41. KAPITEL

Baldwin tigerte nervös in seinem Büro auf und ab und wartete darauf, dass Kevin ihn zurückrief. Er verfluchte sich dafür, zugestimmt zu haben, dass er und Taylor sich aufteilten. Jetzt, wo der Irre so nah war, wollte er sie am liebsten keine Sekunde aus den Augen lassen. Er schaute aus dem Fenster; die helle Morgensonne verschwand gerade hinter einer grauen, Unheil verkündenden Wolke. Als er eine Stunde zuvor über den Parkplatz gegangen war, hatte schon der Geruch nach Schnee in der Luft gelegen. Ein Wintersturm war genau das, was ihnen zu ihrem Glück noch fehlte.

Die Ahnung, die Taylor bezüglich der Kürzel auf der CD gehabt hatte, erwies sich als richtig. Eine schnelle Suche in den Datenbanken ergab, dass es sich bei den Zahlenkombinationen, die der Pretender ihnen geschickt hatte, tatsächlich um Autokennzeichen handelte. Alle drei Fahrzeuge waren auf Mietwagenfirmen zugelassen. Kevin durchsuchte gerade die Datenbanken mit den entsprechenden Firmen, um herauszufinden, wo sich die Wagen derzeit befanden.

Das tat er jetzt schon seit über zwanzig Minuten. Wieso dauerte das so lang?

Baldwin starrte sein Telefon an, als wolle er es durch reine Gedankenkraft dazu bringen, zu klingeln.

Nichts.

Er setzte sich an den Schreibtisch und klappte seinen Laptop auf. Surfte durch die Nachrichtenseiten. Sein Magen zog sich zusammen.

So ein Mist.

Die Geschichte war überall. Die Schlagzeilen lauteten:

Die Serienmörder gehen um
Das Land wird angegriffen
Wissen Sie, wo Ihre Kinder sind?
Rede nicht mit Fremden
Wiederauferstehung der Serienmörder erschüttert die Nation

Er klickte auf den letzten Link, um zu sehen, ob es etwas Neues zu erfahren gab. Manchmal tat die Presse ihm einen Gefallen, wenn sie sich einem Mordfall widmete. Er bezweifelte jedoch, dass das dieses Mal auch der Fall sein würde.

Die Geschichte war so sensationsheischend geschrieben, wie er befürchtet hatte – doch die Informationen waren erschreckend genau.

Der anonyme True-Crime-Blogger Felon E ist zum Opfer geworden. Fans, die auf der weitverbreiteten Seite regelmäßig Kommentare hinterlassen haben, werden von genau den Mördern angegriffen, von denen Felon E behauptet, sie zur Strecke bringen zu wollen. Die Polizei bewahrt Stillschweigen über den Fall, aber nicht genannte Quellen behaupten, dass sich jetzt das FBI eingeschaltet hat. Seit Montag sind mindestens dreizehn Menschen im ganzen Land getötet worden.

Die Ermittlungen werden von Lieutenant Taylor Jackson, Lieutenant der Mordkommission von Nashville, Tennessee, geleitet. Inzwischen ist herausgekommen, dass Felon E ebenfalls in Nashville beheimatet ist und der Besitzer der Website sich zurzeit in Polizeigewahrsam befindet. Bisher ist noch unklar, ob Felon E nur als Verdächtiger festgehalten wird oder ob man ihn für den Tod der Kommentatoren verantwortlich macht. Dies ist nur eines der Probleme des neuen Zeitalters der Onlinereportagen, und die eventuellen Folgen, die sich aus diesem Fall heraus ergeben, könnten darüber entscheiden, wie viele Websites in Zukunft noch auf Laienjournalisten setzen werden, um ihre Nachrichtenseiten zu füllen.

Laut dem Blog Felon E waren Kalifornien, New York und Boston die ersten Staaten, in denen die Nachahmungstäter des Zodiac-Killers, des Son of Sam und des Boston Strangler zugeschlagen haben. Der erste Mord geschah am Montag. Unabhängige Quellen haben bestätigt, dass der Zodiac-Killer ebenfalls in Las Vegas, Nevada, und Denver, Colorado, gemordet hat. Es wurden Briefe an den San Francisco Chronicle, die Las Vegas Sun und die The Denver Post, verschickt, in denen die Morde an insgesamt fünf Menschen gestanden wurden: Vivi Waters, 18, und Ike Sharp, 19, erschossen auf einem Parkplatz außerhalb von San Francisco; Colin und Sherry Barker, beide 35, erstochen in ihrer Wohnung in Las Vegas; und Halley Marshall, 29, die auf eine Annonce auf der beliebten Internetseite Craigslist geantwortet hat, wo ein Paar Rollerblades angeboten wurden. Sie wurde hinter dem Cherry-Creek-Reservat erschossen.

