35. KAPITEL
Taylor hörte Stimmen, dann Musik. Was zum Teufel war da los? Sie zwang sich, die Augen zu öffnen. Gut. Sie hatte geschlafen. Als sie sich aufsetzte, wunderte sie sich, wie erfrischt sie sich fühlte. Es waren nur wenige Stunden Erholung gewesen, aber immerhin. Sie hatte viel geträumt; nicht ihre üblichen düsteren Albträume, sondern von einem glücklichen, lächelnden Mann in einem rostfarbenen Laken. Ein Mönch. Er hatte ihr eine dünne Perlenkette hingehalten, die sie sich um ihr Handgelenk binden sollte. Sein zahnloses Lächeln war einnehmend und aufmunternd gewesen. „Zum Schutz“, hatte er gesagt.
Schutz. Ihre Hand glitt zu ihrem Handgelenk. Es war nackt.
Wenn Träume doch nur solch eine Macht hätten.
Sie schlug die Decke zurück, zog sich an und eilte nach unten. Baldwin stand mitten im Wohnzimmer. Er blutete. Zwei sehr große Männer standen neben ihm. Was zum Teufel machten die in ihrem Haus? Und warum blutete Baldwin? Verdammt!
„Gentlemen?“
Alle drei zuckten zusammen. Die Hände der Bodyguards glitten automatisch zu ihren Waffen, zogen sie aber nicht. Baldwin nickte den beiden zu.
„Deine Bewacher“, sagte er.
Die Kälte in seiner Stimme erstaunte sie. Während sie geschlafen hatte, war eindeutig irgendetwas vorgefallen.
Sie hielt seinen Blick einen Moment lang fest, versuchte, die frustrierten Fragen darin zu ignorieren. Dann wandte sie sich an die beiden Männer. „Wells, Rogers, uns geht es gut, wie ihr seht. Warum wartet ihr nicht draußen? Wir werden in Kürze ins CJC zurückfahren.“
„Ja, Ma’am“, sagte Wells. Sie drehten sich auf dem Absatz um und verließen das Haus unauffällig durch die Vordertür.
Als sie endlich alleine waren, wandte Taylor sich wieder Baldwin zu. „Was ist passiert?“
„Sie haben mich überrascht. Ich wollte die Post reinholen. Sie scheinen sehr gut zu sein.“ Er zuckte mit den Schultern, und sie erkannte daran, wie peinlich ihm das war. Das war noch nicht alles, das spürte sie, doch sie bedrängte ihn nicht. Er würde es ihr sagen, sobald er bereit dazu war. Sie merkte, dass er mit irgendetwas kämpfte. Als er sich umdrehte und in der Küche verschwand, folgte sie ihm, Zeit für einen Themenwechsel.
„Zeig mir mal deine Hand“, sagte sie.
„Ist schon gut.“ Er ließ sie aber trotzdem drauf schauen, um ihr zu zeigen, dass alles in Ordnung war. Taylor spülte das Blut im Spülbecken mit Wasser fort. Es war keine tiefe Wunde, aber dafür blutete sie umso heftiger. Die Ränder fingen schon an, zu verkrusten.
„Ich denke, du wirst es überleben, aber du solltest es vorsichtshalber mit Alkohol desinfizieren. Wie ist das passiert?“
„In der Post war ein Geschenk für uns.“
Taylor holte den Erste-Hilfe-Kasten aus dem Schrank und machte sich an die Arbeit. Baldwin stieß zischend den Atem aus, als sie die Wunde mit Alkohol reinigte und eine Heilsalbe auftrug, bevor sie ein großes Pflaster darauf klebte. Ein seltsames Echo der Fürsorge, die er ihr in Forest City hatte angedeihen lassen.
„Wie geht es deinem Bein?“, fragte er, als könne er ihre Gedanken lesen.
