5. KAPITEL

Taylor hatte einen USB-Stick mit einer Powerpoint-Präsentation dabei, der ihr ursprünglich von ihrem Team übergeben worden war, als sie es mit dem Lehrling des Schneewittchenmörders zu tun hatten, der brutal in Nashville getobt hatte. Der Schneewittchenmörder selber hatte in den Achtzigerjahren zehn Mädchen aus Nashville getötet und der Polizei dann einen Brief geschickt, in dem er ankündigte, dass seine Gewaltherrschaft nun ein Ende gefunden habe. Über zwanzig Jahre lang hatte er Wort gehalten. Aber dann, an letzten Weihnachten, war der Mörder wieder aufgetaucht. Aus heiterem Himmel waren vier Mädchen grausam im Stil des Schneewittchenmörders getötet worden. Taylor und ihr Team hatten einen Nachahmungstäter vermutet, womit sie teilweise recht hatten. Damals waren sie das erste Mal auf den Pretender aufmerksam geworden. Aber er hatte schon lange, bevor er mit Taylors Welt in Kontakt kam, existiert.

Sie steckte den Stick in Sansoms Laptop. Yeager und Polakis stellten sich hinter sie, um ebenfalls etwas sehen zu können.

Taylor begann zu erzählen und versuchte dabei, den Schauer zu ignorieren, der ihr über den Rücken lief. Als sie diese Informationen das letzte Mal gehört hatte, waren sie von FBI Special Agent und Profilerin Charlotte Douglas vorgetragen worden. Charlotte hatte sie als Waffe benutzt, um Taylor schlecht dastehen zu lassen. Das war später dann allerdings böse auf sie zurückgefallen.

Taylor glaubte nicht, dass sie jemals den Anblick von Charlottes roten, in Blut schwimmenden Haaren vergessen würde oder das Bild der untergehenden Sonne, die sich in den blutigen Laken des Hotelzimmers zu spiegeln schien.

Taylor klickte sich durch die Präsentation, berichtete von den ursprünglichen Morden des Pretenders und fügte hier und da weitere Details hinzu, von denen sie inzwischen erfahren hatten. Als der Pretender schließlich nach Nashville gekommen war, konnten ihm bereits achtzehn Morde zugerechnet werden. Unter der Anleitung des Schneewittchenmörders beging er weitere vier, dann entgleiste er. Er tötete drei weitere Mädchen, bevor er angeschossen wurde und floh. Rechnete man Charlotte noch dazu, kam er inzwischen auf sechsundzwanzig Morde.

Taylor hörte ein Echo aus der Vergangenheit. Charlottes Stimme hallte triumphierend durch ihren Kopf. Diese vier Morde in Nashville konnten direkt mit den anderen achtzehn in Verbindung gebracht werden. Ihr habt es nicht mit einem Nachahmungstäter zu tun, ihr habt einen obszön produktiven Serienmörder an der Hand, dessen Opfer sich über fünf Staaten erstrecken. Die Ergebnisse aus CODIS sind unumstößlich. Sein Muster ist nicht zu leugnen. Es ist gut möglich, dass er in einen anderen Staat weiterziehen und noch mehr junge Frauen umbringen wird, wenn ihr ihn nicht hier in Nashville aufhaltet.

Trotz ihrer missionarischen Art hatte Charlotte Douglas recht behalten. Sie hatten ihn nicht aufgehalten. Und nun sahen sie, wo sie das hingebracht hatte.

Taylor spielte mit der Fernbedienung in ihrer Hand. „Wie Sie sehen, ist Susie McDonald das offiziell bestätigte siebenundzwanzigste Opfer. Natürlich nur, wenn die Beweise zu unseren bereits vorhandenen Spuren passen.“

„Ich dachte, Sie wären sicher, dass wir es hier mit dem Pretender zu tun haben? Immerhin haben Sie einen Augenzeugen, auch wenn der sich an nichts erinnern kann“, warf Sansom ein.

Taylor ignorierte den letzten Kommentar. „Sie wissen genauso gut wie ich, dass wir noch nichts haben, was unsere Vermutung ohne Zweifel bestätigt. Wir brauchen die Ergebnisse der DNA-Untersuchung und der Beweise, um es mit hundertprozentiger Sicherheit sagen zu können.“

Sansom öffnete eine Mappe und holte ein Phantombild heraus. „Ich hatte den Eindruck, dass Sie ihn schon einmal gesehen haben. Wir arbeiten derzeit mit diesem Bild, und Ihr Sergeant meinte, dass es sich um den gleichen Mann handelt.“

Taylor schaute auf das Bild, ein computergeneriertes Phantombild des Mannes, den sie gesehen hatte. Sie erinnerte sich daran, wie sie ihn beschrieben hatte. Gemeine Augen. Kantiger Kiefer. Dunkelblondes, militärisch kurz geschnittenes Haar. Eine sehr allgemeine Beschreibung.