Wir konnten außerdem bestätigen, dass June Earhart, 34, in Boston auf eine sehr spezielle Art den Tod fand, die auf einen Nachahmungstäter des Boston Strangler hinweist. Eine Quelle, die nicht genannt werden möchte, erzählte unserem Reporter, dass ein Schal wie eine Schleife um ihren Hals gebunden war. Hierfür liegt jedoch noch keine offizielle Bestätigung vor. Vor weniger als vierundzwanzig Stunden gab es in Pittsburgh, Pennsylvania, noch einen weiteren Mord dieser Art. Eine Börsenmaklerin namens Frances Schwarz, 31. In Indianapolis, Indiana, wurde ebenfalls eine Frau erwürgt; es handelt sich um Mary Jane Solomon, 28.

Das FBI hat sich in den Fall eingeschaltet, und Menschen im ganzen Land decken sich mit neuen Schlössern, Waffen und anderen Gegenständen ein, um die Sicherheit ihrer Liebsten und ihrer Häuser zu gewährleisten.

Die Spur des Son-of-Sam-Nachahmers ist nicht so leicht nachzuverfolgen wie die seiner Kumpane. Nachdem er Barry Teteboro, 41, und Martin Bass, 50, im Washington Square Park in Manhattan ermordet hatte, fuhr er nach Washington, D. C., weiter, wo seine Opfer Joseph Conley, 43, und Nicholas Anche, 40, erschossen im Lyndon-B.-Johnson-Memorial-Wäldchen gefunden wurden. Seit über einem Tag hat es keine weiteren Morde gegeben, die dem Son-of-Sam-Nachahmer zugeschrieben werden können.

Diesen Mördern muss Einhalt geboten werden, doch es gibt reichlich Spekulationen über die individuellen Motive und den grundlegenden Plan, der hinter all dem steckt.

Der Artikel ging noch weiter, aber mehr ertrug Baldwin nicht.

Er schloss den Browser und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Gotcha-Journalismus nannte man diese Mischung aus Halbwahrheiten und Lügen. Der Verfasser musste eine Quelle innerhalb des Ermittlerteams haben. Zum Glück hatte er nichts über die Verbindung zum Pretender geschrieben. Es war ihnen gelungen, diesen Aspekt des Falles relativ gut unter Verschluss zu halten. Fox hatte bereits seine Fühler nach der Geschichte ausgestreckt. Da Taylor als leitende Ermittlerin genannt worden war, war es nur noch eine Frage der Zeit, bis auch der Rest der Presse sich darauf stürzen würde. Ihnen lief die Zeit davon.

Er konnte nicht länger hier herumsitzen und warten. Er musste etwas unternehmen. Er war es nicht gewohnt, bei einem Fall nur von der Seitenlinie aus zusehen zu können. Seine Suspendierung machte die Sache ungemein schwierig. Schwierig, aber nicht unmöglich.

Er klappte sein Handy auf und rief Salt an, der beim ersten Klingeln ranging.

„Gutes Timing, ich wollte dich gerade anrufen.“

„Sag mir, dass du gute Neuigkeiten hast.“

„Habe ich. Die Autos sind alle gleichzeitig online gemietet worden. Sie laufen alle über die gleiche Kreditkarte, die sich nach Nashville zurückverfolgen lässt, allerdings nur zu einem Postfach, nicht zu einer echten Adresse.“

„Vermutlich also eine gefälschte Karte. Welcher Name wurde benutzt?“

„Troy Land. Der ist nicht echt. Ich kann nichts finden, was dazu passt. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass er seinen echten Namen benutzt. Aber nur für den Fall habe ich ein paar Datenbankabfragen gestartet. Wenn er dir die Kennzeichen schickt, ist er wohl kaum darauf aus, sich zu verstecken.“

Genau. Deshalb nehme ich an, dass er unter einer falschen Identität agiert. Wie lauten die Namen der Fahrer?“

„Ich bin fast so weit. Die Firmen sagen, sie geben mir mit Freuden alles, was sie haben, sobald ich ihnen einen richterlichen Beschluss vorlege. Wir haben die entsprechenden Papiere beantragt, aber du weißt, wie lange das dauert. In der Zwischenzeit habe ich einen kleinen Blick in die aktuelle Datenbank geworfen, um zu sehen, wer für die einzelnen Autos unterschrieben hat. Diese Firma hat schon elektronische Unterschriften eingeführt. Angenommen, sie haben ihre richtigen Namen benutzt, haben wir so wenigstens etwas, womit wir arbeiten können.“