„Gut. Ich habe seit Stunden nicht mehr daran gedacht.“ Was stimmte, aber jetzt, wo sie es doch wieder tat, pochte ihr Schienbein leise. „Ich muss nachher mal den Verband wechseln.“
Sie hob seine Hand an ihre Lippen und setzte einen Kuss darauf. „Besser?“
„Wir werden sehen.“ Sein Tonfall ließ sie einen Schritt zurücktreten. Er schien wirklich verärgert zu sein. War er wütend auf sie? Oder war in der Zwischenzeit etwas anderes vorgefallen?
„Was ist in der Post gewesen, Baldwin?“
Er beugte und streckte seine Finger ein paar Mal, als wenn er den Verband testen wollte. Dann machte er ohne mit der Wimper zu zucken eine Faust. Da wusste sie, dass bei ihm alles in Ordnung war.
„Unser Freund hat uns eine Nachricht geschickt. Aber ich will verdammt sein, wenn ich etwas damit anfangen kann. Komm, ich zeige sie dir.“
Die Valentinskarte lag auf dem Küchentresen, wo er sie zurückgelassen hatte. Taylor klappte sie mit einem Stift auf und las die Worte. Überrascht bemerkte sie, wie wenig sie sich davon getroffen fühlte. Sie wurde langsam immun gegen seine Drohungen. Für Copeland war es nur ein Spiel, ein dummes Spiel. Kein Wunder, dass Baldwin so angefressen war. Der Pretender ärgerte sie, versuchte, ihnen eine Reaktion zu entlocken.
Sie ließ die Karte wieder zuklappen.
Baldwin führte sie ins Wohnzimmer und drückte Play auf der Stereoanlage. Musik erklang aus den Lautsprechern.
Nach einem Moment sagte Taylor: „Die Platters?“
„Richtig. Aber da ist noch mehr. Auf der CD steht auch irgendetwas. Er hat sie selber gebrannt, das ist keine Original-CD.“
„Lass mal sehen.“
Baldwin nahm die CD aus der Anlage und gab sie Taylor.
„Keine Ahnung, was das bedeuten soll. Ich kann da nichts draus erkennen.“
Auf den ersten Blick musste sie ihm zustimmen. Es waren einfach nur Buchstaben und Zahlen, die keinen wirklichen Sinn ergaben.
„Whiteboard“, sagte sie und ging nach oben in ihr Büro. Sie wischte die weiße Tafel ab und schrieb die Nummern und Ziffern von der CD oben hin. Sie mochte den strengen Geruch des Faserschreibers und die kleinen, quietschenden Geräusche, die er beim Schreiben verursachte. Und sie liebte ihr Whiteboard.
Als sie fertig war, trat sie ein paar Schritte zurück und schaute sich die Kombination an.
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„Eine Fahrgestellnummer?“, fragte sie.
„Nein. Fahrgestellnummern haben nur siebzehn Stellen. Das hier sind vierundzwanzig.“
„Erinnerst du dich daran, als es noch echte Flugtickets gab? Auf denen stand am unteren Rand auch immer eine ganz lange Ziffern- und Buchstabenfolge, die keinen Sinn ergeben hat, die aber die Codes für die Flughäfen, die Ausstattung der Maschinen, das Datum und die Sitznummer enthielt. Vielleicht ist es so etwas.“
„Gute Idee.“
Sie fingen an, mit den Buchstaben zu spielen, stellten sie in Gruppen zusammen, schrieben sie rückwärts auf, aber sie sagten ihnen immer noch nichts. Keine Abkürzungen für Flughäfen, Daten, nichts, was irgendeinen Sinn ergab.
Baldwin war frustriert und fuhr sich so oft mit den Händen durch die Haare, dass diese zu allen Seiten abstanden. Taylor strich sie wieder glatt und wischte dann ihre Mutmaßungen von der Tafel ab, sodass wieder nur die Originalzeichenfolge stehen blieb.
