37. KAPITEL
Taylor hatte noch nie eine solche Panik empfunden wie jetzt. Trotzdem gelang es ihr, äußerlich ruhig zu bleiben. Sie nahm das Telefon und drückte die Kurzwahl für die Handynummer ihrer besten Freundin.
Die Mailbox ging an. Ein Zeichen, dass das Handy ausgeschaltet war. Taylor legte auf und wählte dann Sams Festnetzanschluss. Simon Loughley, Sams Ehemann, hob ab. Im Hintergrund hörte Taylor die Zwillinge weinen. Sie versuchte, so normal wie möglich zu klingen.
„Hey Simon, ist Sam da?“
„Hey Taylor, schön, von dir zu hören. Nein, sie hat diese Woche Nachtschicht und steckt in diesem Augenblick vermutlich bis über beide Ellbogen in Eingeweiden. Außerdem hat sie heute Vormittag einen Arzttermin. Ich erwarte sie nicht vor zehn Uhr zurück. Hey, kommt Baldwin und du an Thanksgiving zu uns zum Essen? Nein, lass mich das anders formulieren. Bitte sag mir, dass du und Baldwin Thanksgiving zu uns kommt. Sam darf nichts trinken, und du weißt, wie sie im schwangeren Zustand an nationalen Feiertagen ist.“
Taylor kämpfte gegen die ansteigende Übelkeit an. Alles ist gut. Ihr geht es gut. Sie ist bei der Arbeit. Während sie in der Rechtsmedizin ist, kann ihr nichts passieren.
„Das würden wir sehr gerne, Simon. Im Moment sieht es auch so aus, als wären wir hier. Ich muss jetzt leider los. Ich muss Sam erwischen. Ich … ich sage ihr, dass ich mit dir gesprochen und eure Einladung angenommen habe, ja?“
„Ist alles okay, Taylor? Du klingst so angespannt.“
„Großer Fall. Viel Stress. Du weißt ja, wie das ist.“
„Ja, das weiß ich. Halt die Ohren steif. Wir sehen uns Donnerstag, okay?“
Sie schluckte. „Klar. Gib den Zwillingen einen Kuss von mir.“
Sie legte auf und griff nach Baldwins Hand. Er drückte fest zu.
„Solltest du ihm nicht erzählen, was los ist? Simon ist ein kluger Kopf, der gerät nicht so schnell in Panik.“
„Wir wissen ja noch gar nicht, ob es überhaupt ein Problem gibt. Es hat keinen Zweck, ihm wegen nichts Angst einzujagen.“
„Du hast recht. Alles wird gut. Ich rufe in der Rechtsmedizin an und gucke, ob ich sie da auftreiben kann.“ Er klappte sein Handy auf.
Taylor kam ein fürchterlicher Gedanke. „Warte. Ich muss Simon und die Zwillinge bewachen lassen. Vielleicht hat er vor, sich an ihnen zu vergehen anstatt an Sam.“ Während sie das sagte, wusste sie, dass es nicht stimmte, aber es war besser, als nichts zu tun. Sie rief McKenzie auf dem Handy an.
„Hey, Taylor. Wir haben die Erlaubnis, die Daten von Colleens Blogteilnehmern einzusehen“, sagte er mit vor Erschöpfung rauer Stimme.
Sie schnitt ihm das Wort ab. „Du musst mir einen Gefallen tun, ja? Keine Fragen. Geh bitte zu Sams Haus und pass auf Simon und die Zwillinge auf. Lass niemanden in ihre Nähe. Absolut niemanden. Verstehst du mich?“
McKenzies Stimme klang sofort klarer. „Ja. Bist du okay?“
„Ja. Ich habe eine mögliche Drohung gegen Sam erhalten und möchte kein Risiko eingehen. Nimm zusätzliche Waffen mit, hol dir Verstärkung, aber vor allem sei diskret. Ich will nicht, dass Simon ausflippt, okay?“
„Er wird sicher misstrauisch werden. Wo ist Sam jetzt?“
„Das weiß ich noch nicht. Ich suche sie gerade. Sie hat heute die Nachtschicht gehabt. Ich fahre jetzt zu ihr. Fahr du einfach zu Simon und sieh zu, dass er und die Kinder in Sicherheit sind, okay?“
„Ich bin in zehn Minuten da. Halt mich auf dem Laufenden, was los ist, okay?“
„Mach ich. Danke, Renn.“
Baldwin legte auch gerade auf. „In der Rechtsmedizin geht nur der Anrufbeantworter ran.“
Taylor versuchte es noch einmal auf Sams Handy. Ohne Erfolg.
