24. KAPITEL

Der Chief hatte recht, das Haus der Andersons war unmöglich zu übersehen. Nicht nur, weil es riesig und wunderschön war, eine Miniaturausgabe von Tara aus „Vom Winde verweht“, sondern auch, weil Dreiräder, Spielzeug, verlorene Fäustlinge und ein kleines, batteriebetriebenes Auto auf dem Rasen davor verstreut lagen, lebhafte Zeugen der angekündigten Kinderinvasion. Kinderlachen schallte durch die Luft, Freudenrufe, bei denen Taylors Magen sich schmerzhaft zusammenzog. Wann war sie das letzte Mal so unschuldig und sorgenfrei gewesen? So unglaublich glücklich?

Sie hielten am Bürgersteig und schauten zu, wie eine Gruppe kleiner Jungen um die Hausecke herum auf die Rasenfläche tobte. So wie es aussah, spielten sie dick gegen die Kälte vermummt Cowboy und Indianer.

Taylor lächelte. Sie mochte Kinder – solange es nicht ihre waren.

Sie und Baldwin suchten sich einen Weg durch das Getümmel und betraten die vordere Veranda. Einer der Jungen, ein Blondschopf mit unglaublich blauen Augen, blieb stehen und starrte sie an. Als Taylor ihn angrinste, bohrte er kurz in der Nase und rannte dann um das Haus herum nach hinten.

„Wie charmant“, sagte Taylor.

„Kleine Jungen“, erwiderte Baldwin. In seiner Stimme lag ein seltsamer Unterton. Taylor schaute ihn an. Sein Gesicht war verschlossen, er wirkte gedankenverloren. Seit zwei Tagen schon benahm er sich so seltsam, und sie war ziemlich sicher, dass das nichts mit seiner Suspendierung zu tun hatte – obwohl es sie ungemein beruhigt hatte, davon zu erfahren. Denn im Auto hatte es einen kurzen Augenblick gegeben, in dem er ihr einen Seitenblick zugeworfen hatte und sie sich fragte, ob er vielleicht eine Affäre hatte. Was für ein dummer Gedanke. Baldwin war nicht der Typ, der hinter ihrem Rücken fremdging. Doch irgendetwas beschäftigte ihn. Sie ließ es für den Moment gut sein – sie hatten genug um die Ohren. Wenn er bereit wäre, würde er es ihr schon erzählen.

Sie überquerten die Veranda und klopften an die Tür. Taylor nahm den Geruch eines Holzfeuers wahr und spürte mit einem Mal, dass sie bis auf die Knochen durchgefroren war. Sie schob die Hände unter die Achseln. Sie hätte die Kellnerin im Smith’s bitten sollen, ihr einen Becher heißen Tee oder heiße Schokolade zum Mitnehmen zu geben.

Die Tür wurde von einer Frau geöffnet, breite graue Strähnen durchzogen ihre dunkelbraunen Haare. Ihr Alter war auf Anhieb nicht zu schätzen, sie konnte alles zwischen vierzig und sechzig sein. Ihre Augen waren entweder von Lachfältchen oder von Krähenfüßen umgeben, und tiefe, vertikale Falten entsprangen ihrer Oberlippe, wie perfekt gepflanzte Maisstängel – das verräterische Zeichen der lebenslangen Raucher. Taylor war froh über ihre letztjährige Entscheidung, das Rauchen aufzugeben. Die Vorstellung, eines Tages selber diese Falten zu haben, hatte sie dazu animiert.

„Mrs Anderson? Stephanie Anderson?“, fragte Taylor.

Die Frau lächelte. „Ja, die bin ich. Was kann ich für Sie tun?“

Offen, arglos. Vielleicht hatte das Leben in einer Kleinstadt doch etwas für sich. Taylor zog ihre Marke hervor, Baldwin tat es ihr mit seinem Ausweis gleich.

