49. KAPITEL
Taylor ignorierte das Klingeln des Handys.
Sie hasste es, Baldwin anzulügen. Obwohl er sie seit wer weiß wann belog, wollte sie nicht diese Art Frau sein. Eine, die sagt, sie geht mit ihren Freundinnen shoppen, wenn sie sich in Wahrheit mit ihrem Lover im Park trifft. Eine, die den Wert eines Mannes abschätzte, bevor sie mit ihm sprach. Eine, die sagte, Ich liebe dich, und es nicht meinte. So eine Frau war sie nicht, und doch hatte sie ihren Verlobten jetzt gerade bezüglich ihres Ziels angelogen. Und bezüglich ihres Vorhabens.
Es dient dem Wohle aller, Taylor. Du weißt, dass er dich aufhalten würde, wenn er bei dir wäre. Es war klug von dir, ihn woanders hinzuschicken. Dorthin, wo er in Sicherheit ist.
Und sieh der Tatsache ins Auge. Du willst ihn nicht in der Nähe haben, wenn du einen Mord begehst.
Als Kris ihr erzählt hatte, dass Barclay/Ewan bei ihr wohnte, war ihr das Herz in die Hose gerutscht. Eine eigene Adresse wäre ja auch zu einfach gewesen. Natürlich hatte er darauf geachtet. Sie saß gute fünf Minuten in ihrem Auto, atmete, dachte nach, traf eine Entscheidung. Sie hatte das Gefühl, zu wissen, wo er war, wohin er Sam gebracht hatte. Wenn sie Ewan Copeland wäre, wäre das genau der Ort, den sie sich in Nashville aussuchen würde, um die Dinge zu einem Ende zu bringen. Er kannte sie inzwischen gut genug, um zu wissen, dass sie darauf kommen würde. Die Bühne war perfekt bereitet worden.
Sie rief schnell bei Julia Page, der stellvertretenden Bezirksstaatsanwältin, an, weil es ihr bei ihr am leichtesten fiel, sie um einen Gefallen zu bitten.
Julia ging sofort ran. „Taylor, Gott sei Dank, dass es dir gut geht. Ich habe gerade erst von der Schießerei erfahren.“
„Von welcher?“
„Es gibt mehr als eine? Ich spreche von Colleen Keck.“
„Wir hatten außerdem einen möglichen Nachahmungstäter auf dem Parkplatz der Rechtsmedizin. Er wurde ausgeschaltet.“
„Guter Gott. Hast du ihn erschossen? Hat er Sam verletzt? Hast du sie gefunden?“
„Nein. Habe ich nicht. Mein Gott, Julia, ich drücke nicht so leicht ab.“ Ja, genau. Als wenn sie die Gelegenheit nicht auch ergriffen und noch dazu genossen hätte. Das war inzwischen aus ihr geworden. Jemand, der blind nach Rache suchte. „Ich weiß immer noch nichts Neues von Sam, aber ich arbeite daran. Aber Julia, hast du eine Telefonnummer von Joshua Fortnight?“
Schweigen breitete sich in der Leitung aus. Schließlich räusperte Julia sich.
„Ich weiß den Namen des Heims, in dem er sich befindet. Er hat sich nach dem Mord an seinem Vater für eine betreute Wohngemeinschaft entschieden. Es gab niemanden, der sich um ihn kümmern konnte, und sein Besitz wurde in einem Treuhandstreit gesperrt und das Personal entlassen. Es werden gerade genügend Mittel freigegeben, um Joshuas medizinische Ausgaben zu decken. Wir konnten ihm einen guten Platz besorgen, was unter den gegebenen Umständen mehr war, als man verlangen konnte. Er ist im Guardian-Wohnheim an der Ecke Antioch Pike und Old Harding.“
„Super. Danke, Julia.“
„Will ich wissen, warum du mich danach fragst?“
„Ich muss ihm später nur ein paar Fragen stellen. Nichts, worüber du dir Sorgen machen müsstest. Der ganze Fall hängt mit seinem Vater zusammen, und ich will einfach ein paar Dinge klären.“
„Okay. Dann viel Glück, Taylor.“
Taylor wusste, dass Julia sich sehr darum bemüht hatte, Joshua gut unterzubringen. Als Opfer des Treacher-Collins-Syndroms war er blind, wurde langsam taub, und sein Gesicht war vollkommen deformiert. Die Tatsache, dass er ein relativ normales, aktives Leben führte, war an sich schon ein kleines Wunder. Seine Mutter, Carlotta Fortnight, war bei seiner Geburt gestorben. Sein Vater, Eric Fortnight, der Schneewittchenmörder, durch Taylors Hand. Seine Schwester, Charlotte Douglas, geschwängert von Baldwin, dahingemetzelt von Ewan Copeland …
Joshua hatte eine sehr blutige Geschichte. Es war bemerkenswert, dass er sie unbeschadet überstanden hatte – er hatte seinen Vater vor seiner Schöpfung gerettet, indem er Copeland in die Schulter schoss, kurz bevor Taylor und das SWAT-Team durch die Türen gestürmt waren.
