32. KAPITEL

Colleen fand den Parkplatz nicht, den Lieutenant Jackson ihr vorgeschlagen hatte, also fuhr sie in das unterirdische Parkhaus am James Robertson Parkway, gegenüber vom CJC. Sie fuhr die Rampe hinunter und war erstaunt, wie hell erleuchtet das Parkhaus war. Nicht schlecht für mitten in der Nacht.

Um ganz sicherzugehen, stellte sie das Auto unter einer hellen Lampe ab, schlang sich ihre Laptoptasche über die Schulter, nahm den schlafenden Flynn aus dem Kindersitz und eilte zum Fahrstuhl. Es war niemand in der Nähe, was sie ein wenig erleichterte, aber sie hatte nicht vor, irgendwelche Risiken einzugehen. Eine von Toms alten Waffen steckte in ihrer Jackentasche. Auf keinen Fall würde sie zulassen, dass jemand ihr oder Flynn etwas antat.

Die Straße lag verlassen da. Zu ihrer Rechten schimmerte das schlammig dunkle Wasser des Cumberland River im Licht der Straßenlaternen auf der Brücke. Irgendwie wurde sie das Gefühl nicht los, beobachtet zu werden. Ein kalter Finger der Angst schlüpfte unter ihren Schal, und sie zog Flynn enger an ihre Brust, auch wenn sie damit riskierte, ihn zu wecken. Sie lief über die Straße und die Treppe zum CJC hoch. Sie hätte schwören können, einen Mann gesehen zu haben, der ihr folgte. Ein verschwommener dunkler Schatten im Augenwinkel. Doch dann war sie schon an der Tür. Sie drückte auf die Klingel und gestikulierte wild in Richtung des Wachmanns, der hinter einer Wand aus Panzerglas saß. Er drückte auf den Summer. Colleen ging hinein und hörte erleichtert, wie die Tür hinter ihr mit einem satten Klicken ins Schloss fiel.

„Ich glaube, ich werde verfolgt“, flüsterte sie dem Mann zu. „Können Sie die Augen nach jemandem aufhalten, der hier nicht hergehört?“

„Ich tue, was ich kann, Ma’am, aber mitten in der Nacht laufen hier viele komische Typen herum. Sind Sie Mrs Keck?“

Dass sie mit Misses angesprochen wurde, ließ sie nur ein bisschen zusammenzucken. Zu jung, um eine Witwe zu sein, zu alt, um noch als Miss durchzugehen. Und Ms klang immer wie Mücke, die aus dem Mund des Sprechers summte. Die Kinder in Flynns Schule nannten sie einfach Miss Colleen; in den Südstaaten war das die normale Anrede für die Mütter von Schulfreunden – höflich, aber nicht zu formell. Was die Väter anging … sie konnte sich nicht erinnern, dass mal einer Mr Tommy gesagt hatte.

Der Wachmann schaute sie etwas verdutzt an. Oh bitte, sag mir, dass ich das nicht laut ausgesprochen habe. Sie versuchte es noch einmal.

„Die bin ich. Ich bin mit Lieutenant Jackson verabredet.“

„Ja, Sie stehen hier auf der Liste. Das mit Ihrem Ehemann tut mir leid, Ma’am. Man erwartet Sie bereits oben. Klopfen Sie einfach an die Tür da drüben, dann wird Sie jemand reinlassen.“

„Danke.“ Sie unterdrückte den Drang, ihm ein Trinkgeld zu geben, und hätte beinahe laut aufgelacht. Nach all den Jahren als Journalistin war sie es so gewohnt, einen Zwanziger rauszurücken, sobald sie eine Information brauchte, dass es schon zum Reflex geworden war.

Wie durch ein Wunder war Flynn während ihrer panischen Flucht aus dem Parkhaus nicht aufgewacht. Sie dankte den Genen seines Vaters. Während Colleen vom kleinsten Ticken oder Knacken im Haus aufwachte, hätte Tommy nicht einmal eine direkt neben seinem Bett losgehende Sirene wecken können. Er überhörte regelmäßig seinen Wecker. Flynn war genauso – er schlief schnell ein und war nur schwer wachzukriegen.