„Fitz hat mir gesagt, dass er glaubt, es könne sich um den gleichen Mann handeln, aber er hat sein Gesicht nie richtig gesehen. Ja, er hat mir die Beschreibung gegeben, von einem kurzen Blick über vierhundert Meter durch ein Fernglas auf einen Mann, der vielleicht der Gleiche war, den wir in Nashville gesehen haben. Aber wir haben keinen wirklichen Beweis dafür, dass er der Pretender ist. Wir müssen die Verbrechen mit handfesten Beweisen und mit DNA-Spuren in Verbindung bringen, und das schaffen wir nur, wenn wir ihn fassen.“

„Okay, ich verstehe, was Sie meinen. Erzählen Sie mir mehr von seinen früheren Morden. Ich will jedes grausame Detail wissen.“

Taylor klickte zur nächsten Folie. „In Los Angeles hat er den Santa-Ana-Mörder aus den Fünfzigerjahren imitiert, der seine weiblichen Opfer zerstückelt in der Wüste zurückgelassen hat. In Denver war es der LoDo, der Lower-Denver-Killer, der Jagd auf Prostituierte gemacht hat. Er hat sie erwürgt und in auffälligen Posen an Straßenecken zurückgelassen. In Minneapolis, Minnesota, hat er den Kleinanzeigenmörder aus den Siebzigerjahren kopiert. Erinnern Sie sich an ihn? Ein alter Mann, der in der Star Tribune Anzeigen für kurzfristige Sekretariatsaufgaben geschaltet hat. Die Frauen, die auf die Anzeige geantwortet haben, hat er umgebracht.“

Sansoms Augen schimmerten. „Ja, ich erinnere mich an den Fall.“

„Gut. In New York wurde er der Prospekt-Lake-Killer, der seine Opfer erwürgte und im Prospect Lake Park auf Long Island zurückließ.“

Taylor legte die Fernbedienung auf den Tisch.

„Die Sache ist die: Nashville hat alles verändert. Er hat das Muster durchbrochen. Der Schneewittchenmörder war der einzige Mörder, der noch frei herumlief. Alle anderen Originalmörder waren gefasst und ins Gefängnis gesperrt worden. Zwei haben die Todesstrafe erhalten. Während er mit dem Schneewittchenmörder zusammen war, hat er angefangen zu improvisieren.“

„Warum?“

Baldwin schaltete sich in die Unterhaltung ein. „Eine ausgezeichnete Frage, auf die wir noch keine befriedigende Antwort haben. Die Beziehung zwischen den beiden Männern begann als eine Art … Ausbildungsverhältnis. Der Pretender hat sein Handwerk unter Anleitung des Schneewittchenmörders gelernt wie ein Maler oder Bildhauer unter seinem Meister lernen würde. Schneewittchen hatte ein ganz spezielles Drehbuch, das er befolgt wissen wollte, doch sein Lehrling war damit nicht einverstanden. Er hat gespürt, dass er mächtig genug war, um auf eigene Faust zu handeln. Das war der Moment, in dem wir ihn verloren haben.“

Sansom wirkte beeindruckt. Sie starrte lange auf den Computerbildschirm, dann sagte sie: „Also warum hat er sein Muster geändert?“

Taylor und Baldwin tauschten einen Blick.

„Das würden wir auch gerne wissen“, sagte Baldwin. „Er verwirklicht sich selbst, versucht, seine bevorzugte Tötungsmethode herauszufinden. Sein Modus Operandi ist offensichtlich – es gefällt ihm, andere zu imitieren. Es ist ihm jahrelang erfolgreich gelungen, sich als jeweils andere Mörder auszugeben. Er ist wie ein Schauspieler, der Method Acting betreibt. Er findet in seine Rolle, indem er die Originale kopiert. Er wird dazu zurückkehren, dessen bin ich mir sicher. Aber inzwischen ist noch eine andere Komponente ins Spiel gekommen und hat seine Pläne durchkreuzt. Seine Anziehung zu Lieutenant Jackson. Ich glaube, dass er versucht, sie zu beeindrucken.“

„Sie Glückliche“, sagte Sansom.

„Sie haben ja keine Ahnung“, erwiderte Taylor.

