30. KAPITEL

Die Skyline von Nashville kam in Sicht. Die Lichter des AT&T-Building und der neue Pinnacle-Turm leuchteten in der Dunkelheit. Als Baldwin und Taylor über die Shelby-Street-Brücke fuhren, blitzten am Ufer des Cumberland River blaue, rote und gelbe Lichter auf und legten auf dem dunklen, bewegten Wasser einen verführerischen Tanz hin.

Baldwin fuhr direkt zu ihrem Büro im Criminal Justice Center. Sie hatte bereits ihr Team aus den warmen Betten geklingelt und dorthin bestellt. McKenzie erwartete sie im Büro der Mordkommission mit einem herzhaften Gähnen und Kaffee sowie einem hausgemachten Chai-Tee für Taylor, den ihm sein Partner Hugh mitgegeben hatte. Baldwin nahm sich einen Kaffeebecher und löste sich von der Gruppe, um von einem der Befragungsräume aus ein paar Telefonate zu führen. Marcus kam fünf Minuten später und sah aus, als wäre er noch gar nicht im Bett gewesen. Nur Lincoln war wie immer tadellos gekleidet. Er trug ein gebügeltes weißes Armani-Hemd zu einer dunkelblauen Seven-Jeans und schwarzen Slippern. Ein dunkelviolettes Samtjackett rundete das Erscheinungsbild ab.

„Modeopfer“, sagte McKenzie zu ihm und reichte ihm einen Becher mit dampfendem Kaffee.

„Ich kann dir gerne mal helfen, wenn du möchtest. Wir könnten zusammen shoppen gehen. Der Streber-Look ist schon seit ein paar Jahren out.“

„Was? Willst du jetzt etwa meine Freundin werden oder was?“

„Dafür hast du schon Hugh, Süßer.“

„Der ist meine Frau, du Dummkopf. Ehemänner gehen nicht mit ihren Frauen shoppen. Das heben sie sich für ihre Geliebten auf.“

„Autsch.“ Marcus lachte. „Jetzt hat er dich, Linc.“

„Jungs“, warnte Taylor. „Seid nett oder Mommy nimmt euch eure Spielsachen weg. Sag Hugh danke für den Chai, Renn. Er ist wie immer köstlich.“

McKenzie schob Lincolns Hand von seinem Kaffee weg, damit er nicht in Sahne ertränkt wurde. „Mach ich. Er sagt, du schuldest ihm noch ein Abendessen.“

Taylor lächelte ihre Jungs an. Sie freute sich, dass McKenzie sich so gut mit Marcus und Lincoln verstand. Er war ein sehr guter Detective, und sie wusste, dass er sich dadurch den Respekt des ganzen Teams verschafft hatte – inklusive ihren, deshalb hatte sie ihn ja auch zu einem festen Mitglied ihrer Truppe gemacht. Aber Respekt und Freundschaft waren zwei verschiedene Paar Schuhe. Die drei schienen sich jedoch ganz gut aneinander gewöhnt zu haben. Was sehr gut war. So konnte sie endlich aufhören, sich darüber Gedanken zu machen. Vielleicht würde Fitz auch in die Mordkommission zurückkehren. Sie würde ihn sofort und mit Kusshand nehmen, wenn er zurückkommen wollte. Zum Kollateralschaden eines Serienmörders geworden zu sein, steckte man nicht einfach so weg. Er könnte auch seine Pension nehmen und auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Darüber hatte er sogar nachgedacht, bevor er entführt wurde – er und Susie hatten sich eine Auszeit genommen, um auf einer ausgedehnten Reise ihre gemeinsame Zukunft zu planen.

Sie schluckte den Kloß herunter, der ihr in der Kehle steckte. Der Verlust, den er empfinden musste, überwältigte sie. Sie hatte Susie nur oberflächlich gekannt, und trotzdem zerriss ihr Tod ihr das Herz. Sie hasste es, dass Fitz allein im Krankenhaus lag. Sie würde am liebsten auf der Stelle zu ihm gehen und ihn an sich drücken. Vielleicht später. Oder morgen. Er würde sie umbringen, wenn er wüsste, dass sie sich Sorgen um ihn machte, anstatt sich auf das vorliegende Problem zu konzentrieren.

In der Mordkommission war es zu voll, weil die Nachtschicht auch da war, also führte Taylor alle in den Konferenzraum. In dem Moment, als sie das Licht anschaltete, klingelte ihr Handy. Sie erkannte die Nummer nicht, ging aber trotzdem ran. Im Moment war zu viel los, um sich eine Gelegenheit, etwas Neues über den Fall zu erfahren, entgehen zu lassen. Die Stimme am anderen Ende kam ihr vage bekannt vor.