Nach dem dritten Klopfen öffnete ihr ein attraktiver Schwarzer die Tür. Er war gut einen Meter achtzig groß und tadellos gekleidet. Beinahe hätte sie laut aufgelacht – wer sah um drei Uhr morgens schon so gut, so gestylt aus? Er schenkte ihr ein Lächeln und zeigte dabei eine kleine Lücke zwischen seinen Schneidezähnen. Er erinnerte sie an einen Rockstar, dessen Name ihr gerade nicht einfallen wollte. Sie besaß sogar einige seiner CDs. Verdammt, wie hieß er noch mal? Lenny irgendwas. Lenny … Kravitz. Das war’s.

Er merkte, dass sie versuchte, herauszufinden, an wen er sie erinnerte, und lächelte noch breiter. Die meisten Leute schauten zweimal hin, wenn sie ihn sahen. Zumindest die in Nashville – die Welthauptstadt der Country-Musik zog viele berühmte Musiker, Songwriter und Sänger an, ganz zu schweigen von den Schauspielerinnen und Schauspielern, die die Illusion der Privatsphäre, die Nashville bot, genossen. Die Leute schauten zweimal hin, wenn Nicole Kidman mit Keith Urban und Sunday Rose einen Starbucks betrat, aber außer freundlich zu lächeln und einen guten Morgen zu wünschen, taten sie nichts. Es wäre einfach nicht höflich, um ein Autogramm zu bitten, wenn sie doch einfach nur einen Kaffee wollte.

Er bat Colleen hinein. „Sie müssen Colleen Keck sein. Ich bin Detective Ross. Tut mir leid, was im Moment los ist.“

„Mir auch. Haben Sie schon etwas Neues gehört?“

Ross schloss die Tür hinter ihnen und bedeutete Colleen, ihm zu folgen. „Nein, noch nicht. Wir sind auch alle gerade erst hergekommen. Der LT telefoniert gerade mit einem ihrer Kontakte. Ich denke, sie erwartet, dass Sie uns zu den Vorgängen etwas erzählen. Können Sie das?“

„Sicher. Haben Sie irgendein Zimmer, in dem ich Flynn hinlegen kann? Ich bin mir nicht sicher, ob er das alles hören sollte.“

„Ja, das kriegen wir schon hin. Ich bitte einen der diensthabenden Detectives, ein Auge auf ihn zu haben und mich anzupiepen, wenn er aufwacht. Heute ist es ziemlich ruhig. Meinen Sie, das würde gehen?“

„Sie sind wohl selber auch Vater, Detective.“

Er lächelte. „Nein. Meine Mom war Journalistin, und mein Dad hat in der Nachtschicht gearbeitet. Ich war es als Kind gewohnt, an den seltsamsten Ecken der Stadt aufzuwachen. Ich fühlte mich aber immer wohler, wenn jemand in der Nähe war, der mir versicherte, dass meine Mom gleich wiederkommen würde.“

Sie hatten die Tür zum Konferenzraum erreicht. Ross nahm Colleen ihren Sohn ab und ging den Flur hinunter.

Taylor Jackson saß auf der anderen Seite des Raumes auf einer Art Arbeitsfläche, baumelte mit einem ihrer langen Beine und sprach rasend schnell in ihr Handy. Das andere Bein hatte sie unter sich gezogen und sah somit aus wie ein sehr blonder Kranich. Zwei Männer saßen am Tisch und blätterten in Akten. Einer war süß, langgliedrig, mit glatten braunen Haaren. Der andere wirkte zurückhaltender; seine blonden Haare wurden an den Schläfen langsam grau. In Gedanken taufte sie die beiden Frick und Frack. Dann fragte sie sich, wo der heiße Typ mit ihrem Kind hin verschwunden war. Und warum sie diesen Gedanken hatte.

Colleen atmete ein paar Mal tief durch. Alles würde wieder gut werden.

Jackson beendete ihr Telefonat. Sie klappte das Handy zu, steckte es in ihre Tasche und kam quer durch den Raum auf Colleen zu. Obwohl sie nicht lächelte, wirkte sie freundlich.

„Was für eine Sache.“ Sie streckte ihre Hand aus, und Colleen war dankbar für die Wärme, die von ihr ausstrahlte.