Sie schloss die Augen und atmete tief durch. Eine betäubende Ruhe überkam sie. Sie würde nicht zulassen, dass Sam irgendetwas zustieß. Nein. Auf keinen Fall. Das hier lag in ihrer Verantwortung. Es war ihr Job. Und die Gelegenheit, auf die sie gehofft hatte. Tief in ihrem Herzen wusste sie, dass er Sam nicht töten würde. Zumindest jetzt noch nicht. Erst wollte er Taylor quälen, wollte sie durch die ganze Stadt jagen in dem Versuch, ihre Freundin aufzutreiben. Er würde ihr nichts antun, bevor Taylor nicht da war, um zuzusehen. Er brauchte sie als Zuschauerin, wollte auf eine verquere Art ihre Anerkennung. Oder ihre Angst. Dass er sich Fitz auf der Reise geschnappt hatte, sollte nur ihre Aufmerksamkeit erregen. Das hier würde der finale Showdown.
Taylor würde jedoch nicht einfach so nach seiner Pfeife tanzen. Sie hatte einen Plan. Schon seit Tagen bereitete sie sich auf diesen Augenblick vor.
Sie drehte sich zu Baldwin um. „Wir müssen eine Fahndung nach Sams Wagen herausgeben. Kris hat das Kennzeichen in der Personalakte. Ich werde jetzt ins rechtsmedizinische Institut fahren und mit Kris reden. Bis ich einmal quer durch die Stadt gefahren bin, müsste sie auch da sein. Ich brauche Sams Terminplan, um zu sehen, was sie gestern Nacht gemacht hat. Ich werde jede ihrer Bewegungen nachvollziehen, und ich werde sie finden.“
„Ich komme mit dir.“
„Nein.“
„Was?“ Vor Schock ging seine Stimme eine Oktave höher.
„Nein. Du musst etwas anderes für mich erledigen. Ich muss wissen, warum Colleen in die ganze Sache verwickelt wurde. Ich nehme an, dass sie auch eines seiner Opfer sein soll.“
„Er hat sich Sam nur geschnappt, um dich hervorzulocken, Taylor. Aber das werde ich nicht zulassen.“
„Vergiss nicht, ich habe meine Jungs da draußen. Sie werden immer in meiner Nähe bleiben und mich beschützen. Sie sorgen dafür, dass mir nichts passiert. Das hast du doch selber mitbekommen.“
„Ja, habe ich, aber …“
„Honey, wir müssen uns aufteilen. Es gibt noch zu viele ungeklärte Fragen. Und uns läuft die Zeit davon.“
„Taylor …“
Sie unterbrach seinen Protest, indem sie ihn heiß und innig küsste. Es lag eine gewisse Wildheit in diesem Kuss – kein Bedauern, keine Zurückhaltung. Er erwiderte ihn, schlang seine Arme um sie und brach ihr beinahe die Rippen. Als sie sich schließlich von ihm löste, kam sein Atem in abgehackten Zügen. Sie wartete, bis ihr Herzschlag sich wieder normalisierte, und sagte dann nur ein Wort.
„Bitte.“
Er schaute ihr in die Augen und verstand, was sie damit sagte. Sie spürte, dass seine Arme sich ein kleines bisschen entspannten, dann ließ er sie ganz los.
„Okay, Taylor. Wir spielen das auf deine Art. Aber um Himmels willen, bitte gib acht.“
„Das werde ich.“ Und sie meinte es auch so. Sie würde sorgfältig zielen, bevor sie Ewan Copeland eine Kugel ins Gehirn schoss.
Taylor hatte jetzt einen durchgängigen Rhythmus gefunden – wählen, klingeln lassen, auflegen, wählen, klingeln lassen, auflegen. Vielleicht hatte Sam vergessen, das Handy anzuschalten. Vielleicht war der Akku leer. Vielleicht hatte sie das Telefon in ihrer Schreibtischschublade vergessen. Es gab viele, viele unschuldige Erklärungen dafür, warum sie nicht ranging. Aber Taylor wusste, dass keine davon stimmte. Mit ihrer Seele wusste sie, dass Ewan Copeland ihre beste Freundin hatte.
Sie hörte Baldwins BMW aus der Garage fahren. Sie hätte nicht gedacht, dass er ihrem Plan jemals zustimmen würde. Aber zum ersten und vermutlich letzten Mal in ihrer Beziehung hatte er kapituliert.
Sie brauchten den Schlüssel zu ihrem Waffensafe. Nach dem ersten Brief des Pretenders hatten sie sich einen Safe zugelegt, der Platz für vierzehn Waffen hatte. Der Pretender wusste, wo sie wohnte. Kannte ihr Zuhause. Den Ort, an dem sie am verletzlichsten war. Der Safe war voll bis zum Rand und mit zwei Schlössern gesichert. Eines mit Schlüssel, eines mit einer Zahlenkombination. Doppelte Abschreckung gegen Einbrecher. In dem Safe befanden sich viele wichtige Dinge, von denen sie nicht wollte, dass jemand zufällig darüber stolperte.
Den Schlüssel bewahrte sie in einem Aktenschrank in Baldwins Büro auf. Vermutlich war das nicht der sicherste Platz der Welt – denn obwohl der Schrank abschließbar war, machten sie davon nur selten Gebrauch. Aber es war praktisch, wenn man ihn mal schnell brauchte. So oft gingen sie sowieso nicht an den großen Safe. Er enthielt hauptsächlich ihre privaten Waffen sowie ein paar wichtige Dokumente.
