9. KAPITEL
Das entsprach jedoch nicht der Wahrheit. Baldwin mochte es gar nicht, im Regen stehen gelassen zu werden, doch genauso fühlte er sich im Moment.
Taylor starrte aus dem Fenster, ihr Schweigen war beinahe ohrenbetäubend laut. Er warf ihr einen besorgten Blick zu. Sie war viel zu angespannt. Eine ihrer Fähigkeiten war das aktive Ausblenden der Geschehnisse um sie herum, und genau das tat sie gerade. Doch die Ereignisse der vergangenen Woche würden sie schon bald einholen.
Ihm fiel es auch schwer, mit dem Wahnsinn umzugehen, der sie überrollte. Seit über einem Jahr lag der Pretender ihnen schwer auf der Seele. Nachdem der Fall des Schneewittchenmörders mit lautem Knall geplatzt war, hatte er das erste Mal mit ihnen Kontakt aufgenommen; er hatte ihnen einen Brief nach Hause geschickt. Baldwin musste nur die Augen schließen, um die Worte wieder vor sich zu sehen. Ein zweizeiliges, tödliches Menetekel.
Nicht länger der Lehrling.
Ihr dürft mich jetzt den Pretender nennen.
Er hatte sich selber einen Namen gegeben; das fundamentale Werkzeug des Soziopathen. Er sah sich selbst als legitimen Anwärter auf den Thron der Serienmörder, daher der Name. Diejenigen, die sich selber benannten, waren so narzisstisch, dass sie beinahe immer gefasst wurden. Beinahe immer.
Der Pretender war eine ganze Weile verschwunden und dann wie aus dem Nichts wiederaufgetaucht. Danach war es mit den Einschüchterungsversuchen erst richtig losgegangen: Anrufe auf ihrer Festnetzleitung und auf ihren Handys; weitere Briefe. Er fing an, sich in Taylors Fälle einzumischen, immer nur am Rand, aber stets so, dass man ihn bemerkte. Seit über einem Jahr war er nun das Böse in ihrem Leben, bedrohte sie, stolzierte vor ihnen her, gab an mit seinem scheinbar uneingeschränkten Zugriff auf sie und mit seinem Wissen.
In dem Profil des Pretenders hatte noch mehr gestanden, als Baldwin der falschen Renee Sansom gegenüber preisgegeben hatte. Es war ihnen bisher noch nicht gelungen, in das weitverzweigte Netzwerk des Pretenders einzudringen, das ihn mit anderen Mördern, Sadisten und Menschen, die nur dafür lebten, Grausamkeiten und Zwietracht zu säen, verband. Unter dem Alias „Necro90“ hatte er sich als Nekrophiler ausgegeben und sich mit dem Nekrosadistenduo, bestehend aus Il Macellaio und dem Dirigenten, online in Verbindung gesetzt. Er hatte sie aufgestachelt, hatte Beweise an einem der Tatorte des Dirigenten platziert und dann dafür gesorgt, dass Taylor erfuhr, wie er ihr geholfen hatte.
Er schien es zu genießen, andere kontrollieren zu können, indem er sie manipulierte. Beinahe so sehr, wie er es genoss, zu töten.
Sie hatten sich nach der Niederlage nicht zurückgezogen, sondern auf die einzige Art und Weise zurückgeschlagen, die sie kannten: mit der vollen Wucht des Gesetzes, mit ihrem eigenen Team, ihren eigenen Werkzeugen. Den Mann zu finden, der seine Frau bedrohte, war für Baldwin das Wichtigste. Auch wenn das bedeutete, dass er Taylor nicht alles über ihn verriet, was er wusste.
Kevin Salt, Baldwins Computerexperte, hatte die Onlinesignatur des Pretenders gefunden und so seine Bewegungen im Netz nachvollziehen können. Kevin konnte ihm beinahe überallhin folgen; die IP-Adressen, die der Pretender benutzte, waren über die letzten Monate hinweg ungewöhnlich konsistent geblieben. Salt dokumentierte alles ganz genau, zeichnete ein geografisches Profil und fand den Schlüssel, der Baldwin am meisten Sorgen bereitete. Die echten Adressen führten wieder und wieder nach Nashville zurück. Der Hurensohn war ganz in der Nähe.