„Schön, Sie wiederzusehen, Lieutenant.“

„Legen Sie Ihren Mantel ab, nehmen Sie Platz. Detective Ross hat Sie in Empfang genommen?“

„Ja, danke. Er sucht gerade einen Schlafplatz für Flynn. Ich bin sicher, dass er jeden Augenblick zurück sein wird.“

Jackson legte den Kopf schief und schaute sie an, sagte aber nichts. Verdammt. Sie hatte vermutlich etwas besitzergreifend geklungen. Seltsam, aber Detective Ross löste genau dieses Gefühl in ihr aus. Sie kannte ihn doch erst seit fünf Minuten, um Himmels willen. Hormone. Das musste an ihren Hormonen liegen. Vermutlich war es diese Zeit des Monats; sie wurde immer etwas spitz, wenn die Natur kurz davor stand, ihr einen Besuch abzustatten.

Gott, Colleen, konzentrier dich. Das war nicht leicht. Kein Schlaf plus haufenweise Stress und eine gesunde Dosis Angst forderten ihren Tribut. Sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, indem sie ihren professionellsten Ton anschlug.

„Also Lieutenant, was haben Sie?“

Jackson drehte sich um und trat an den Tisch, wo sie sich Colleen gegenüber hinsetzte. „Ärger. Und zwar eine ganze Menge. Sie müssen mir alles erzählen, was Sie über die Morde wissen.“

„Wo soll ich anfangen?“

„Wie wäre es, wenn Sie uns berichten, woher Sie die Informationen über die Morde in San Francisco erhalten haben?“

Colleen schüttelte den Kopf. „Das kann ich nicht. Ich muss meine Quellen schützen. Wenn ich es nicht tue, werden sie nie wieder mit mir reden. Es tut mir leid, aber diese Information kann ich Ihnen nicht geben.“

Jackson schaute sie einen Moment schweigend an, dann seufzte sie. „Okay, darauf kommen wir noch zurück. Warum fangen Sie nicht einfach vorne an und erzählen uns alles, was Sie uns erzählen können?“

Colleen merkte, dass die andere Frau sich bemühte, freundlich zu sein, aber in ihrer Stimme lag dennoch ein Hauch von Ärger. Das konnte sie ihr nicht vorwerfen – natürlich würde Jackson die Namen ihrer Quellen wissen wollen. Aber solange es nicht unbedingt nötig war, hatte Colleen nicht vor, sie zu verraten.

„Ich wusste, dass etwas im Gange ist, als ich ein paar E-Mails aus San Francisco erhielt, in denen von einem Mord berichtet wurde, der denen des Zodiac-Killers glich. Sie müssen wissen, so etwas passiert oft. Leute lieben es, ihn zu imitieren, und es gibt andauernd falschen Alarm. Aber irgendetwas fühlte sich dieses Mal anders an. Direkt danach erhielt ich E-Mails aus New York und Boston. Anfangs dachte ich, es wäre ein Scherz, aber irgendetwas fühlte sich falsch dabei an. Also begann ich, zu recherchieren. Die Berichte, die ich erhielt, waren stimmig. Ich habe alles doppelt überprüft. Vor zwei Tagen haben in drei verschiedenen Städten zur gleichen Zeit Nachahmungstäter zugeschlagen. Sie haben den Boston Strangler, den Son of Sam und den Zodiac-Killer imitiert. Gestern Morgen dann das Fiasko in Nags Head, North Carolina, von dem ich überzeugt bin, dass es damit in Zusammenhang steht.“

Sie sind davon überzeugt. Bei den Strafverfolgungsbehörden hat niemand einen Zusammenhang zwischen diesen vier Mordfällen hergestellt. Doch Sie, eine semiprofessionelle True-Crime-Bloggerin, haben sofort ein Muster erkannt. Also haben Sie ihre halbgaren Theorien im Internet veröffentlicht und die Aufmerksamkeit irgendeines Verrückten erregt, der sich daraufhin entschloss, Ihnen Angst einzujagen.“

Colleen hob ihr Kinn ein wenig. Sie weigerte sich, zurückzurudern. Ja, wenn Lieutenant Jackson das so laut aussprach, klang es absurd. Aber tief in ihrem Herzen wusste sie, dass sie recht hatte.