„Ausgezeichnet. Was noch?“

„Es liegen die Bestätigungen vor, dass die Morde in Philadelphia und Indianapolis dem Nachahmungstäter des Boston Strangler zuzuordnen sind. Er klaut UPS-Trucks und zieht die Uniform der Fahrer an, um sich als Lieferant auszugeben. Wer würde dem freundlichen Paketboten auch nicht die Tür aufmachen? Bislang sind drei tote UPS-Fahrer gefunden worden. Außerdem kochen die Fälle in der Presse gerade richtig hoch, falls du im Moment weder Computer noch Fernseher anhast.“

„Ja, das habe ich schon mitbekommen. Ist ja auch kein Wunder, wenn man bedenkt, dass die Opfer über eine beliebte Website gefunden wurden. Sobald das über Twitter läuft, sind wir verloren.“

„Hah, das steht schon unter den Top-5-Themen des Tages. Der Hashtag lautet #copycats. Ehrlich gesagt, glaube ich, dass uns das sogar helfen kann. Durch die ganze Aufmerksamkeit schauen die Leute genauer hin. Alle Polizeireviere sind in Alarmbereitschaft. Die ganze Onlinewelt passt auf. Seine Zeit im Rampenlicht neigt sich dem Ende.“

„Sehr gut. Ausgezeichnete Arbeit. Mach weiter so. Kannst du mich eben mit Charlaine verbinden? Ich habe eine Frage an sie.“

„Klar, kein Problem. Und sobald ich einen Namen habe, sage ich Bescheid.“

„Danke, Kevin.“

„Bis dann.“

Es ertönte ein lautes Piepen, dann wurde es still in der Leitung. Zwei Sekunden später hörte Baldwin den sanften Südstaatenakzent von Charlaine Shultz.

„Hey Chef, wie geht’s? Sag mir bitte, dass alle ihre Köpfe aus ihren Hintern gezogen und dich wieder eingestellt haben. Ohne dich bringt es hier echt keinen Spaß.“

„Ach Charlaine, du Liebe. Dank dir. Bis jetzt hab ich noch nichts gehört, aber ich weiß, dass Garrett alles tut, was er kann.“

„Geht es Taylor gut?“

„Wir haben es vielleicht mit einer neuen Wendung zu tun, die sie gerade verfolgt. Aber bevor ich dazu weiter aushole, möchte ich dich etwas fragen. Bisher scheint niemand zu wissen, wie Ewan Copeland aussieht. Es gab Fotos von ihm in seiner Akte, doch die stammen alle aus seiner Kindheit. Es ist nicht ein einziges Erwachsenenfoto dabei. Was glaubst du, hat das zu bedeuten?“

Charlaine zögerte nicht. „Es ist lustig, dass du das fragst. Ich arbeite gerade an einer Theorie. Er ist zumindest in den letzten zehn Jahren von einer Stadt in die nächste gezogen, oder? Und er hat nie gearbeitet – oder zumindest wissen wir darüber nichts. Seine Schwester verdient zwar Geld, aber reicht das, um sich und ihren durchs Land ziehenden Bruder zu unterstützen? Dazu ist das Gehalt einer forensischen Analystin vielleicht doch ein wenig zu niedrig. Es gab eine kleine Lebensversicherung, die nach dem Tode Roger Copelands ausgezahlt wurde, aber die Betonung liegt auf klein, heißt, das Geld ist vermutlich auch schon lange weg. Roger ist immerhin schon vor fünfzehn Jahren gestorben. Die Mutter hat auf Staatskosten gelebt und ist vor ungefähr sechs Monaten gestorben. Todesursache war Brustkrebs, also nichts Verdächtiges; die Ärzte haben es als natürlichen Todesfall eingestuft. Das letzte Mal hat sie vor drei Jahren Besuch bekommen.“ Er hörte, dass sie in Papieren blätterte. „Sein Name war Thomas Keck.“

„Heilige Scheiße. Das ist der Name des Ehemannes von unserer prominenten Bloggerin. Auf gar keinen Fall hat der vor drei Jahren Ewan Copelands Mutter besucht, denn er ist schon seit über vier Jahren tot.“

„Noch eine falsche Identität. Wenig überraschend. Dieser Copeland ist aber auch eine harte Nuss.“

