11. KAPITEL

Nashville, Tennessee

Colleen Keck schaute auf die Uhr. Es war beinahe an der Zeit, Flynn von der Schule abzuholen.

Dies war die größte Geschichte, die sie seit Jahren gesehen hatte. Ihr Felon-E-Account war mit E-Mails förmlich überflutet worden. Neue Hinweise, neue Bestätigungen. Das Faxgerät hatte unaufhörlich gesummt, Menschen schickten ihr Zeichnungen der Tatorte, Namenslisten. Sie wusste bereits, dass mehr hinter diesen Morden steckte. Da konnte sie sich ganz auf ihren Instinkt verlassen, der jahrelange Übung darin hatte, die Wahrheit von dem ganzen Unsinn zu trennen, der täglich bei ihr einging. Sie hatte bereits ein gewisses Gespür für die Geschichte. Hier war definitiv etwas Großes im Gange.

Die Katastrophe, die sich am Morgen in North Carolina ereignet hatte, stand unter Verschluss. Es handelte sich um ein Kapitalverbrechen, und es gefiel ihr gar nicht, dass sie ausgeschlossen wurde, vor allem weil verschiedene Fernsehsender dort unten herumlungerten und minütlich Sonderberichte über gar nichts sendeten. Das einzig Tröstliche war, dass es denen auch nicht gelang, bis an die Tatorte vorzudringen. Sie hatte kurz mit einem Reporter vom Regionalstudio der CBS gesprochen, der ihr allerdings auch nur das erzählt hatte, was sie schon aus dem Radio wusste. Die Namen der Toten waren noch nicht freigegeben worden.

Frustriert rief sie ihren Kontakt in der Notrufzentrale der betroffenen Gegend an und erfuhr, dass die Familien der Getöteten noch nicht informiert worden waren, was die Verzögerung erklärte. Offensichtlich war die Frau eines der Opfer mit den Kindern auf einem Ausflug nach Disney World und nicht erreichbar.

Die Familien über ihren Verlust zu informieren, bevor die Welt davon erfuhr, war in Zeiten von Handys und Internet gar nicht so leicht. Auf Twitter wurde zwar eifrig gepostet, aber neue Informationen suchte man auch hier vergeblich.

Angeekelt schloss sie die Fotos. In Nags Head schneite es leicht. Die Blaulichter wurden von dem weißen Untergrund scharf zurückgeworfen. Das sah ganz hübsch aus, half ihrer Geschichte aber auch nicht weiter.

Colleen meinte, im Moment alles so weit im Griff zu haben, wie es nur ging. Dank des Lorazepams konnte sie sich wieder besser konzentrieren. Sie würde später noch einmal nach North Carolina zurückkehren.

Nach einem Schluck Cola light machte sie sich daran, zusammenzuschreiben, was sie bislang mit Sicherheit wusste und was sie bei den verschiedenen Polizeirevieren hatte zutage fördern können. Letzte Nacht hatte es in San Francisco einen Doppelmord gegeben. Die Tat trug die Handschrift des Zodiac-Killers. Vor wenigen Minuten hatte der San Francisco Chronicle einen Brief erhalten. Einen verschlüsselten Brief, der mit dem charakteristischen Kreuz in einem Kreis unterzeichnet war – dem Zeichen des Zodiac.

Entweder war er zurückgekehrt, oder es gab einen Nachahmungstäter. Es wäre nicht der erste falsche Alarm … Wie auch immer, der heutige Blog würde nach Veröffentlichung garantiert einen Aufruhr verursachen. Sie würde den Zeitschriften zuvorkommen, und die Klicks für Felon E würden durch die Decke gehen. Es gab niemanden, der eine gute Zodiac-Geschichte nicht zu würdigen wusste. Na ja, außer den Opfern. Sie schob den Gedanken beiseite. Gefühle wie diese würden sie nur behindern, so wie heute Morgen. Sie musste über die Fakten berichten und durfte sich nicht den Kopf über die Opfer oder deren Familien zerbrechen.