„Sie können sagen, was Sie wollen, aber ich habe das Richtige getan. Denn das ist meine Arbeit, Lieutenant. Ich führe einen Crime-Blog, der manchmal von den Kriminellen, über die ich schreibe, gelesen wird. Wir leben in einer freien Welt. Aber hier kommt der wichtige Teil: Ich helfe der Polizei im ganzen Land, Verbrechen aufzuklären. Die Menschen haben ein tiefsitzendes Misstrauen gegenüber der Polizei, gegenüber dem System. Sie glauben, wenn sie die Wahrheit sagen oder einen Freund verraten, werden sie von der Polizei irgendwie in den Fall hineingezogen. Ich biete ein Forum für Leute, um Hinweise zu geben, Einsichten zu teilen und den Strafverfolgungsbehörden anonym Informationen zu übermitteln. Ich bin sehr gut darin, Schlussfolgerungen zu ziehen. Zum gewissen Grad habe ich mir das selber beigebracht, aber bitte vergessen Sie nicht, ich habe jahrelang als Reporterin in diesem Bereich gearbeitet und war mit einem Polizisten verheiratet. Mit einem guten Polizisten. Tommy hat mir alles beigebracht, was er wusste. Und Sie waren eine von denen, die ihn ausgebildet haben.“

Jackson schenkte ihr ein schiefes Lächeln. „Touché.“

„Bitte geben Sie mir nicht die Schuld an all dem. Ich habe nur über die Fakten berichtet, wie sie sich mir dargestellt haben. Genau wie jeder gute Ermittler es tun würde.“

Jackson fuhr sich mit den Händen durchs Haar. Colleen war eifersüchtig, denn je zerzauster die Frisur aussah, desto aufregender wirkte Jackson. Ihre eigenen Haare waren das genaue Gegenteil davon; sie sahen ungekämmt einfach immer nur aus, als wenn sie sie tagelang nicht gewaschen hätte.

Jackson band ihre Haare zu einem losen Pferdeschwanz zusammen und fing dann an, mit ihrem Stift zu spielen. „Niemand gibt Ihnen die Schuld oder macht Ihnen Vorwürfe, Colleen. Ja, ich wünschte, Sie wären zu mir gekommen, bevor Sie Ihre Theorien mit dem Rest der Welt geteilt haben. Aber was geschehen ist, ist geschehen. Wir möchten nur wissen, was los ist und warum Sie und der Felon-E-Blog als Vehikel für diese Morde genutzt werden. Wir haben die Bestätigung erhalten, dass jeder, der getötet wurde, Leser Ihres Blogs war. Haben Sie Ihre Leser kürzlich irgendwie herausgefordert, einen Wettbewerb ausgerufen oder Ähnliches?“

„Nicht, dass ich wüsste. Bevor ich herkam, bin ich noch einmal mein Archiv durchgegangen. Ich habe in der Vergangenheit ein paar Artikel über den Zodiac verfasst, vor allem, als der Film rauskam, aber nichts über den Boston Strangler oder den Son of Sam. Ich habe noch nie einen Wettbewerb veranstaltet, so etwas ist nicht mein Ding. Und was die Herausforderung angeht – ich weiß nicht, was Sie damit meinen.“

„Könnten Sie jemanden wegen irgendetwas beschuldigt oder Ihre Leser gebeten haben, Recherchen zu einem bestimmten Fall oder Opfer anzustellen?“

Hatte sie so etwas getan? Sie überlegte, doch ihr fiel nichts ein. Stumm schüttelte sie den Kopf.

„Warum sollte er sich dann entscheiden, von all den Blogs auf der Welt ausgerechnet Ihren zu benutzen? Warum Sie, Colleen?“

Ja, warum ich? Ein durchgedrehter Fan? Ein Täter, bei dessen Ergreifung sie geholfen hatte und der jetzt auf Bewährung draußen war?

„Ich kann es Ihnen nicht sagen. Ich habe keine Ahnung. Ich weiß nur das, was ich geschrieben habe, und dass meine Kommentatoren deshalb umgebracht werden.“

„Ich glaube nicht, dass sie wegen Ihrer Geschichte sterben müssen. Ihr Blog ist schon eine ganze Weile auf dem Markt. Ich frage mich, ob Sie zufällig über etwas gestolpert sind, was Sie nicht hätten wissen dürfen.“

„Der Hackerangriff gestern lässt auf jeden Fall keinen Zweifel daran, dass, wer auch immer dafür verantwortlich ist, jemand meinen Blog kennt. Es müssen Hunderte Kommentare gewesen sein, die lauteten: ‚Ich weiß, wer du bist.‘ Und niemand, absolut niemand, weiß, wer ich bin.“

„Irgendjemand weiß es offenbar schon. Ihre Kontakte wissen doch sicher, wer Sie sind. Oder ist alles, was Sie tun, anonym?“

Jackson hatte eine verstörende Art, sich vorzubeugen, während sie sprach, und damit in Colleens persönlichen Bereich einzudringen. Eine gute, solide Verhörtechnik: Gib dem Opfer das Gefühl, dass es von Bedeutung ist, dass man an jedem seiner Worte hängt. Colleen beschlich das Gefühl, dass Taylor Jackson nur sehr wenig entging. Sie achtete auf jedes Wort, das aus Colleen Mund kam, und deutete dabei den Zusammenhang, ihre Körpersprache, las zwischen den Zeilen. Tommy hatte gesagt, dass sie eine fabelhafte Ermittlerin war. Colleen verstand, wieso – sie schaffte es, aus den kleinsten Details noch Informationen zu ziehen.