Der Einfluss des Pretenders wuchs erneut – der Angriff auf die SBI-Agents hatte einer gewissen Raffinesse und Zeit bedurft. Offensichtlich hatte er Leute rekrutiert, ihm zu helfen. Ob diese seine echten Pläne kannten oder nicht, sie waren auf jeden Fall weitere Unbekannte in der Gleichung.
Der Pretender war ganz eindeutig bereit. Was auch immer er sich für eine kranke Strategie überlegt hatte, er war dabei, sie in die Tat umzusetzen.
Wie viele Leute mussten noch sterben, bis der Pretender endlich zufriedengestellt war?
Taylor hatte heute einen weiteren Großangriff miterlebt. Baldwin wusste, dass sie sich daran die Schuld geben würde. Der Pretender zog für sie eine blutige Show ab und drapierte die Verwundeten gut sichtbar in ihrer Nähe, damit sie sie auch ja bemerkte. Dazu kamen ihre offensichtlichen, wenn auch fehlgeleiteten Schuldgefühle darüber, den Täter ihres letzten Falls erschossen zu haben. Er fragte sich, wie lange ihr emotionaler Damm noch halten würde, bevor sie unter diesen Belastungen endgültig zusammenbrach.
Tief im Inneren fühlte er, dass sich alles beschleunigte, dass die Erde sich ein Zehntel zu schnell um ihre eigene Achse drehte. Wenn er sich nicht gut festhielt, würde er herunterschleudert werden, und das durfte er auf keinen Fall zulassen. Nein, er musste diesen Fall lösen und gleichzeitig dafür sorgen, dass seine Frau ihre Fassung zurückgewann. Er wusste einfach nicht, ob er es ertragen könnte, zuzusehen, wie Taylor zusammenbrach. Wenn sie litt, pochte es auch dumpf in seinem Magen, und jedes Mal, wenn der Pretender nach ihr griff, wurde ihm vor Wut schwarz vor Augen.
Das Telefon an seinem Sitz summte diskret. Es gab nur einen Menschen, der wusste, dass sie in diesem Augenblick im Flugzeug saßen – sein Chef Garrett Woods. Taylor schaute Baldwin an; er schenkte ihr ein, wie er hoffte, zuversichtliches Lächeln und nahm den Anruf an.
„Hey Garrett.“
„Seid ihr auf dem Weg nach Nashville?“
„Ja. Danke, dass du den Helikopter umgeleitet hast. Ich fühle mich wohler, wenn ich Fitz in der Nähe weiß.“
„Kein Problem. Was ist da los gewesen? Wie konnte das so schiefgehen?“
Baldwin erzählte ihm alles, was er wusste, und fragte dann: „Gibt’s was Neues aus Nags Head?“
„Abgesehen davon, dass der Direktor wissen will, warum zum Teufel ein suspendierter FBI-Agent nach einer Massenschießerei ziemlich teure Unterstützung angefordert hat?“
Baldwin stöhnte auf. „Er weiß davon?“
„Baldwin, Junge, das ganze Land weiß es. Alle Nachrichtensender berichten darüber. Es gibt einen Film von dir und Taylor, wie ihr gemeinsam das Revier verlasst.“
„Oh.“
„Ja, oh. Hast du es ihr schon erzählt?“
„Äh, nein.“
„Baldwin, ich glaube nicht, dass ich derjenige bin, der dich darauf aufmerksam machen sollte, aber ich tue es trotzdem. Nur für den Fall, dass du im Moment nicht klar denken kannst. Du musst es ihr sagen. Alles. Sofort.“
Das wusste er. Was er hingegen nicht wusste, war, wo er anfangen sollte.
Was würde sie am wenigsten gerne hören? Dass er suspendiert war, solange sein größtes Versagen, der Harold-Arlen-Fall aus dem Jahr 2004, einer eingehenderen Untersuchung unterzogen wurde? Der Fall, bei dem er den Fehler begangen hatte, seinen Schützling Charlotte Douglas nicht zu melden, nachdem er herausgefunden hatte, dass sie Beweise am Tatort hinterlegt hatte? Oder würde sie als Erstes gerne hören, dass damals drei gute Agents gestorben waren, weil er so dumm gewesen war, etwas mit Charlotte anzufangen? Dass er Charlotte inmitten des größten Falles seiner Karriere geschwängert hatte? Dass er erst vor einem Jahr herausgefunden hatte, dass sie das Kind nicht wie behauptet abgetrieben, sondern nach der Geburt zur Adoption freigegeben hatte? Dass er keine Ahnung hatte, wo der Junge war oder welchen Namen er trug?
