26. KAPITEL
Sie fuhren zum Marktplatz zurück, um bei Mrs Anderson keinen Verdacht zu erregen – vor ihrem Haus im Auto zu sitzen und aufgeregte Anrufe zu tätigen könnte die gute Frau vielleicht misstrauisch machen.
Sobald sie einen Parkplatz vor dem großen Steinklotz gefunden hatten, den Taylor als Monument für die Gefallenen der Weltkriege identifizierte, erhielt Baldwin die Ehre, das SBI anzurufen. Taylor lauschte, während er Roddie Hall in allen Einzelheiten erläuterte, was sie gerade erfahren hatten. Roddie war genauso aufgeregt wie sie, endlich ein Teil des Puzzles gelöst zu haben. Er kannte den Polizeichef von Durham und versprach, innerhalb einer Stunde ein Spezialkommando zu Ruths Dienststelle und Wohnung zu schicken. Sobald es irgendwelche Neuigkeiten gäbe, würde er sich sofort bei ihnen melden.
Baldwin legte auf und drehte sich mit einem breiten Lächeln zu Taylor um. „Gott segne Wendy Heinz. Wenn sie nicht zwei und zwei zusammengezählt hätte …“
„Aber das hat sie. Was meinst du, wie lange braucht Hall, um die Jugendakte von Ewan Copeland zu beschaffen?“
„Roddie sagte, den Anruf würde er als Zweites tätigen. Er muss den Staatsanwalt mit einbeziehen, aber das sollte kein Problem sein. Ich habe dir doch gesagt, dass er ein guter Cop ist.“
„Ich bin froh, dass du Freunde auf hohen Positionen hast. Ich meine, es ist erst neunzehn Uhr.“
Er nahm ihre Hand. „Ich nehme an, das war keine Einladung?“
„Es ist nie zu früh, um ins Bett zu gehen.“
„Hm. Wir haben eine Reservierung. Oder wir könnten nach Nashville zurückfahren.“
Sie konzentrierte sich ganz darauf, was Baldwin mit ihrer Hand anstellte.
„Beide Varianten sind sehr verlockend. Es gibt doch nichts Besseres als ein Holiday Inn, um mich scharfzumachen. Aber nach Hause zu fahren ist auch eine gute Idee. Wir könnten uns mit dem Fahren abwechseln, damit du ein kleines Nickerchen machen kannst.“
„Ich bin dazu bereit, wenn du es bist.“ Er zeigte ihr, wie ernst er das meinte, indem er ihr ein verrücktes, albernes Grinsen zeigte, auf das sie einfach reagieren musste. Sie waren wie die Überlebenden einer Katastrophe. Das Wissen, es durchgestanden zu haben, machte sie ganz kribbelig. Sie kannte das Gefühl, es überkam sie immer, wenn ein Fall sich endlich in die richtige Richtung entwickelte. Sie streckte eine Hand aus und strich Baldwin durch die Haare, glättete sie. Er hatte sie zerzaust, und sie standen in alle Richtungen ab.
„Weißt du, wenn ich so darüber nachdenke, frage ich mich, ob wir nicht doch lieber in North Carolina bleiben sollten. Nur für den Fall. Raleigh liegt lediglich ein paar Stunden nördlich von hier. Wir könnten statt nach Nashville dort hinfahren. Hall würde sich sicher über die Unterstützung von ein paar gut ausgebildeten Agents freuen, oder?“
„Taylor, wir wären nur im Weg. Hall weiß, was er tut.“
„Stimmt.“ Sie seufzte schwer und schaute aus dem Fenster. „Tja, Chief Morgan hat uns die Adresse des alten Copeland-Hauses gegeben. Wieso fahren wir nicht dorthin, schauen uns um und gucken, ob Hall uns in der Zwischenzeit zurückruft?“
Jetzt stieß er einen dramatischen Seufzer aus und ließ ihre Hand los. „Okay. Du hast gewonnen. Wir schauen uns den Ort zu dem Gesicht an.“
„Danke, Liebster. Ich mache es wieder gut, versprochen.“
„Oh ja, das wirst du“, sagte er und legte einen Gang ein.