„Bei mir ist alles anonym. Ich schütze meine Identität so gut wie möglich, vor allem gegenüber meinen Kontakten. Sie nennen mich Felony – ein Insidergag …“

„Mit dem Namen des Blogs, ja, ich verstehe. Also wenn Ihre Kontakte nicht wissen, wer Sie sind, wie bekommen Sie sie dann dazu, zu reden?“

„Auf jede Weise, dir mir einfällt. Meistens leihe ich Ihnen einfach nur mein Ohr. Manche wollen auch Geld. Ich bin durchaus bereit, hier und da einen Zwanziger zu investieren. Allerdings zahle ich nie vorab für Informationen. Sie müssen gewillt sein, ihr Wissen auch ohne Gegenleistung mit mir zu teilen. Geld gibt es erst, wenn sie mir nachprüfbare Informationen gegeben habe. Ehrlich, Sie wären überrascht, wie viele Menschen einfach nur helfen wollen, ohne etwas dafür zu verlangen. Ihnen geht es tatsächlich um Gerechtigkeit.“

„Wie viele Kontakte haben Sie bei der Metro?“

Colleen hätte beinahe gelacht. Aber nur beinahe. Jacksons Miene war ernster geworden; ihr gefiel das hier alles gar nicht, das sah man. Colleen konnte es ihr nicht verdenken. Die Tatsache, dass ihre Abteilung leckte wie ein Sieb, musste schwer zu verdauen sein.

„Ich habe niemanden aus Ihrem Team, falls Sie das wissen wollten, Lieutenant. Mehr werde ich über meine Kontakte aber nicht verraten. Im Moment sind sie auch nicht relevant. Wir müssen uns vielmehr Sorgen darum machen, dass die Opfer aus dem Kreis meiner Kommentatoren ausgewählt werden.“

„Ich denke nicht, dass irgendetwas an diesem Fall irrelevant ist, Colleen. Wir haben bereits eine undichte Stelle. Ein Nachrichtensender aus New York hat vor wenigen Minuten angerufen und Fragen gestellt. Also alles schön der Reihe nach. Als Erstes nehmen Sie den Blog aus dem Netz“, sagte Jackson.

Colleen versteifte sich. „Nein.“

„Colleen. Seien Sie vernünftig. Mit jeder Sekunde, die der Blog aktiv ist, setzen Sie Ihre Leser einer großen Gefahr aus. Die zählen darauf, von Ihnen unterhalten und mit Neuigkeiten versorgt zu werden. Sorgen Sie dafür, dass sie auch darauf zählen können, von Ihnen geschützt zu werden.“

„Das mache ich nicht. Ich weigere mich, mich vertreiben zu lassen, nur weil irgendein Irrer es auf mich abgesehen hat.“

„Auf Sie abgesehen hat? Er bringt gerade Ihre Kommentatoren um. Ihre Lebensgrundlage. Was wäre Ihr Blog ohne Ihre Fans? Nichts. Gar nichts. Wirklich, Colleen, hören Sie mir gut zu. Sie spielen mit dem Feuer. Sie haben zu viel zu verlieren. Dieser Mann wird vor nichts haltmachen, um zu bekommen, was er will. Sie sind für ihn entbehrlich. Sie sind ihm egal. Sie sind nur Mittel zum Zweck, und er wird Sie benutzen und dann töten, wenn Sie für sein kleines Spiel nicht länger nützlich sind. In der Zwischenzeit geraten viele unschuldige Menschen ins Kreuzfeuer. Ich bitte Sie daher ausdrücklich, Ihren Blog herunterzunehmen.“