„Wir müssen es mal aus einem anderen Blickwinkel betrachten. Er schickt uns eine Nachricht. Was glauben wir, passiert gerade?“
„Er spielt ein Spiel.“
„Genau. Und wir wissen, dass er vermutlich andere Leute rekrutiert hat, mitzuspielen. Es hat in letzter Zeit drei Nachahmungsmorde gegeben, von denen wir wissen.“ Sie starrte auf die Tafel. Die Gedanken rasten nur so durch ihren Kopf.
„Wenn wir es in drei Blöcke unterteilen?“ Sie schrieb die Nummern neu auf.
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„Sagt mir immer noch nichts.“
Taylor spürte den ersten Anflug einer Idee. „Lass mich noch mal die CD sehen.“
Baldwin gab sie ihr. Sie schaute sich genau an, wie die Buchstaben und Ziffern gesetzt waren, und schrieb dann ein neues Muster an das Whiteboard.
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„Es sieht so aus, als ob zwischen dem ersten Teil und dem Ende eine kleine Lücke besteht. Wenn wir es so trennen und dann noch mal in drei Blöcke unterteilen …“
Sie schrieb weiter an der Tafel, trat zurück und schaute sich das Ergebnis an.
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„Kennzeichen?“, fragte sie und hörte, wie Baldwin scharf einatmete. Er startete den Computer auf ihrem Schreibtisch, seine Finger flogen nur so über die Tastatur, als er sich mit seiner FBI-Kennung in die Datenbank einloggte.
„Verdammt, du bist gut. Das muss es sein. Ich rufe eben Kevin an und bitte ihn, der Sache schnell auf den Grund zu gehen.“ Er lächelte sie an, sein Gesicht strahlte, und sie wusste, dass er ihr die Sache mit den Bodyguards verziehen hatte.
Würde er genauso empfinden, wenn er wüsste, dass sie einen Menschen mit Absicht erschossen hatte?
Sie schob den Gedanken beiseite.
Nachdem sie die CD in ihren Laptop gesteckt hatte, verließ sie das Zimmer, um Baldwin nicht zu stören. Im Gästezimmer setzte sie sich auf das Bett und drückte auf Play. Das Lied ertönte, und sie hörte sich den Text ganz genau an. Ihr liefen Schauer über den Rücken. So ein schlichter Song, von einem Psycho für seine perversen Spielchen missbraucht.
Das Lied war zu Ende; und es folgte eine Totenstille. Taylor wollte gerade den Auswurfknopf drücken, als sie etwas hörte. Sie beugte sich näher zu dem Lautsprecher und drehte die Lautstärke voll auf. Ein Rascheln, als würde eine Plastiktüte zusammengeknüllt, dann ein Husten. Sie hörte genau hin, doch mehr kam nicht. Bis auf einmal eine tiefe Stimme sprach.
„Komm nicht zu spät, Taylor. Wir werden dich erwarten.“
Die CD hielt an.
Für einen Augenblick erstarrte Taylor. Wir werden dich erwarten. Wir wer? Ewan Copeland und Ruth Anderson? Ewan und seine Nachahmungsmonster?
In Gedanken kehrte sie zum Whiteboard zurück. Zu der letzten Ziffern-Buchstabenkombination. Diejenige, die sie darauf gebracht hatte, sie vom Rest zu trennen.
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Wir werden dich erwarten.
Es traf sie mit aller Wucht, und sie rief nach Baldwin. Sie hörte, wie er sich am Telefon entschuldigte und dann sofort zu ihr eilte.
„Was ist los? Du bist so weiß wie die Wand.“
„Die letzte Nummer. Ich habe mich geirrt. Das sind keine Kennzeichen.“
„Was dann?“
„Ich weiß nicht, was E ist, aber 901QR muss 901 Quaker Run sein.“
Jetzt dämmerte es ihm auch. „Oh mein Gott.“
„Das ist Sams Adresse. Baldwin, er hat Sam.“