschreibung der Verdächtigen ins Programm eingab, erfasste Taylor ein bizarres Gefühl des Dejá-vu. Ein anderer Künstler auf einem anderen Polizeirevier, dem sie eine genaue Beschreibung des Mannes gab, den sie für den Pretender hielt.
Dieser Fall. Dieser verdammte Fall mit seinen vielen Theorien und Vermutungen. Sie musste ihn aufhalten. Etwas anderes hatte in ihr im Moment keinen Platz.
Als sie mit den Phantombildern fertig waren, trafen sie sich zu einem weiteren Debriefing mit Hall. Es fand in dem gleichen Raum statt, in dem sie den Vormittag mit den Mördern verbracht hatten.
„Ich habe gerade einen Anruf erhalten. Am Highway 64 wurde in der Nähe von Plymouth eine Leiche gefunden. Die Beschreibung passt auf den Mann, der sich hier als Eliot Polakis vorgestellt hat.“
„Wie ist er ums Leben gekommen?“, fragte Taylor.
„Ein Schuss in den Kopf, dann wurde er aus dem Auto geworfen. Er lag am Straßenrand und sah genauso aus, wie Leichen aussehen, wenn sie aus dem fahrenden Auto geschubst werden.“
„Also gibt es im Auto jetzt Blutspuren.“
„Dafür müssen wir sie erst einmal finden. Es gibt in dieser Gegend so viele einsame Straßen und Brücken und Wege – sie könnten das Auto irgendwo stehen lassen und sich ein anderes nehmen. Wir würden Wochen brauchen, um es zu finden.“
„Aber sie wenden sich jetzt gegeneinander. Das ist gut. Vielleicht tun sie uns einen großen Gefallen und eliminieren sich gegenseitig“, sagte Baldwin.
Taylor schenkte ihm ein humorloses Lächeln. „Man soll die Hoffnung nie aufgeben. Aber vermutlich war das von vornherein so geplant. Zu viele Köche verderben den Brei, vor allem wenn man Befehle von einem Mörder entgegennimmt, der gerne der unangefochtene Herrscher ist.“
Hall rieb sich erschöpft mit den Händen übers Gesicht. „Mädchen, Sie fangen an, mir Angst zu machen. Sind Sie bereit, noch einmal alles durchzugehen?“
Baldwin fing an. Er fasste zusammen, worüber sie gesprochen hatten, und beschrieb noch einmal die Veränderung in ihrer Persönlichkeit, als die falsche Sansom anfing, ihre Karten offenzulegen.
„Sie waren gut. Sehr gut. Alle drei müssen an irgendeinem Punkt in ihrem Leben Erfahrungen in der einen oder anderen Strafverfolgungsbehörde gemacht haben“, sagte Baldwin zum Schluss.
„Lieutenant Jackson, mögen Sie mir auch noch einmal Ihren Eindruck schildern?“, fragte Hall.
Sie hatte den ganzen Morgen Zeit gehabt, darüber nachzudenken. „Sie wirkten total echt. Ich fühlte mich in ihrer Gegenwart ein wenig unbehaglich, aber das lag nur an ihren Andeutungen, dass Fitz vielleicht für Susies Tod verantwortlich war. Das hat mich so aufgeregt, dass mir alles andere entgangen ist.“ Hall akzeptierte die in ihren Worten liegende Entschuldigung mit einem leichten Nicken.
Taylor spielte mit ihrem Pferdeschwanz, während sie in Gedanken noch einmal alles durchging. „Im Nachhinein würde ich sagen, dass sie ein wenig zu eifrig wirkte. Zu aufgeregt von Dingen, die für jemanden in ihrer Position gar nicht aufregend hätten sein dürfen. Ihre Körpersprache stimmte nicht. Sie beugte sich vor, wenn sie sich hätte zurücklehnen sollen. Leckte sich über die Lippen, wenn sie hätte zusammenzucken müssen.“
Ihr lief ein leichter Schauer über den Rücken. „Ich habe es schon einmal mit diesem Monster aufgenommen. Er macht mir höllische Angst. Sie hingegen war von der Präsentation nicht im Mindesten beunruhigt. Das hätte uns eine Warnung sein müssen. Mir hätte auffallen müssen, dass irgendetwas nicht stimmt. Mein Sergeant hat versucht, mir etwas mitzuteilen, aber ich habe nicht gut genug zugehört.“
„Ich denke, wir können ruhigen Gewissens sagen, dass sie alle hinters Licht geführt haben, Lieutenant. Machen Sie sich keine allzu großen Vorwürfe.“ Er versuchte, nett zu sein, aber dafür hatte Taylor keine Zeit.