Innerhalb von fünf Minuten hatten sie die Adresse, die Chief Morgan ihnen gegeben hatte, erreicht.
Das alte Haus der Copelands lag in einer Seitenstraße eines Viertels, das in den Vierziger- oder frühen Fünfzigerjahren bestimmt ganz nett gewesen war, jetzt aber wirkte, als hätte niemand mehr Lust, sich darum zu kümmern.
Inzwischen war es dunkel geworden. Das Licht der einzelnen Straßenlaterne schaffte es nicht, die Vorgärten der Häuser zu erhellen. Sie mussten die Maglites aus dem Kofferraum holen, um sich einen Eindruck zu verschaffen. Ausgestattet mit den Taschenlampen machten sie sich auf den Weg zu dem kleinen Haus.
Ein rissiger Betonweg, der von Unkraut und Müll überwuchert war, führte zu einer winzigen Veranda. Es war ein kleines, einstöckiges Holzhaus; wesentlich kleiner als seine Nachbarn. Es schien fünf Zimmer zu haben – die Küche gleich vorne und zwei kleine Schlafzimmer, die auf die schmuddelige graue Veranda hinausgingen. Taylor sah einen Flur, der vermutlich zu einem Badezimmer führte, und dahinter noch ein Wohnzimmer. Das Hauptschlafzimmer musste nach hinten raus liegen.
Sie suchten sich einen Weg um das Haus herum, beleuchteten mit ihren Taschenlampen die desolate Umgebung und murmelte einander kurze Sätze zu. Der Garten wurde durch einen Maschendrahtzaun von den endlos langen, schwarzen Schienen der Bahn getrennt. Neben dem Haus gab es einen kleinen Sturmschutzkeller, dessen Tür einmal blau gestrichen gewesen war.
Zwei Häuser weiter fing ein Hund an zu bellen, und bei den beiden Nachbarhäusern ging die Außenbeleuchtung an.
„Wer ist da?“, flüsterte eine tiefe, verletzt klingende Frauenstimme. „Allen, bist du das? Es ist schon spät.“ Da erwartete jemand wohl noch einen heimlichen Besucher.
„Wir sollten besser gehen“, sagte Baldwin ganz leise.
Taylor nickte und schaltete ihre Taschenlampe aus, dann schlichen sie so leise wie möglich um die Hausecke zurück. Baldwin ging voran, Taylor folgte ihm auf dem überwucherten Weg im Vorgarten.
Eine andere, wesentlich autoritärer klingende Frauenstimme ertönte zu ihrer Rechten. „Hey, ihr da, ich sehe euch. Ich rufe jetzt Chief Morgan an. Ihr Taugenichtse haltet euch lieber aus meinem Garten fern. Ich habe ein Gewehr und weiß damit umzugehen.“ Eine Tür wurde zugeschlagen, und das Hundebellen verstummte.
Taylor hätte am liebsten zurückgerufen, dass sie die Polizei war. Im Dunkel stolperte sie über etwas und fiel so hart auf Hände und Knie, dass ihr der Atem stockte. Baldwin war sofort an ihrer Seite und half ihr, aufzustehen. Mit der Taschenlampe leuchtete er den Boden ab, um zu sehen, was Taylor zu Fall gebracht hatte.
Es war ein fest im Boden verankerter Metallpfosten, wie man ihn nutzt, um daran seinen Hund im Garten anzubinden. Taylor humpelte die letzten paar Meter zu Auto, wo Baldwin sich ihr geschundenes Schienbein anschaute.