„Ich bin Lieutenant Taylor Jackson aus Nashville, Tennessee. Das hier ist Supervisory Special Agent John Baldwin vom FBI. Dürfen wir reinkommen? Wir müssen Ihnen ein paar Fragen stellen.“

Der offene Gesichtsausdruck der Frau verschwand, das Lächeln verblasste. Sie zögerte eine Sekunde, dann sagte sie: „Darf ich fragen, worum es geht?“

Baldwin ließ seinen Charme spielen und lächelte aufmunternd. „Wir benötigen ein paar Hintergrundinformationen über einen ehemaligen Schüler aus dieser Stadt. Wir werden Ihre Zeit nicht allzu lange in Anspruch nehmen, versprochen.“

Mrs Anderson verengte ihre Augen ein wenig, zog jedoch die Tür weiter auf. „Dann kommen Sie herein. Ich bin gerade dabei, das Abendessen für die Kinder zu kochen. Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, wenn ich das weitermache, während wir uns unterhalten.“

Sie folgten ihr in eine warme, einladende Küche: Eichenschränke mit Glastüren, Tapeten mit Rosenmuster und rüschenverzierte Spitzenvorhänge. Am anderen Ende brannte ein Feuer in einem offenen Kamin. Taylor stellte sich daneben und wärmte ihre Hände. „Das gefällt mir“, sagte sie.

Mrs Anderson verzog das Gesicht. „Ihre Nase und Ihre Wangen sind ganz rot. Ich habe nicht bemerkt, dass es draußen so kalt geworden ist; wir hatten heute einen recht schönen Nachmittag. Das Feuer macht es hier drinnen so warm, und Sie wissen ja, wie das mit Kindern ist. Sie lieben es, in der Kälte zu spielen, hereinzukommen, um sich aufzuwärmen, und dann wieder rauszulaufen. Ich sollte sie besser einsammeln, bevor sie sich noch den Tod holen.“

Taylor wusste genau, was sie meinte. In ihrer Kindheit hatte es in Nashville im Winter immer viel Schnee gegeben. Sie und Sam waren stundenlang Schlitten gefahren und dann in eines ihrer Elternhäuser zurückgekehrt, um heißen Kakao zu trinken. Einen Moment lang wurde sie von Sehnsucht nach dieser Zeit gepackt, dann riss sie sich zusammen.

„Wenn Sie nur eine Sekunde warten könnten, Mrs Anderson. Es wäre leichter, ohne die Kinder zu reden.“

„Oh. Natürlich. Sicher.“ Mrs Anderson ging zum Herd und nahm den Deckel von einem riesigen Topf. Dampf stieg auf. Mit einem Holzlöffel rührte sie um. Der Geruch von Chili verbreitete sich in der Küche. Trotz des eben genossenen Mittagessens knurrte Taylors Magen. Für ein gut gemachtes Chili war sie nie zu satt.

Mrs Anderson fing an, über die Jungen zu sprechen, ihre Enkel, wie süß sie doch waren. Baldwin betrachtete die Fotos an der Wand, auf die sie stolz zeigte, und murmelte ein paar zustimmende Worte. Es war Zeit, dem Geplänkel ein Ende zu machen und der Frau ihre gute Laune zu verderben.

Taylor setzte sich auf einen Hocker an dem breiten Tresen. „Mrs Anderson, wir wollen mit Ihnen über Roger Copeland sprechen.“

Die Frau erstarrte förmlich, obwohl ihre Hand immer noch den Löffel in dem Topf führte. Sie schniefte zweimal, dann nahm sie den Löffel sehr vorsichtig heraus und legte ihn auf einem weißen, wie ein Blumenkohl geformten Porzellantellerchen ab. Trotz ihrer Bemühungen, nichts schmutzig zu machen, fielen ein paar Spritzer auf die weiße Arbeitsfläche. Die rote Chilisoße sah aus wie Blut.

„Roger ist schon lange tot“, sagte sie leise.

„Das wissen wir. Es tut uns auch leid, dass wir diese schrecklichen Erinnerungen noch einmal hochholen müssen.“

Sie lächelte. „Oh, es sind ziemlich gute Erinnerungen. Ich habe den Mann geliebt wie keinen anderen. Und er hat diese Liebe erwidert. Schrecklich war nur, was diese Frau ihm angetan hat.“

„Betty Copeland“, sagte Taylor.

„Genau. Betty. Gemein wie eine Schlange und verrückt wie ein tollwütiger Fuchs. Er hat immer gesagt, dass sie sehr charmant sein konnte, dass sie ihn irgendwie in seinen Bann gezogen hatte. Dann war er erwacht und hat die Wahrheit erkannt, doch da war es bereits zu spät. Drei kleine Jungen, eine Irre als Frau und eine Karriere, um die er sich kümmern musste. Er war viel unterwegs, das half. Als wir uns kennenlernten, wollte er aus seiner Ehe raus. Er wusste nur nicht, wie er das mit ihr beenden sollte. Er hatte Angst vor der Frau.“ Ihr weicher Südstaatenakzent wurde breiter. „Er hatte wirklich Todesangst vor ihr. Sieht so aus, als hätte er die zu Recht gehabt, oder was meinen Sie?“

Taylor schaute zu Baldwin, der ihren Blick erwiderte und die Augenbrauen hob. Wir sind irgendetwas auf der Spur, schien sein Blick zu sagen. Sie stimmte ihm zu. Schweigend beobachteten sie Mrs Anderson, die einen Moment lang gedankenverloren an ihrer Unterlippe nagte. Dann erschien ein ganz leichtes Lächeln auf ihren Lippen.