„Nein. Auf keinen Fall. Ich werde mich weder von einem Irren noch von der Polizei einschüchtern lassen. Wenn ich den Blog herunternehme, sendet das ein klares Signal an jeden in unserem Geschäftsfeld, dass man uns Angst einjagen und somit aus dem Geschäft vertreiben kann. Ich muss für alle von uns standhaft bleiben.“

Jackson überlegte einen Augenblick und hob dann geschlagen die Hände. „Fein. Tut mir leid, dass Sie das so empfinden. Ich schätze, dann werden wir den Blog für Sie schließen müssen.“

Colleen erhob sich von ihrem Stuhl. Wut pulsierte durch ihre Adern. „Denken Sie nicht einmal daran …“

„Es ist schon passiert.“ Jackson nickte in Richtung Tür, wo der attraktive Detective Ross mit leicht gerunzelter Stirn an der Tür stand.

„Wie …“

„Detective Ross ist einer der besten forensischen Detectives des Landes. Er hat die Seite heruntergenommen und ein System installiert, um Ihre Kommentatoren zu benachrichtigen und sie zu warnen, besonders auf sich achtzugeben.“

„Das können Sie nicht machen. Das ist illegal. Das ist ein Eingriff in das Vertrauensverhältnis zwischen mir und meinen Lesern.“

„Sobald jemand einen Kommentar im Internet veröffentlicht, gehört er zum Allgemeingut.“

„Nein, nein, nein. Es ist eine private Domain. Die Leute müssen sich für die Seite registrieren. Sie steht nur Leuten zur Verfügung, die bereit sind, mir ihre persönlichen Informationen zu geben, und das sind auch die Einzigen, die Kommentare hinterlassen können. Ich habe eine strenge Klausel zum Schutz der Privatsphäre aufgestellt, die von einem Anwalt, der sich auf Urheberrecht spezialisiert hat, verfasst wurde und der alle zustimmen mussten. Ganz zu schweigen von den Rechten der Host-Firma und des Content-Management-Systems, das ich benutze. Wenn man meiner Gruppe beitritt, darf man einen gewissen Schutz erwarten. Sie können die Leute nicht einfach ohne meine Erlaubnis oder eine entsprechende Befugnis kontaktieren.“

Jackson beugte sich noch weiter vor. „Bitte, Colleen, jetzt mal halblang. Es ist nur ein Blog. Und wenn das alles so privat ist, dann befindet sich der Mörder unter Ihren Kommentatoren. Wir brauchen die Namen.“

Colleen fing an zu stottern, aber Jackson hob eine Hand. „Regen Sie sich gar nicht erst auf. Sie haben Glück, dass wir Sie nicht wegen Behinderung anklagen. Wir müssen jetzt mal einen Moment ernsthaft sprechen. Setzten Sie sich wieder hin, atmen Sie tief durch, entspannen Sie sich und fangen Sie endlich an zu reden. Sie sind zu mir gekommen, weil Sie Hilfe brauchten, erinnern Sie sich? Hören Sie also auf, meine Zeit zu verschwenden, wenn Sie außer Blödsinn nichts zu der Unterhaltung beizutragen haben.“

Colleen blieb stehen. „Sie gemeines Biest.“

Taylor lachte kurz und wissend auf, dann wurde sie wieder ernst. „Ja, vielleicht bin ich das. Aber mir ist es wichtiger, Menschenleben zu retten, als Ihre beste Freundin zu werden. Okay? Können wir jetzt aufhören, zu spielen, und endlich Tacheles reden? Menschen sterben, Colleen. Sie und Ihr Sohn befinden sich in großer Gefahr. Wenn Sie es schon nicht mir zuliebe tun wollen, denken Sie an Flynn. Denken Sie daran, was Tommy von Ihnen erwarten würde.“

Colleen war geschlagen. Sie erkannte das Gefühl. Sie war gerade eben ausgekontert worden. Es gefiel ihr nicht, aber sie musste es anerkennen. Dass Jackson ihren Sohn und toten Ehemann gegen sie verwendete, war kein feiner, dafür aber ein umso wirksamerer Zug. Colleen löste sich von ihrer Wut, setzte sich an den Tisch und zog ihr Notizbuch aus der Tasche. Klappte es auf. Fing an, laut vorzulesen. Genoss den schockierten Ausdruck auf Lieutenant Jacksons Gesicht, als sie anfing, die Namen der Opfer sowie die Zahl der Mitglieder ihrer Internetseite vorzulesen. Die Gruppe der möglichen Opfer des Pretenders hat sich gerade exponentiell vergrößert.