10. KAPITEL
Der Pretender erhielt eine E-Mail nach der anderen, jede traf zu ihrer vorherbestimmten Zeit ein. Dieses Muster war auf die Disziplin zurückzuführen, die ihm von seinem alten Meister eingetrichtert worden war – der Schneewittchenmörder hatte immer sofort nach vollbrachter Tat einen Bericht haben wollen. Er hatte dann mit diesen ekelhaften Zigarren in seinem feuchtkalten Büro gesessen, mit seinen zu Klauen verbogenen Händen eine nach der anderen geraucht und wie eine Spinne in ihrem Netz gewartet.
Was für ein erbärmlicher Mann. Immer nur am Befehle erteilen, doch selber zu verkrüppelt, um die schmutzige Arbeit zu erledigen. Er brauchte einen Stellvertreter, der an seiner statt seine Fantasien auslebte. Als Charlotte sie zusammengebracht hatte, sah es eine Zeit lang so aus, als wäre ein Traum wahr geworden. Aber dieser Traum hatte sich ziemlich schnell in einen Albtraum verwandelt.
Troy. Das war der Name, den Charlotte ihm gegeben hatte. Sie hatte sich für so clever gehalten. Totes Miststück, totes Miststück, totes Miststück. Auf sich allein gestellt, fühlte er sich so viel freier. Er steuerte alles selber und lernte dabei neue und bessere Wege, um seine eigenen Fantasien auszuleben. Es war, wie vom Souschef zum Restaurantbesitzer und dann zum Inhaber eine Franchisekette befördert zu werden. Jetzt war er der Meister, der seine eigenen Ministranten hatte.
Doch den Namen hatte er behalten. So war es einfacher.
Die erste Welle war vollbracht. Heute Abend würde die zweite folgen, die zweite Stufe seines Plans. Alles lief wie geschmiert. Einfach perfekt.
Er hatte sein Lied auf iTunes auf Dauerschleife gestellt. Immer und immer wieder erklang es und erinnerte ihn an seinen Zweck, an sein Ziel. Er war so einsam.
Er brauchte eine Ablenkung, also bereitete er sich eine Tasse Tee zu. Die einzelnen Schritte beruhigten ihn: Die dünne Porzellantasse herausholen, das Wasser bis kurz unter den Siedepunkt erhitzen, den grünen Tee abmessen und ins Sieb geben, ihn genau eine Minute in dem heißen Wasser ziehen lassen, bevor er ihn wieder herausnahm. Er schüttete die feuchten Blätter weg, rührte eine Löffelspitze Zucker in die Tasse und setzte sich wieder an seinen Computer. Er hatte eine neue E-Mail empfangen. Sein Herz schlug schneller, als er den Absender sah. War sie drin?
Er klickte auf die Betreffzeile. Die Nachricht lautete schlicht: „Es hat nicht funktioniert.“
Er seufzte laut und stellte die Tasse klappernd auf die Untertasse. Ein Fluch schob sich über seine Lippen. Die Wahrscheinlichkeit war von Anfang an gering gewesen. Dieser verdammte FBI-Agent war zu scharfsinnig, sich dessen, was um ihn herum geschah, zu bewusst. Jetzt war er erst recht alarmiert, und es würde noch schwerer, sein Team zu infiltrieren. Schwerer, aber nicht unmöglich.
Er nippte an seinem Tee und überlegte, wie sein nächster Schritt aussehen sollte. Er musste eine Botschaft schicken. Die falsche Renee Sansom hatte ihn enttäuscht und musste bestraft werden. Er sollte den minutiös ausgearbeiteten Plan in Gang setzen. Nur zwei Mausklicks, dann würden die Anweisungen verschickt, und sein Helfer würde sich an die Arbeit machen. Sie wäre noch vor Einbruch der Nacht tot, ihre Konten gelöscht, alle Spuren verwischt. Niemand würde sie je mit ihm in Verbindung bringen können.