Sie hatte sich bereits entschieden, die Ruger mitzunehmen und eine abgegriffene 9-mm-Beretta. Beide Waffen waren kürzlich gereinigt worden, und sie hatte sie zum einen auf der Messe ausprobiert, auf der sie sie gekauft hatte, sowie später dann noch einmal in dem Wald hinter ihrem Haus. Sie waren zuverlässig und konnten nach Gebrauch entsorgt werden. Im Schrank waren auch noch eine Walther PKK und ein paar anderen Pistolen, ganz zu schweigen von den Gewehren und Schrotflinten, aber diese Waffen waren alle entweder auf ihren oder Baldwins Namen registriert.
Für den unwahrscheinlichen Fall, dass sie den Pretender alleine erwischen würde – weit weg von allen und allem, wofür sie normalerweise stand – brauchte sie eine unregistrierte Waffe, die sie danach entsorgen konnte. Alle Polizisten, die sie kannten, besaßen aus den unterschiedlichsten Gründen eine solche Waffe. Taylor würde sie niemals im aktiven Dienst bei sich tragen.
Doch das hier war anders. In dieser Situation konnte oder wollte sie nicht mehr fair spielen. Sie würde einen Mann töten. Kaltblütig und geplant, und sie musste auf alles vorbereitet sein. Wenn sie es nicht wie Notwehr aussehen lassen könnte, müsste sie ihre Spuren verwischen. Sie fühlte sich jetzt schon besudelt, auf eine Weise beschmutzt, die sie noch nie erlebt hatte, aber darauf konnte sie jetzt keine Rücksicht nehmen. Dieser Mann, dieser Mörder, bedrohte sie, bedrohte ihre Familie. Wie ein tollwütiger Hund musste auch er zur Strecke gebracht werden.
Und sie war genau die richtige Frau für diese Aufgabe.
Baldwins Büro war makellos aufgeräumt. Er war ein wahres Organisationstalent. Sein Schreibtisch war blitzblank, ein kleiner Stapel Post lag in seinem Ausgangskorb, die Computermaus lag ordentlich auf dem Mousepad. Die Präzision, die Ordnung entlockte ihr ein Lächeln. Hier, in dieser Perfektion, zeigte sich die wahre Essenz seines Wesens, die Grundlage für seine ungewöhnlichen Fähigkeiten.
Genau wie Sam. Die beiden waren ihre Anker, ihr Leben. Wenn einem von ihnen etwas zustieße …
Das würde nicht geschehen. Dafür würde sie schon sorgen.
Der Schlüssel lag zwischen einigen von Baldwins Akten. Sie zog an der Schublade und stellte erstaunt fest, dass sie verschlossen war. Mit dem Schlüssel von ihrem Schlüsselbund schloss sie auf und wühlte zwischen den Papieren herum. Als sie die Schublade wieder schließen wollte, hörte sie etwas. Ein Stück Papier klemmte fest. Sie bewegte die Schublade vor und zurück. Ja, irgendetwas stand über und machte ein scharrendes Geräusch. Es war ganz hinten im Schrank, hinter den Akten, die sie gerade durchsucht hatte. Sie zog die Schublade so weit heraus, wie es ging. Irgendetwas klebte an der Oberseite des Schranks.
Sie zog an der losen Ecke, die das Geräusch verursacht hatte, und spürte, dass das Papier nachgab. Vorsichtig löste sie den Kleber und zog es heraus. Sie wollte es nicht kaputtmachen, weil sie instinktiv wusste, dass es nicht für ihre Augen bestimmt war.
Aber sie war neugierig und wusste, dass Baldwin es nie erfahren würde. Sollte ihr etwas zustoßen, wollte sie wenigstens vorher wissen, was so wichtig war, dass Baldwin es ihr verheimlichte.
Die letzte Ecke des Klebers löste sich. Sie zog das Papier aus der Schublade. Drehte es um. Spürte, wie ihr das Blut aus dem Kopf rauschte und ihr schwindelig wurde.
Es war das Foto eines Jungen. Vermutlich um die zwei Jahre alt. Er posierte in einem Fußballtrikot. Er hatte flammend rote Haare, eine Farbe, die mit den Jahren zu einem dunklen Bronzeton werden würde. Sein Gesicht war noch ganz rund, die Haut blass und weich. Auf den hohen Wangenknochen zeigten sich die ersten Sommersprossen. Doch seine Augen waren unverkennbar. Sie hatten das klare Grün des Waldes nach einem Frühlingsregen. Strahlend. Groß. Überwältigend.
Baldwins Augen.
Sie hatte keinen Zweifel dran, dass sie gerade ein Kind anschaute, das ihr Verlobter gezeugt hatte.
Ihr stockte der Atem. Sie hatte das Gefühl, gleich ohnmächtig zu werden.
Baldwin hatte einen Sohn.