„Ich weise nicht gerne darauf hin, Agent Hall, aber wenn ich besser achtgegeben hätte, wären vier Leute jetzt vielleicht noch am Leben. Wir müssen jetzt los. Hier herumzusitzen und über ihn zu sprechen, bringt uns nicht weiter. Wir müssen nach Nashville zurück. Dahin ist der Pretender jetzt unterwegs. Dessen bin ich mir sicher.“
„Warum? Warum sind Sie sich da so sicher?“
Sie vermied es, Baldwin anzuschauen. Als sie weitersprach, war ihre Stimme belegt. „Weil alles, was mir wichtig ist, sich entweder dort oder in diesem Raum hier befindet. Ich muss nach Hause zurück. Und zwar sofort.“
Hall lehnte sich in seinem Stuhl zurück und schaute sie lange an. Dann warf er einen Blick auf Baldwin, der nur stumm nickte.
„Okay. Halten Sie sich aber bereit, bei Bedarf hierher zurückzukommen. Für den Moment können Sie gehen. Danke für Ihre Hilfe.“ Er stand auf und schüttelte ihnen die Hand. Taylors hielt er einen Augenblick länger fest als nötig. „Ich muss vier Familien berichten, dass sie einen Angehörigen nie mehr wiedersehen. Passen Sie gut auf sich auf, ja?“
Taylor und Baldwin setzten sich auf den Rücksitz des Streifenwagens von Nags Head. Der Officer am Steuer war noch sehr jung und starrte sie offen aus rot geäderten Augen an. Taylor schüttelte den Kopf leicht, um jede Frage im Keim zu ersticken. Sie war noch nicht so weit, eine lockere Unterhaltung über die Ereignisse des Morgens zu führen, vor allem nicht mit jemandem, der die Opfer kannte. Sieben Tote, Susie mitgerechnet sogar acht, und neun, wenn man den einen Täter mitzählte. Die Erde von North Carolina war vom Blut Unschuldiger durchtränkt, und jeder Mord lag Taylor schwer auf der Seele. Das hätte nicht passieren dürfen. Sie hätte besser aufpassen, hätte fühlen müssen, dass irgendetwas nicht stimmte. Sie war so in ihrer eigenen Trauer über den tödlichen Schuss auf den Teenager gefangen gewesen, dass sie alle Warnsignale übersehen hatte. Offensichtlich kannte der Pretender sie besser, als sie sich selbst kannte.
Der Officer bog auf die Hauptstraße ab und fuhr in Richtung Privatflughafen. Baldwin war die ganze Zeit mit seinem Handy beschäftigt und erlaubte ihr so, sich ein paar Augenblicke nur mit ihren dunklen Gedanken zu befassen.
Innerhalb von fünfzehn Minuten saßen Baldwin und sie sicher in den weichen Ledersitzen der Gulfstream, und während Cici, die Flugbegleiterin, sie mit wachen Augen beobachtete, holte der Pilot die Erlaubnis zum Abflug ein. Baldwin bedeutete Cici, sie in Ruhe zu lassen, und beugte sich dann zu Taylor hinüber.
„Pietra hat mir gerade eine Nachricht geschickt. Du wirst es nicht glauben. Keine der Spuren ist verwertbar“, sagte er.
„Was soll das heißen?“
„Das heißt, dass es irgendjemandem gelungen ist, alles zu kontaminieren, was die SBI-Agents auf dem Boot und in dem Wohnwagen an Beweisen gesammelt haben. Es wurde eine zweite Blutquelle hinzugefügt, die mit Bleiche vermischt war. Selbst wenn es ihnen gelingen würde, die DNA zu extrahieren, würde das vor Gericht nicht standhalten.“
Pietra Dunmore war Baldwins forensische Expertin in Quantico. Sie hatte einen legendären Ruf unter den Forensikern des Landes und war brillant, kompetent und Baldwin loyal ergeben. Eine Million Gedanken rasten Taylor durch den Kopf.
„Wie? Wie schafft er das?“, fragte sie schließlich. „Er ist doch nur ein einzelner Mann.“
„Wie wohl? Er hat sich mit seinem Charme an eine Frau herangemacht und sie dazu überredet, diese schmutzige Arbeit für ihn zu übernehmen. Das kennen wir von ihm doch schon.“
Stimmt. Das kannten sie. Und sie hatten auch die Leichen gesehen, die er hinter sich zurückließ.