Vorsichtig rollte er ihr Hosenbein hoch und legte seine warmen Hände auf die schmerzende Stelle. „Du hast mich erschreckt. Fall ja nie wieder so hin.“
„Dann sag den Leuten, sie sollen keine Pfähle mitten in ihren Garten rammen.“
Die Stimme von nebenan ließ sich wieder hören. Sie klang dieses Mal wesentlich näher. „Geschieht dir ganz recht, kleine Schnüfflerin.“
Baldwin bewegte sich mit Lichtgeschwindigkeit. Er zog seine Waffe und richtete seine Maglite direkt auf die Frau, sodass sie geblendet war. Es war eine ältere Frau mit einem zerzausten grauen Dutt und einem weißen Frotteebademantel, der mit kleinen Comic-Welpen bedruckt war. Wie sie es gesagt hatte, hielt sie eine Remington Kaliber 12 in der Hand. Taylor hatte das unverkennbare Geräusch, mit dem eine Patrone in den Lauf fiel, nicht gehört, also wartete die Frau entweder darauf, sie zu beeindrucken – und dazu war nichts besser geeignet als der Klang einer Pumpgun, die geladen wurde; das Geräusch war so bedrohlich, dass jeder halbwegs kluge Mensch sofort in seinem Tun innehielt –, oder die Waffe war nicht geladen und diente nur zur Abschreckung.
Taylor biss sich auf die Lippe, um nicht loszulachen. Das hier war absolut lächerlich.
„Bitte nicht schießen, Ma’am. Wir sind von der Polizei. Wir haben unsere Ausweise in unseren Taschen. Ich bin John Baldwin vom FBI und das ist Lieutenant Taylor Jackson aus Nashville.“
Die Frau grinste sie an. „Na, das nenne ich mal gute Neuigkeiten.“ Sie ließ das Gewehr sinken und streckte ihre Hand aus. „Sharon Potts. Ich bin Krankenschwester drüben im Krankenhaus. Lassen Sie mich mal einen Blick auf ihr Bein werfen. Irgendwie fühle ich mich verantwortlich, schließlich habe ich die junge Frau erschreckt. Sie sind aber auch ein wenig schreckhaft, oder?“
Taylor seufzte nur und streckte ihr Bein aus. Baldwin leuchtete mit der Taschenlampe, während die alte Frau mit den Fingern über die aufgeplatzte Haut strich. Taylor stieß zischend die Luft aus, als die Frau ihr Bein packte und verdrehte. Die Krankenschwester stand auf und strich sich ihren Bademantel über den Hüften glatt.
„Nichts gebrochen. Allerdings haben Sie das Ding gut getroffen, der Riss ist verdammt tief. Sie werden noch das ganze Auto dieses Gentlemans vollbluten. Es muss nicht genäht werden, aber etwas zur Desinfektion und ein Pflaster wären nicht verkehrt. Vielleicht brauchen Sie auch eine Tetanusspritze. Haben Sie einen Erste-Hilfe-Kasten in diesem schnieken Wagen?“
„Keinen, der schnieke Tetanusspritzen enthält“, erwiderte Baldwin. Taylor hörte das Lächeln in seiner Stimme. Er fand die Situation auch komisch. Sie atmete tief durch und riss sich zusammen. Wenn der Pretender nun hier irgendwo herumgelungert hätte … Nein, dann hätten ihre Bewacher Bescheid gegeben. Er würde sich nicht an sie heranschleichen können.
„Klugscheißer. Nun ja, Sie können sie in die Notaufnahme bringen. Da wird um diese Uhrzeit nicht viel los sein“, sagte Sharon. Hustend machte sie sich auf den Weg zu ihrem Haus, die Remington, die beinahe größer war als sie, über die Schulter geschlungen.
„Warten Sie, Ms Potts“, rief Taylor ihr hinterher.
„Ja, ja, gern geschehen“, rief die alte Frau zurück und winkte mit einer Hand, ohne einen Blick zurückzuwerfen.