Für Taylors Geschmack war die ganze Sage viel zu inzestuös.
Sie war bereits am Ellington Parkway vorbei. Sie wendete schnell, nahm die Ausfahrt zur I-24 East und zog gleich rüber auf die linke Spur. Sie könnte es in weniger als zehn Minuten zu Joshuas Heim schaffen.
Joshua. Der Unschuldige, der von so viel Tragödie umgeben war. Das Lamm, das für die Löwen angepflockt war.
Er hatte vielleicht die Antworten, die sie brauchte.
Sie würde Sam finden und sie aus den Händen des Mistkerls befreien. Nie würde sie aufgeben, die Unschuldigen um sie herum zu schützen. Sie weigerte sich, sich in ihren Fehlern zu suhlen. Um die anderen Toten zu betrauern, war später noch ausreichend Zeit.
Ihr Handy klingelte erneut. Sie würde das verdammte Ding einfach ausstellen müssen, damit es sie nicht so sehr ablenkte.
Sie warf einen Blick aufs Display – eine internationale Nummer. Sie erkannte die mit +44 beginnende Vorwahl. Memphis.
Warum zum Teufel sollte Memphis gerade jetzt anrufen? Sollte sie rangehen? Sie drückte auf die Taste und nahm den Anruf an.
„Wie geht es Ihnen, Special Agent Highsmythe?“
In seinem britischen Upperclass-Akzent hörte sie eine gewisse Erleichterung mitschwingen. „Ich bin so froh, dass ich dich erreiche. Geht es dir gut?“
Er klang wirklich erleichtert, der Dummkopf.
„Warum sollte es mir nicht gut gehen?“
„Taylor, ich habe die Nachrichten gesehen. Du bist überall. Es sieht so aus, als wäre bei dir die Hölle losgebrochen. Bitte sag mir, dass du auf dich aufpasst.“
„Machen Sie sich keine Sorgen, Viscount. Ich passe immer auf mich auf.“
„Vergiss nicht, ich habe dich schon in Aktion gesehen. Vorsichtig ist nicht gerade das Wort, das mir zu dir einfällt. Du bist so gefährlich wie ein brünftiger Löwe.“
Sie konnte nicht anders, sie musste lachen. Darin war er wirklich gut. Selbst wenn sie noch so wütend war, konnte er mit einem Satz ihre Laune auf den Kopf stellen.
„Ehrlich, mir geht es gut. Was kann ich für dich tun?“
„Nichts. Ich habe mir nur Sorgen gemacht“, sagte er nur.
Dann schwieg er, und sie verspürte das alte Schuldgefühl, das sie immer überkam, wenn Memphis ihr seine Gefühle gestand. Er hatte eine gewisse Zuneigung für Taylor entwickelt, und als er zum Verbindungsagenten für die Antiterroreinheit zwischen New Scotland Yard und dem FBI ernannt worden war und nach Quantico zog, hatte sie befürchtet, er würde die Sache nicht auf sich beruhen lassen. Doch zum Glück benahm er sich vernünftig – meistens jedenfalls. Baldwin wusste nicht, dass Memphis sie immer noch ab und zu anrief, und manchmal, wenn sie mal wieder lachen wollte, nahm sie seine Anrufe auch entgegen.
Gott wusste, dass sie im Moment ein wenig Aufheiterung gebrauchen konnte, aber trotzdem war das nicht der richtige Zeitpunkt.
„Mir geht es wirklich gut. Aber ich muss jetzt auflegen. Ich folge gerade einer Spur und bin soeben an meinem Ziel angekommen.“
„Sei vorsichtig, Taylor. Du musst mit deinem Lover mal nach England kommen. Ich führe euch dann auch herum.“
„Ich dachte, du bist in Quantico.“
„Nein, ich bin zurück im Land der Königin. Die Kolonien benötigen meine Dienste nicht länger.“
Er klang nicht verbittert, aber Taylor fragte sich, ob Baldwin da wohl seine Finger im Spiel hatte. Er war tierisch eifersüchtig auf Memphis, und ihm jederzeit in Quantico über den Weg zu laufen, war vielleicht zu viel für ihn gewesen.
„Das tut mir leid. Ich weiß, wie sehr es dir hier gefallen hat.“
„Ja. Na ja. Man kann nicht alles haben, stimmt’s?“
Und schon hatte er die Grenze wieder überschritten. Typisch. Er schaffte es immer nur eine gewisse Zeit, sich zusammenzureißen. Taylor wusste, dass Memphis nichts als Ärger bedeutete.
„Wir sprechen uns später, Memphis. Gute Nacht.“
Sie legte auf und schob alle Gedanken an Memphis und Baldwin beiseite. Sie musste sich jetzt auf Nashville konzentrieren.