Ihr war bewusst, dass deren Verlust nicht weniger schlimm war als der von den Betroffenen in North Carolina, und trotzdem war es irgendwie … anders.

Sie legte die Hände auf die Tastatur, und die Worte flossen nur so auf den Bildschirm. Sie hatte alles noch einmal mit einer zweiten Quelle abgesichert. Die Geschichte würde sich wie ein Lauffeuer verbreiten.

Die Überschrift war leicht.

Der Zodiac ist zurück …

Colleen hatte keine Ahnung, was sie damit lostrat. Sie veröffentlichte den Blog, schaute zu, wie er seinen Weg durchs System nahm, und legte ihre Arbeit widerwillig nieder. Sie schaltete den Computer aus, um sich auf den Weg zu machen, ihren Sohn abzuholen. Ihre Gedanken eilten bereits zu dem voraus, was sie nach ihrer Rückkehr noch zu tun hatte.

Erst der Fall aus Boston, dann der aus New York. Um Boston könnte sie sich kümmern, während Flynn in seinem Zimmer war und seine „Ich-Zeit“ nahm. Glaubhafte Quellen für die San-Francisco-Geschichte zu finden, hatte beinahe drei Stunden gedauert. Boston ging hoffentlich schneller, weil sie bereits entsprechende E-Mails an ihre Vertrauten geschickt hatte. New York genauso – ihr Kontakt arbeitete nicht in der Tagschicht, also würde sie bis nach siebzehn Uhr warten müssen, um mit ihm zu sprechen. Dann würde es vermutlich auch nicht mehr lange dauern, bis der Damm in North Carolina brach.

Gut. Sie hatte alles genau geplant.

War das wirklich möglich? Drei Serienmörder, die in der gleichen Nacht zurückkehrten? Oder bewegten ihre Gedanken sich im Fantasieland? Und wer war für das Blutbad in North Carolina verantwortlich?

Spielte hier jemand ein Spiel?

Sie schüttelte den Kopf. Das war verrückt.

Egal. Sie würde dem Ganzen schon früh genug auf die Spur kommen.

Nach einem reumütigen Blick auf ihr ungewaschenes Haar im Badezimmerspiegel zog sie sich einen dünnen Baumwollpullover an und entschied sich dafür, einfach eine Baseballkappe aufzusetzen. Im Büro fand sie ihre abgetragene Lieblingskappe mit dem FBI-Logo. Nach mehreren Wäschen in der Maschine war das Dunkelblau zu einem matschigen Jeansblau verwaschen, und die goldenen Buchstaben fransten an den Seiten aus. Aber die Kappe passte ihr perfekt, also setzte sie sie auf und zog den Pferdeschwanz hinten durch das Loch. Sie hatte sie vor Jahren nach einer Tour durch Quantico ergattert. Tommy hatte sie gnadenlos damit aufgezogen. „Na, zeigst du der Metro die lange Nase, Darling?“, hatte er immer gefragt.

Geh weg, Tommy, dachte sie streng und hoffte, dass sein Geist ein einziges Mal gehorchen würde. Sie musste sich konzentrieren. Flynn abholen, ihm einen Snack zubereiten, ihn zum Mittagsschlaf hinlegen, sich wieder an die Arbeit machen.

Aufregung und Furcht erfüllten sie zu gleichen Teilen und ließen ihre Hände so zittern, dass sie Schwierigkeiten hatte, den Autoschlüssel ins Zündschloss zu stecken. Was gäbe sie für ein Auto mit Startknopf. Hm, wie weit würde sie das finanziell zurückwerfen?

Der Motor des Honda Civic sprang beim ersten Versuch an, und sie legte den Rückwärtsgang ein. Ihr fiel auf, dass sie lächelte. Gut. Das tat sie viel zu selten. Flynn würde sie also guter Stimmung erleben. Vielleicht sollte sie öfter diese Tabletten nehmen?

Sie bemerkte nicht, dass sie beobachtet wurde, als sie aus der Garage fuhr.