„Hat er Sie je direkt bedroht?“

„Ja, mehrere Male. In der Vergangenheit war es mehr ein Katz-und-Maus-Spiel. Er will Anerkennung für sein Werk. Er hat schon einmal die Hände nach mir ausgestreckt, aber dieses Mal ist er persönlich geworden.“

Baldwin tippte mit einem Bleistift auf das Phantombild. „Ich glaube, er fühlt sich von Lieutenant Jackson abgewiesen. Sie war nicht gewillt, sein Spiel mitzuspielen. Das hat ihn verärgert, und diesen Ärger lässt er an denen aus, die ihr nahestehen.“

Hm„, sagte Sansom. „Wie können Sie nachts noch schlafen?“

Taylor zuckte mit den Schultern. „Gar nicht. Oder zumindest nicht viel.“

Sie schwiegen für einen Moment. Sansom schien das Gespräch mit neuer Energie, neuer Tatkraft zu erfüllen. Sie entließ ihre beiden Agents mit einem kurzen Nicken, wartete, bis sie die Tür hinter sich geschlossen hatten, und lächelte dann Taylor und Baldwin an.

„Das klingt nach einem guten Zeitpunkt, um ihn endlich zu fassen. Warum, glauben Sie, hat er Sergeant Fitzgerald am Leben gelassen? Und wo wird er Ihrer Meinung nach als Nächstes hinziehen?“

„Fitz war eine Warnung“, sagte Taylor. „Er war nur ein Pfand, eine Möglichkeit, meine Aufmerksamkeit zu erregen. Wohin der Pretender als Nächstes unterwegs ist, kann man nur raten. Es gibt bei ihm keine vorhersehbaren Muster.“

„Sieht so aus, als hätte die Warnung funktioniert“, merkte Sansom an. „Immerhin sind Sie hier.“

Taylor nickte nur. Schweigen legte sich über den Raum. Sansom beobachtete sie eine Minute, dann rutschte sie mit ihrem Stuhl näher heran.

„Ich will dabei sein. Ich will Ihnen helfen, ihn aufzuspüren. Lassen Sie mich erzählen, was wir bislang haben, und dann ermitteln wir von da aus weiter.“

„Ich bezweifle stark, dass er noch in North Carolina ist“, sagte Baldwin. Sein Blackberry piepte; er warf einen Blick auf das Display. Taylor spürte, wie seine Haltung sich veränderte, er ein kleines bisschen die Schultern straffte. Was war da los?

Sansom schien die Veränderung in Baldwin auch nicht zu entgehen. Sie beugte sich mit glänzenden Augen vor und tippte mit dem Finger auf die Mappe. „Hören Sie mir gut zu, Dr. Baldwin. Wir werden so tun, als wäre er immer noch in North Carolina. Zumindest so lange, bis wir etwas anderes erfahren. Ich habe jeden Zentimeter des Boots und des Wohnwagens in Asheville von den Kriminaltechnikern untersuchen lassen. Sie wollen Spuren? Ich habe Unmengen davon. Und ich tausche sie gegen die Chance, hier dabei zu sein.“

Baldwin löste seinen Blick von seinem Handy und räusperte sich. Taylor hörte die Anspannung in seiner Stimme.

„Agent Sansom, das hier ist kein Spiel. Die Regeln stellen nicht Sie auf. Sie tauschen keine Informationen, Sie geben Sie mir freiwillig und treten dann beiseite und lassen mein Team sich um die Sache kümmern. Wenn Sie das tun und wir ihn fassen, werden Sie die Anerkennung erhalten, die Sie und Ihr Team verdient haben. Glauben Sie mir, ich will, dass jeder hierbei gewinnt. Im Moment müssen Sie mich und Lieutenant Jackson jedoch entschuldigen, fürchte ich. Wir werden bei einer weiteren Besprechung erwartet.“

Sansom reagierte sichtlich gereizt. „Im Moment gibt es nichts Wichtigeres als diesen Fall hier. Ich kann Sie beide als wichtige Zeugen festhalten, wenn ich will. Aber ich glaube nicht, dass das nötig ist. Ich will nur helfen. Sie brauchen mich hierbei. Ich habe bereits die Erlaubnis meiner Vorgesetzten, mich Ihrer Task Force anzuschließen.“

Taylor sah den Sturm, der in Baldwins Augen aufzog. Normalerweise wurde ein Hilfsangebot von einem offensichtlich fähigen Agent immer gerne angenommen, aber Sansom war die Sache falsch angegangen. Hinzu kam, dass Baldwin ihr eindeutig nicht traute. Nein, ohne sie wären sie besser dran.

„Wir haben noch gar keine Task Force zusammengestellt, und ich weiß auch nicht, ob wir das tun werden. Also nein, Agent Sansom. Ich brauche Sie nicht. Ich habe bereits ein Team, in dem alle wichtigen Positionen besetzt sind.“

Einen Moment lang starrten Sansom und Baldwin einander in die Augen, als wollten sie schauen, wer zuerst den Blick abwendete. Dann klingelte Baldwins Handy. Er ignorierte es und hielt den Blick auf die SBI-Agentin gerichtet. Taylor wartete, dass er den Anruf annehmen würde, doch er ließ es klingeln, bis es mit einem Piepen aufhörte, was bedeutete, dass der Anruf auf die Mailbox umgeleitet worden war. Kaum hatte das Klingeln aufgehört, fing es auch schon wieder an.