Wie sollte er seiner Verlobten, der Frau, die sein Herz in ihren Händen hielt, gestehen, dass er eine solch wesentliche, intime Verbindung mit einer anderen Frau gehabt hatte? Er hatte Taylor nicht betrogen, aber würde sie ihm trotzdem jemals vergeben?
Er schaute aus dem Fenster auf die kahle Winterlandschaft hinaus, die trostlos und verlassen unter ihnen lag.
„Ja, Garrett, ich bin ganz deiner Meinung.“
„Ehrlich, Baldwin. Du hast so eine tolle Frau. Vermassel das nicht. Hör mir zu. Ich habe dich heute gedeckt, aber das wird nicht lange gut gehen. Sobald du in Nashville bist, solltest du die Füße stillhalten.“
„Das werde ich, versprochen. Gibt es noch irgendwelche anderen … Neuigkeiten?“
Garrett half ihm, seinen Sohn zu finden. Ein Jahr dauerte die fruchtlose Suche jetzt schon an, doch Baldwin stand immer noch unter Schock. Garrett hatte die Dokumente nach Charlottes Tod in ihrem Schreibtisch gefunden: die Geburtsurkunde, in der Baldwins Name mit Kugelschreiber durchgestrichen worden war, und eine im Fotostudio gemachte Aufnahme von einem Zweijährigen. Inzwischen war der Kleine fünf.
Baldwin wusste nur, dass es sich um einen Jungen handelte. Es gab keinen Zweifel daran, dass er sein Kind war; sie hatten die gleiche Haltung, die gleichen dicken Haare, nur dass seine rot waren, wie die von seiner Mutter. Dafür hatte er die grünen Augen seines Vaters geerbt.
Er hatte keine Ahnung, wie sein Sohn hieß. Auf der Geburtsurkunde stand nur „Baby Douglas“. Sie hatte sich nicht mal die Mühe gemacht, ihrem Kind einen Namen zu geben. Baldwin liebte den Jungen, obwohl er ihn noch nie gesehen hatte. Er würde beinahe alles tun, um ihn zurückzubekommen.
Ein stechender Schmerz breitete sich in Baldwins Brust aus. Konnte der Junge bei seiner Geschichte zu einem gesunden, liebevollen Kind heranwachsen? Würden Baldwins oder Charlottes Gene bei ihm dominieren? Charlottes gesamte Familie war wie ein Horrorfilm; ihr mörderischer Vater, ihr deformierter Bruder; Charlottes eigene soziopathische Züge und Psychosen. Hatte das Kind überhaupt eine Chance auf ein normales Leben?
Garrett seufzte in den Hörer. „Nein, noch nicht. Du weißt, dass ich dich sofort anrufe, sobald ich etwas herausfinde. Habe ich dein Wort, dass du dich wie ein braver Junge verhalten wirst?“
„Natürlich. Danke für das Update.“ Er legte den Hörer auf die Gabel zurück.
Taylor schaute ihn fragend an. Baldwin schüttelte den Kopf.
„Nichts Neues, außer dass die Nachrichten schon darüber berichten.“
„Na super“, sagte sie. „Sonst alles in Ordnung?“
Er hatte sie belogen und log immer weiter. Es konnte nicht anders.
„Ja, sonst alles gut.“
Die Motoren wurden leicht gedrosselt. Sie waren beinahe zu Hause. Er nahm Taylors Hand und fühlte, wie ihre starken Finger sich um seine schlossen.
Gleichgewicht. Er musste ein Gleichgewicht finden.
Es gab nur eine Möglichkeit, wie sie jemals frei sein würden, doch die verstieß gegen alles, was er bei seinem Antritt beim FBI geschworen hatte, und gegen alles, was er mit jeder Faser seines Herzens glaubte.
Er musste den Pretender finden und sein Herz zum Stillstand bringen, damit Taylor nicht versuchte, ihm zuvorzukommen.