„Wem sagst du das.“

„Das ist noch nicht alles. Ungefähr vor einer Stunde habe ich angefangen, mir die Akten zu den vorherigen Fällen von Copeland anzusehen. Alle Opfer waren Single und sehr allein. Die Männer, die Frauen. Er hat sich nie jemanden mit Familie oder Freunden ausgesucht. Ein paar seiner Opfer stammten aus sehr vornehmen Vierteln, also ich rede hier von wirklich reichen Leuten. Ich überlegte also, ob er die wohl bestohlen hat, und nun rate, was ich gefunden habe.“

„Überrasche mich.“

„Es gibt einen Namen, der mit den Treuhandausschüttungen von fünf seiner Opfer in Verbindung steht. Ein Anwalt namens Roger Anderson. Er ist der Begünstigte.“

„Roger für seinen Dad, Anderson für seine Schwester. Ewan hat sich irgendwie in ihre Testamente eingeschlichen. Sehr beeindruckend.“

„Es wird noch besser. Das Geld, das auf Andersons Konto überwiesen wurde, reichte definitiv aus, um jahrelang davon zu leben. Garrett hat ein paar Strippen gezogen und einen Kollegen aus der Abteilung für Wirtschaftskriminalität dazu überreden können, ihm die Kontoinformationen zu beschaffen. Copeland hat ein paar sehr kluge Investitionen getätigt und lebt allein von den Zinsen. Ab und zu hebt er hier und da mal eine kleine Summe ab, stellt einen Scheck aus oder bezahlt mit Kreditkarte. Die Schecks sind wiederum sehr interessant, weil sie die ganzen Jahre über immer auf die gleiche Person ausgestellt wurden.“

„Und auf wen?“

„Auf einen Arzt in McLean, Virginia. Ein plastischer Chirurg. Spezialisiert auf Wiederherstellung von Gesichtern nach Unfällen, auf die Behandlung von Brandnarben und so weiter. Er gehört zu den Besten des Landes, opfert seine Zeit, um Menschen mit Kiefernspalten in Südamerika zu behandeln, und führt auch hier in den Staaten viele kostenlose Operationen durch.“

„Charlaine, Ewan Copeland hatte von seinen vielen Krankenhausaufenthalten als Junge Unmengen an Narben auf dem Bauch. Wir wissen, dass er irgendetwas verheimlichte. Ich habe immer gedacht, es handele sich um eine körperliche Deformation, die leicht zu sehen wäre. Was aber, wenn er diesen Arzt aufgesucht hat, um sich seine Narben entfernen zu lassen, und dabei süchtig nach Schönheitsoperationen geworden ist?“

„Genau mein Gedanke. Du weißt, wie Schmerzen auf Opfer des Münchhausen-Stellvertreter-Syndroms wirken. Schmerzen bedeuten Liebe und Akzeptanz, sogar wenn sie selbst zugefügt werden. Sie sind süchtig machend. Eine körperdysmorphe Störung könnte erklären, wieso niemand weiß, wie er aussieht. Er ist süchtig danach, sein Aussehen zu verändern. Seine Haut, sein Gesicht, seine Knochenstruktur. Er wäre nie zufrieden mit sich und sähe sich gezwungen, sich ständig zu verändern. Mit einem unerschöpflichen Budget und einem unersättlichen Drang nach Veränderungen und vielen, vielen Morden, um seine Spuren zu verwischen, summiert sich das zu einem ziemlich kranken Hirn. Mit vermutlich unglaublich perfekter Haut. Der Mistkerl.“

Baldwin ließ die Vorstellung einen Moment sacken. „Deshalb ist es ihm auch egal, ob er DNA-Spuren hinterlässt oder nicht. Zwischen wichtigen Morden hat er immer sein Aussehen verändert. Die Chancen, dass man ihn durch Fotos oder Zeugenaussagen findet, gehen gegen null.“

„Genau.“

„Ich nehme an, du wirst mit dem guten Doktor in Kontakt treten?“

„Ich habe schon einen Termin. Als wir den Namen Roger Anderson erwähnten, hat er sofort alle anderen Termine abgesagt. Ich schätze, er ahnt, dass es da ein Problem gibt.“

„Er könnte genauso nur ein Opfer sein, wie Copelands andere Tote. Sei vorsichtig. Ich nehme an, dass Copeland ein Warnsystem hat, das ihn informiert, wenn jemand seinen Arzt anruft.“

Baldwin hörte, wie Charlaine ihren Laptop zuklappte, und stellte sich vor, wie sie energisch aufstand. Eine Kreuzritterin auf einer heißen Spur.

„Vermutlich. Aber ich hoffe, dass er zu sehr in sein Spiel vertieft ist, um zu merken, dass wir durch die Hintertür hineingeschlüpft sind.“