Es gab zu viele Variablen, zu viele Spieler, um Fehler dulden zu können. Einen aus dem Team zu eliminieren, wäre für die anderen eine sehr eindeutige Botschaft: Versagen wurde nicht geduldet.
Die Vorstellung, sie zu töten, war zu verlockend.
Er würde es allerdings nicht mit eigenen Augen sehen können. Zumindest im Moment nicht. Schade. Es wäre bestimmt nett, mir ihr zu spielen. Eine mutige Frau, die sich freiwillig gemeldet hatte, um jemanden zu töten und sich für eine FBI-Agentin auszugeben.
Er sollte sie noch nicht jetzt eliminieren. Sie könnte sich immer noch als wertvoll erweisen. Immerhin war sie eine gut ausgebildete Forensikerin. Mit einer neuen Verkleidung – andere Haare, andere Haltung, Kontaktlinsen – könnte er noch mal auf ihre Fähigkeiten zurückgreifen. Er gab es zwar nur ungern zu, aber er brauchte sie. Sie half ihm, seine Rolle zu spielen.
Zitternd vor Erregung schwebten seine Finger über der Maus.
Er wog die Risiken ab. Es gab mehrere Verkleidungen, die er sich für sie ausgedacht hatte. Es wäre so leicht, sie einfach zu entsorgen, wie er es in der Vergangenheit schon so oft getan hatte. Die eleganteste Lösung war natürlich, den Wagen, mit dem sie und ihre Kumpane unterwegs waren, so zu manipulieren, dass er dem entgegenkommenden Verkehr auswich, dabei die Leitplanke durchbrach und im eiskalten Wasser landete. Sie wäre ertrunken, bevor die Rettungskräfte einträfen.
Hm. Die Vorstellung, wie sie im kalten Wasser panisch um sich schlug …
Seine Finger zuckten und schoben die Maus beiseite.
Er war kein Kind mehr, und ein Impuls war genau das, ein winziger Bruchteil einer Sekunde des Verlangens, der sich in Lust verwandelte. Lust, Lust, Lust. Lust brachte kleine Jungs nur in Schwierigkeiten.
Aber sie musste bestraft werden.
Und er überließ niemals etwas dem Zufall.
Niemals.
Das Dröhnen der Standuhr weckte ihn aus seinen Träumereien. Die Mittagspause war vorbei. Er musste sich wieder an die Arbeit machen, musste wieder die Identität einnehmen, die er erfunden hatte.
Es gab so viel zu tun. So viele Fäden zu ziehen. Inzwischen waren so viele Menschen beteiligt, die alle im großen Finale aufeinanderprallen würden. Es war zu spät, umzukehren – das Spiel war in vollem Gange. Das Katz-und-Maus-Spiel hatte ihn gelangweilt. Die Herausforderung reichte ihm nicht mehr. Er wollte beeindruckt werden. Er wollte lehren. Aber nichts davon brachte ihm die Gefühle, nach denen er sich sehnte. Er musste den Einsatz erhöhen.
Als er sich das Schlüsselband über den Kopf zog, fragte er sich, ob Taylor schon Angst hatte. So mutig sie auch war, sicherlich fing sie an, den Druck zu spüren. Er hatte dem verfickten Fitz gesagt, er solle ihr seine Nachricht übermitteln, damit sie wusste, dass das Spiel begonnen hatte. Er war zuversichtlich, dass sie die Nachricht verstanden hatte. Immerhin war er sehr überzeugend gewesen.
Er schloss das Haus hinter sich ab. Die Fahrt zur Arbeit dauerte nur ein paar Minuten. Er fragte sich, was ihn an diesem Nachmittag wohl noch erwartete.
Er liebte seine Arbeit.
Auf dem Weg ins Büro hielt er an der Post an und steckte die Postkarte ein, die er seit drei Monaten zurückhielt.
Eine echte Überraschung für sie.