„Nein. Ich … also ja, vielen Dank. Aber mich interessiert noch etwas anderes. Wie lange wohnen Sie schon hier?“
Die Frau blieb stehen und drehte sich herum. „Lange genug. Warum?“
„Kannten Sie die Leute, die neben Ihnen gewohnt haben? Die Copelands?“
Potts starrte sie einen Moment lang an; in der Dunkelheit wirkte ihr Gesicht wie eine Janusmaske, grotesk und unnachgiebig. Dann lächelte sie, und ihr Gesicht veränderte sich.
„Zum Teufel, Sie kommen besser rein. Ich mache Ihnen einen Tee.“
Es war ein schlichter Tee aus dem Beutel, aber er war warm, und es gab frische Sahne und viel Zucker dazu. Taylor nippte an ihrem Becher und drückte einen Eisbeutel auf ihr Schienbein. Ms Potts hatte die Wunde versorgt, aber erst, nachdem Taylor ihr versichert hatte, dass sie erst vor sechs Monaten eine Tetanusspritze bekommen hatte. Die Metro verlangte es so – wie ein Hund musste sie regelmäßig geimpft werden.
Baldwin wirkte an dem kleinen Esstisch wie ein Riese. Sharon Potts war nur knapp über eins fünfzig groß, was sich in ihrem Haus widerspiegelte. Alles wirkte klein, kompakt und effizient. Außerdem war es sauber und gemütlich ohne überflüssigen Schnickschnack. Genau wie seine Besitzerin. Die sich nicht lange bitten ließ, ihre Geschichte zu erzählen. Taylor hatte das Gefühl, dass Mrs Potts trotz ihres sozialen Berufs ein sehr einsamer Mensch war.
„Natürlich erinnere ich mich an die Copelands. Es gibt keinen in der Stadt, der das nicht tut. Es war so schrecklich traurig. Betty hatte eine Krankheit. Schon als Kind konnte man sehen, dass sie nicht ganz richtig im Kopf war. Alle wussten es, und alle versuchten wir, zu helfen. Aber einige Kinder werden einfach verrückt geboren, und es gibt nichts, was man dagegen tun kann. Ich kannte ihre Mama, Barbara, Gott hab sie selig. Sie hatte Angst um das Kind. Sie hat sie über alles geliebt, obwohl sie nie wusste, was die Kleine als Nächstes anstellen würde. Hat sie viel zu sehr geliebt. Ihre Fehler wollte sie nicht sehen. Aber Sie wissen, wie es ist, niemand weiß, was hinter verschlossen Türen vor sich geht. Ich denke, sie ließ sich vom Krebs zerfressen, damit sie nicht mit ansehen musste, was sie da auf die Welt gebracht hatte. Brustkrebs, Endstadium, und sie war noch so jung, kaum vierzig, als sie starb. Betty war damals siebzehn oder so. Es passierte direkt vor ihrem Schulabschluss. Das machte Betty Angst, glaube ich, weil ihre Mama der einzige Mensch war, zu dem sie gehen konnte, wenn es schwierig wurde.“
„Was war mit ihrem Vater?“, wollte Taylor wissen.
„Er war bei der Handelsmarine.“ Sie schnaubte. „Was eine hübsche Art ist zu sagen, dass niemand wirklich wusste, wer Bettys Vater war. Edward Biggs hat Barbara geheiratet, als Betty ungefähr drei war oder so, und ihr seinen Namen gegeben. Zu dem Zeitpunkt war er schon sehr eingespannt im Restaurant, und Betty war bereits ein ganz schöner Teufelsbraten. Er ist früh gestorben, und Barbara hat sich so gut sie konnte um das Kind gekümmert. Barb war eine gute Frau. Aber als sie starb, hatte Betty niemanden mehr. Also hat sie was mit Roger Copeland angefangen. Hat sich von ihm schwängern lassen, weil sie wusste, dass er sich um sie kümmern würde. Roger war ein Ehrenmann.