„Lieutenant Jackson, hier ist Paul Friend. Ich bin Producer bei Fox News – wir haben sogar mal zusammengearbeitet. Damals, als sie live bei Kimberley im Fernsehen aufgetreten sind. Das war während des Schneewittchenfalls. Erinnern Sie sich?“

Ah, stimmt. Paul Friend hatte die Sendung produziert und war die Stimme in ihrem Ohr gewesen, die ihr Anweisungen zu kurzen Pausen und neuen Kameraeinstellungen gegeben hatte. „Ja, Paul, ich erinnere mich. Wie geht es Ihnen?“

„Unglücklicherweise bin ich um diese gottlose Stunde noch wach. Wir haben einen unbestätigten Bericht über ein Mordopfer erhalten. Beziehungsweise zwei. Drüben in San Francisco. Alles ist genauso arrangiert worden wie beim ersten Mord des Zodiac-Killers. Selbst der Brief an den Chronicle fehlt nicht. Wie sich herausstellt, waren die Opfer Mitglieder eines Blogs namens Felon E. Meine Quelle hat mir verraten, dass Sie mit dem Besitzer des Blogs gesprochen haben. Wir lassen die Geschichte morgen während des Frühstücksfernsehens laufen. Wären Sie bereit, sie für uns zu bestätigen?“

„Was bestätigen?“

„Dass dieser anonyme Blogger wusste, dass der Zodiac-Killer sich Opfer unter den Blogteilnehmern suchte, und diese Information weder mit der Polizei noch mit den anderen Teilnehmern geteilt hat? Oh, und ich sollte vielleicht erwähnen, dass es noch weitere Morde in New York gegeben hat, die erstaunliche Ähnlichkeit mit den Taten des Son of Sam aufweisen. Die Männer, die erschossen wurden, waren ebenfalls eifrige Kommentatoren auf Felon E. Und wie es der Zufall will, wurde in der Nähe der Leichen ein Zettel gefunden, auf dem stand, und ich zitiere: ‚Da draußen gibt es noch andere Söhne. Möge Gott der Welt helfen.‘ Da ich nicht denke, dass es David Berkowitz gelungen ist, aus dem Gefängnis auszubrechen …“

Verdammter Mist.

„Tut mir leid, aber darüber weiß ich leider gar nichts.“

„Wirklich nicht? Ich dachte, Sie würden am besten wissen, wie wichtig es ist, die Leute zu warnen, wenn ein Nachahmungstäter unterwegs ist. Vor allem, weil Sie vermutlich genau wissen, um wen es sich handelt. Kommen Sie schon, Lieutenant. Nur zwischen uns, ganz im Vertrauen. Nach ihrem Engagement im Schneewittchenmörder-Fall und Ihrer Anwesenheit beim Massaker von North Carolina gestern Morgen ist doch wohl offensichtlich, was hier los ist. Hören Sie, ich habe einiges beobachtet. Ich weiß, dass der Lehrling des Schneewittchenmörders entkommen ist. Er ist irgendwo da draußen, und er ist schon viel zu lange ruhig. Das hier fühlt sich nach ihm an. Das müssen Sie doch wenigstens zugeben.“

„Sie stellen da ein paar gewaltige Behauptungen auf, Mr Friend.“

Friend schwieg einen Moment. „Lieutenant, wir stehen auf der gleichen Seite. Ich will Ihnen helfen, diese Typen zu schnappen. Ich will sehen, dass der Gerechtigkeit Genüge getan wird. Wer weiß, wie viele von denen noch da draußen herumlaufen?“

„Ich weiß wirklich nichts, tut mir leid, Paul. Ehrlich, dieses Mal hatten Sie die Neuigkeiten für mich und nicht umgekehrt.“

„So wollen Sie doch gar nicht sein, Lieutenant. Sie wollen mit mir zusammenarbeiten. Ich kann Ihnen helfen.“

„Wirklich, Paul, ich habe davon noch nichts gehört. Tut mir leid. Sie müssen sich leider noch eine andere Quelle suchen, um die Geschichte abzusichern. Gute Nacht, Mr Friend. Oder vielmehr guten Morgen.“

Sie legte auf und drehte sich zu ihren Männern um. „Wir müssen loslegen.“

Marcus sah sie fragend an. „Du hast gerade gelogen. Böses Mädchen.“

„Ja, du kannst mir später den Hintern versohlen. Zuerst müssen wir Colleen Kecks Hintern retten. Wer weiß außer uns noch von ihrem Anruf? Die Zentrale?“

„Soweit ich weiß niemand. Lincoln hat mir ihr gesprochen und dich dann angerufen.“

„Es kann sein, dass wir eine undichte Stelle haben, also achtet auf jeden, der Interesse an diesem Fall zeigt. Und jetzt schauen wir uns mal an, was Ms Keck herausgefunden hat.“