„Wenigstens habe ich Ruth, die mich an ihn erinnert … Als ob ich ihn je vergessen könnte. Aber es stimmt, die Zeit heilt alle Wunden. Das Einzige, was ich wirklich bedauere, ist, dass er sie nie kennengelernt hat. Sie ist so ein zauberhaftes Mädchen. Unglaublich klug. Und sie sieht ihm sehr ähnlich. Roger war ein gut aussehender Mann.“

Baldwin setzte sich neben Taylor an den Tresen. „Mrs Anderson, haben Sie jemals wieder etwas von Ewan Copeland gehört?“

Mrs Anderson fasste sich unwillkürlich an den Hals. „Ewan? Oh nein. Der Junge. Der arme, arme Junge. Nicht ganz richtig im Kopf, genau wie seine Mama. Wissen Sie, dass er mit gerade einmal sechzehn Jahren ein Mädchen vergewaltigt hat? Wie kommt ein junger Mann nur auf so eine Idee? Woher weiß er überhaupt, dass so etwas geht? Ich schätze aus Filmen oder diesen Männermagazinen. Der Staat hat ihn schneller verhaftet, als man herrjemine sagen konnte. Danach hat niemand je wieder etwas von ihm gehört.“

„Das sind also Ruths Jungen, auf die Sie hier aufpassen?“, wollte Taylor wissen.

„Oh nein. Ruth wohnt nicht in Forest City. Sie ist auch nicht verheiratet, obwohl ich ihr damit ständig in den Ohren liege. Nein, sie hat studiert, um Wissenschaftlerin zu werden. Sie arbeitet für die Stadt Raleigh und wohnt auch dort.“

Baldwin verlagerte sein Gewicht. „Ach ja? Was tut sie dort?“

„Irgendwelches kriminaltechnisches Zeug. So wie in den Fernsehsendungen, CSI und so. Obwohl sie mir immer erzählt, dass das alles Quatsch ist und mit ihrer Arbeit nichts zu tun hat. ‚Es ist eine echte Plackerei, Mama‘, sagt sie immer. ‚Überhaupt nicht cool und glamourös, und außerdem tragen wir keine Waffen.“

„Sie ist forensische Wissenschaftlerin?“, hakte Taylor nach.

„Ja, so nennt sich das wohl. Ein kluges Mädchen, meine Ruth. Ich wette, sie würde sich liebend gerne mit Ihnen unterhalten, Agent Baldwin. Sie spricht andauernd über das FBI und davon, dass sie gerne auf die Academy gehen würde. Der Auswahlprozess ist wohl aber ziemlich streng.“

„Ja, das ist er. Haben Sie ein Foto von Ruth?“, fragte Baldwin. Taylor musste ihn nicht anschauen, sie wusste auch so, dass er vor Spannung förmlich zitterte. Langsam dämmerte ihr, warum. Oh Gott.

Die Stimmung von Mrs Anderson hatte sich wieder gebessert; die Erfolge ihres Kindes überstrahlten alle Trauer, die sie über den Verlust des Vaters ihrer Tochter empfunden hatte. „Aber sicher. Gleich hier im Wohnzimmer. Kommen Sie, ich zeige es Ihnen, es hängt zusammen mit den anderen Familienfotos an der Wand.“

Das formelle Wohnzimmer war in einem glänzenden Eierschalton gestrichen. Der dicke Orientteppich schluckte jedes Geräusch ihrer Schritte. Die Familienbilder nahmen eine ganze Wand ein, eine riesige Collage der verschiedenen Generationen. Taylors Herz klopfte lauter, als sie näher trat.

Mrs Anderson zeigte auf ein Foto direkt in der Mitte.

„Das hier ist das Beste von ihr. Es wurde gleich nach ihrem Collegeabschluss gemacht. Sehen Sie, sie trägt immer noch ihren Hut und die Robe. Sie sieht in Blau so zauberhaft aus.“

Taylor schlug sich die Hand vor den Mund, um nicht laut zu fluchen.

Wenn sie so lächelte, war die falsche Renee Sansom beinahe hübsch.