Kurz nach ihrer Hochzeit sind sie nebenan eingezogen. Damals war die Gegend hier wesentlich netter. Kleine süße Häuser für junge Familien. Mehr konnte er sich auch nicht leisten mit dem Baby und dem Barbecue-Restaurant, das nicht sonderlich gut lief.
Von außen betrachtet wirkte alles normal. Ich arbeite jetzt seit beinahe dreißig Jahren in dem Krankenhaus, und ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, dass ich die Wahrheit sage. Irgendetwas stimmte in dem Haus nicht. Ich habe die Jungen mit den seltsamsten Krankheiten zu uns kommen sehen. Und Betty, zum Teufel, Betty war eine Expertin. Sie hätte Ärztin sein können und wusste viel mehr über diese fremden Krankheiten als ich. Sie hat praktisch ihr ganzes Leben damit verbracht, sich durch den dicken Wälzer Gray’s Anatomy zu lesen. Sie saß mit einem Glas kaltem Tee auf der Veranda und las, als wenn ihr Leben davon abhinge.
Roger war die ganze Zeit über weg, und die Jungen … die armen Jungen. Wir taten, was wir konnten, versuchten, zu helfen, uns nachbarschaftlich zu engagieren. Wir haben ihnen Essen vorbeigebracht und angeboten, die Wäsche zu machen. Aber Betty ließ uns nie zu nahe heran. Sie schlug die Kinder, behandelte sie zu Hause wie Tiere, doch außerhalb des Hauses spielte sie die hingebungsvolle Mutter. Sie waren total eingeschüchtert von ihr, einschließlich Roger. Ich denke, deshalb war er so erpicht darauf, so wenig Zeit wie möglich zu Hause zu verbringen.
Wenn die Jungen krank im Krankenhaus lagen, war sie den ganzen Tag an ihrer Seite und schalt uns, als wären wir Idioten. Sie bestand darauf, ihnen selber die Medikamente zu geben und solche Sachen. In dem Winter, in dem meine Mutter starb, wurde der älteste Sohn sehr krank. Ich war nicht hier, ich war bei meiner Mom im Hospiz. Als ich zurückkam, war alles anders. Roger war tot, Edward war tot, Betty war im Gefängnis, der arme Errol war in der Klapse, und Ewan war ganz allein zurückgeblieben und versuchte, irgendwie über die Runden zu kommen. Dann haben sie ihn in das Heim gesteckt, und er ist zusammengebrochen.
Diese Schlampe, die sich von Roger hat schwängern lassen, hätte die Jungen zu sich nehmen sollen, doch sie ist davonstolziert und hat Anderson geheiratet, damit sie und ihr kleiner Bastard gut versorgt waren. Ich habe sie dafür immer ein wenig gehasst, obwohl ich weiß, dass das eine Sünde ist. Aber wenn sie den Mann wirklich geliebt hat, hätte sie sich um seine Jungen kümmern müssen. Doch so war sie mit ihren Freundinnen in Myrtle Beach, als Errol sich umbrachte. Ewan hatte niemanden, der ihm bei der Planung der Beerdigung seines kleinen Bruders half. Ich erinnere mich, wie er mit leerem Blick am Grab saß. Nachdem er das Mädchen verletzt hatte und verschwunden war, ist die ganze Geschichte immer mehr verblasst und zur Legende geworden. Das Haus wurde von der Bank übernommen und steht seitdem leer. Sie haben es nie verkaufen können. Vermutlich schreien die Wände bis heute.“
Bei dem Gedanken überlief Taylor ein Schauer. Reflexartig nippte sie an ihrem Tee.
„Wie war er so?“, fragte Baldwin.