„Glaubst du, die falsche Renee Sansom hat die Beweise kontaminiert? Wann könnte sie darauf Zugriff gehabt haben?“, überlegte Taylor laut.
Baldwin fuhr sich mit den Fingern durch seine bereits zerzausten Haare. „Erinnerst du dich, was du gesagt hast? Dass er nur das Auge nach Asheville gebracht hat, anstatt Fitz durch den halben Staat zu schleifen? Das könnte alles von ihnen inszeniert worden sein. Wenn der Pretender mehrere Leute hat, die für ihn arbeiten, ist es vielleicht gar nicht seine Handschrift. Und dann stünden wir wieder ganz am Anfang.“
„Aber wie sollte es den falschen Agents gelungen sein, sich Zugriff auf die Beweise zu verschaffen? Sie haben die SBI-Agents ganz früh heute Morgen überfallen. Die Spuren sind doch sicherlich schon seit Tagen unter Verschluss, immerhin sind sie schon letzte Woche gesammelt worden.“
„Hall hat gesagt, dass die Jungs von der westlichen Niederlassung alles hierhergebracht haben, damit seine Leute sich darum kümmern können. Sie haben im gesamten Staat nur ein einziges Labor. Wir müssen uns erkundigen, wann die Beweise eingegangen sind und wer seitdem Zugriff auf sie hatte. Das ändert allerdings nichts daran, dass sie für uns nicht mehr zu gebrauchen sind.“ Er sackte auf seinem Sessel zusammen.
„Glaubst du, dass sie eine persönliche Verbindung zu ihm hat? Ist sie seine Geliebte? Oder nur ein Werkzeug, jemand, den er unterwegs getroffen hat? Er scheint ein gewisses Talent dafür zu haben, Leute zu finden, die mit ihm zusammenarbeiten wollen. Vielleicht gibt es irgendwo eine Psychopathen-Hotline?“
„Nein, ich glaube, es handelt sich um jemanden, der ihm nahesteht. Der ihn beeindrucken will. Das habe ich im Gefühl.“
Taylor nahm seine Hand. „Bist du dir da sicher? Das ist nicht nur eine … impulsive Reaktion, oder?“
Die Motoren heulten auf, und kurz darauf wurden sie auch schon in ihre Sitze gepresst. Das Flugzeug hob ab, neigte sich nach links und flog Richtung Westen. Als sie ihre Flughöhe erreicht hatten und Cici sich wieder frei in der Kabine bewegte, sprach Baldwin erneut.
„Nein Taylor, ich reagiere nicht über, falls du das meinst. Ich bin sehr, sehr vorsichtig. Ich habe Kevin Salt gebeten, die echte Renee Sansom genau zu durchleuchten. Vielleicht liefert uns das einen Anhaltspunkt, warum ausgerechnet sie angegriffen wurde. Wie sind sie und ihr Team zu diesem Fall gekommen? Rekrutiert der Pretender aktiv Leute? Und woher? Wie hat er es geschafft, die falschen Agents so schnell an Ort und Stelle zu haben? Das bedurfte einer enormen Vorausplanung.“
„Nun ja, wir haben den Pretender seit beinahe einem Jahr nicht mehr auf unserem Radar. Er hatte ausreichend Zeit, alles vorzubereiten.“
„Stimmt, die hatte er. Ich sage dir etwas: Wir können niemandem von außerhalb trauen.“
Sie dachte einen Moment darüber nach.
„Wenigstens haben wir in unseren Teams Leute, auf die wir setzen können. Fitz hat so ausweichend geantwortet, ich bin mir inzwischen sicher, dass er vor dem SBI nicht hatte reden wollen. Er muss etwas geahnt haben.“
„Das sehe ich genauso. Er ist klug. Vielleicht hat er etwas gesehen oder gehört.“
„Er wird wieder gesund, oder?“
„Ja. Es wird eine Weile brauchen, aber er wird wieder gesund.“
„Dann sind wir jetzt also wieder mal auf uns allein gestellt“, flüsterte Taylor vor sich hin.
Baldwin legte einen Arm um sie; eine etwas ungelenke Geste angesichts des weiten Abstands zwischen ihren Sitzen.
„Aber so haben wir es doch am liebsten, nicht wahr?“, fragte er.