Sansom lächelte, und Taylor spürte, dass irgendetwas fürchterlich falsch lief. Aus dem Augenwinkel warf sie Baldwin einen Blick zu und sah, dass seine rechte Hand an seiner Waffe lag. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass er seinen Arm bewegt hatte. Sofort war sie alarmiert. Sansom verlagerte das Gewicht, und Taylor hustete, um zu verbergen, dass sie ihr Holster ebenfalls aufknöpfte. Doch trotz ihrer Bemühungen hallte das Geräusch laut durch den Raum.

Sansom bewegte sich mit einer Geschwindigkeit, die Taylor kaum glauben konnte. Sie schob den Tisch in ihre Richtung, erwischte Taylor hart im Magen und stürzte dann zur Tür. Baldwin war sofort auf den Beinen und hinter ihr her. Taylor folgte mit gezogener Waffe und einigen Sekunden Verspätung. Sie hatte Mühe, wieder Luft zu bekommen. Sansom hatte den Überraschungsmoment auf ihrer Seite. Sie war aus der Tür und rannte davon, ihre Absätze klatschten auf das Linoleum, als sie den Flur hinunterlief. Taylor und Baldwin stürzten ihr hinterher aus dem Raum.

„Wo ist ihr Team?“, rief Taylor.

„Keine Ahnung. Halt die Augen offen.“

„Was zum Teufel ist hier los?“

Sansom stürmte durch die offenstehende Eisentür. Taylor sah, dass etwas dazwischengeklemmt worden war, damit die Verriegelung nicht funktionierte. Sie hörte einen Schuss, dann einen Schrei und weitere Schüsse, die dicht aufeinanderfolgten. Sie liefen in den Flur und sahen, wie Captain Nadis auf dem Fußboden zusammenbrach. Er war von einer Kugel in die Brust getroffen worden, das Blut sammelte sich in einer dunklen Pfütze unter ihm.

„Bleib bei ihm“, rief Baldwin. Taylor kniete sich neben den Chief und suchte hektisch nach seinem Puls, fand aber keinen. Ihm war nicht mehr zu helfen.

Baldwin hatte sich am Eingang zum Empfangsbereich positioniert. Taylor wischte sich Nadis’ Blut an der Jeans ab und bezog ihm gegenüber Position. Sie riskierte einen kurzen Blick, sah aber nichts außer dem bestrumpften Fuß der Rezeptionistin. Sie war getroffen, ein Bein schaute unter dem Tisch hervor.

„Keiner zu sehen“, sagte sie leise. Er nickte und schlängelte sich um die Ecke. Ein Motor heulte auf, Muschelschalen spritzen unter durchdrehenden Reifen auf. Sie eilten auf die Veranda und sahen gerade noch, wie eine schwarze Limousine mit ausbrechendem Heck auf die Hauptstraße abbog.

Es hatte keinen Sinn, auf ein flüchtendes Fahrzeug zu schießen. Im Gegenteil, es war sogar gefährlich. Aber trotzdem fingen beide an loszufeuern, schickten Kugeln durch die dünne, kalte Luft. Ein paar Mal hörten sie einen metallischen Einschlag, doch das Auto hielt nicht an, sondern verschwand mit quietschenden Reifen um die Kurve.

„Wir müssen ihnen nach“, rief Taylor. Baldwin senkte seine Waffe und hielt Taylor am Unterarm zurück.

„Was machst du da? Fahren wir.“

„Taylor, ist schon gut“, sagte er leise. „Sie werden nicht weit kommen.“

Aus der Ferne drang das eindeutige Dröhnen eines Helikopters zu ihnen herüber.

„Ist das Fitz’ Hubschrauber?“

„Nein, das ist einer von unseren.“

Der Schnee fiel jetzt sehr schnell, doch die weißen Flocken, die sich auf Baldwins schwarzen Haaren niederließen, schmolzen schnell. Er drehte sich zu Taylor um. Sein Blick war hart und kalt.

„Die Nachricht, die ich während unseres Gesprächs mit Sansom erhalten habe, war von Garrett. Vor zwanzig Minuten wurden am Strand etwas südlich von hier drei Tote gefunden. Eine Frau und zwei Männer. Ein SBI-Agent ist vor Ort und sagt, sie gehören zu ihnen.“

„Was meinst du damit?“

Baldwin zeigte über seine Schulter. „Die Leute, mit denen wir den ganzen Vormittag gesprochen haben, waren nicht die, für die wir sie gehalten haben. Die echten Renee Sansom, Wally Yeager und Eliot Polakis sind tot.“