Ms Potts genoss die Gesellschaft an diesem kalten Abend, und sie war eine geborene Geschichtenerzählerin. Sie wuselte in ihrer kleinen Küche herum, setzte noch eine Kanne Tee auf und stellte einen Teller mit Plätzchen auf den Tisch. Taylors Magen knurrte ganz unladylike. Die Krankenschwester lächelte nur und schob ihr den Keksteller zu.
„Ewan? Ich wage zu sagen, der war wie seine Mama.“
„Inwiefern?“
Sie trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte und dachte nach. „Krank im Kopf. Er bemühte sich sehr. Es war herzzerreißend mit anzusehen, wie er gekämpft hat. Als wenn er wusste, dass das, was er tat, falsch und böse war, er aber einfach nicht anders konnte. Nehmen Sie den Hund. Der Pfahl, über den Sie gestolpert sind? Als Ewan ungefähr zehn Jahre alt war, hatten die Copelands einen Hund. Er hatte ihn hinten im Wald bei den Schienen gefunden. Der Junge liebte den Hund. Er schlief mit ihm in einem Bett. Er ging mit ihm spazieren. Er spielte mit ihm. Und als er ihn erschoss und der Hund sterbend im Vorgarten lag, wimmernd und blutend, und er auf das Einzige herabschaute, was in seinem armen kleinen Leben gut gewesen war, weinte er. Ich habe ihn dabei beobachtet. Deshalb weiß ich es. Er war böse, richtig böse. Aber er wollte es nicht sein, glaube ich. Es war wie ein Zwang.“
Taylor legte ihren halb aufgegessenen Keks zurück auf den Teller. „Sie haben gesehen, wie er seinen Hund erschoss?“
„Ja, das habe ich. Ich kam gerade von meiner ersten Schicht, habe den Schuss gehört und nach drüben geschaut. Ewan stand da, Schnodder lief ihm aus der Nase über sein Kinn. Ich erinnere mich, dass er den Kopf gehoben und mich angeschaut hat. Er war am Boden zerstört. ‚Ich musste es tun‘, sagte er. ‚Er war verletzt.‘ Aber der Hund war gesund und munter wie eh und je. Er hat ihn getötet, weil er es wollte.“
Baldwin nickte. „Er hat Schmerz mit Liebe gleichgesetzt. Das hat das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom seiner Mutter ihm beigebracht. Die einzige Möglichkeit, jemandem zu sagen, wie sehr du ihn liebst, ist, ihn zu verletzen. Körperlich zu verletzen. Das verschafft dir Aufmerksamkeit.“
„Ja, das beschreibt die Situation gut. Betty hat ihre Jungen geliebt, das konnte niemand abstreiten. Aber sie hasste sie auch ein wenig. Wie sonst hätte sie ihnen wieder und wieder Verletzungen zufügen können?“
Taylor fing Baldwins Blick auf. Langsam bekamen sie ein immer klareres Bild von ihrem Gegner. Wenn sie nicht aufpassten, konnte zu viel Verständnis zu Sympathie für ihn führen. Mit einem Mal hatte Taylor das Gefühl, nur Zeit zu schinden. Es war an der Zeit, zu gehen. Zeit, diesen Mistkerl ein für alle Mal vom Angesicht der Erde zu tilgen.
„Ms Potts, Sie waren uns eine große Hilfe“, sagte Taylor. „Vielen Dank, dass sie mich so gut versorgt haben. Leider müssen wir jetzt wieder los.“
Unter schwachem Protest begleitete die Krankenschwester sie zur Tür, wo sie Taylor noch ein paar Kekse in die Hand drückte, die diese dankbar annahm. Sie brauchte den Zuckerschub, auch wenn sie in letzter Zeit ein paar Pfund zugelegt und außerdem heute ein opulentes Mittagessen genossen hatte. Sie versprachen, wieder vorbeizuschauen, sollten sie das nächste Mal in der Stadt sein, und machten sich dann auf den Weg zu Baldwins BMW:
Die Schlinge zog sich immer weiter zu.