21. KAPITEL

„Lies es mir noch mal vor.“

Der Kurier hatte das Päckchen von Wendy Heinz um halb acht Uhr morgens abgeliefert, und fünfzehn Minuten später waren Taylor und Baldwin schon unterwegs. Sie sollten gegen vierzehn Uhr Ortszeit in Forest City ankommen, und Baldwin war ziemlich sicher, noch zwanzig Minuten gutzumachen, wenn sie ihr aktuelles Tempo beibehalten könnten. Er saß am Steuer, und Taylor las ihm derweil vor, was Wendy ihnen alles geschickt hatte. Sie waren kurz hinter Knoxville, der Himmel zeigte ein stürmisches Grau. Der Regen aus Westen war ihnen auf den Fersen – ein Regen, der sich in den Bergen North Carolinas über Nacht in Schnee verwandeln würde. Der Blue Ridge zog für sie eine zu seinem Namen passende Show ab, der kobaltblaue Horizont wirkte verschwommen und formlos.

Taylor blätterte zum Anfang der Akte zurück und fing noch einmal von vorne an.

„Ewan wurde 1980 als zweiter von drei Jungen geboren. Seine Mutter hieß Elizabeth, genannt Betty, der Vater Roger. Betty stammte aus Forest City. Ihrem Dad, Edward Biggs, gehörte ein Barbecue-Restaurant, das nach seinem Tod in ihren Besitz überging. Damals war sie neunzehn. 1977 traf sie Roger Copeland, der erfolgreich als dritter Baseman für die Richmond Braves spielte, dem Nachwuchsteam aus Atlanta. Sie heirateten und bekamen 1978 ihr erstes Kind, einen Sohn namens Edward, benannt nach ihrem Vater. 1980 folgte Ewan und 1982 Errol. Weißt du, das ist seltsam. Nach dem Prozess gibt es keinerlei Informationen mehr über den jüngsten Bruder. Ich frage mich, wo er wohl ist?“

„Wir werden uns umhören müssen. Ich bin sicher, irgendjemand weiß, was aus ihm geworden ist.“

„Das macht mich ganz kribbelig. Er gehört zu jemandem, Baldwin. Er hat eine Vergangenheit, ein Leben.“

„Natürlich hat er das. Das haben wir alle, Honey. Wir erfahren ja nur von ihnen, wenn diese Vergangenheit sich zu einer brodelnden Masse aus Hass verwandelt hat und sie verzweifelt oder voller Lust um sich schlagen. Aber sie alle kommen irgendwo her. Ob sie nun ein Produkt ihrer Erziehung sind oder damit geboren wurden, an irgendeinem Punkt in ihrem Leben waren auch sie mal unschuldig.“

Sie schüttelte den Kopf, sodass ihr Pferdeschwanz hin und her schwang, und schaute aus dem Fenster. „Ewan Copeland war niemals unschuldig.“

Baldwin sah das genauso, sagte aber nichts. Natur oder Erziehung, die uralte Frage. Wenn Ewan das Kind einer nicht kranken Mutter gewesen wäre, hätte er sich dann zu einem normalen, gesunden Mann entwickelt? Vielleicht sogar Baseball gespielt wie sein Dad?

Taylor war still geworden. Er streckte eine Hand aus und legte sie auf ihre. „Einen Penny für deine Gedanken.“

„So billig sind die nicht zu haben“, erwiderte sie und warf ihm ein Lächeln zu.

„Nein, ehrlich jetzt, was denkst du gerade?“

„Ich brauche deine FBI-Jungs nicht, okay? Ich habe ein paar von Prices Männern engagiert. Sie kleben an mir wie eine Klette.“

Verdammte Frau. So etwas hatte er sich schon gedacht. Die blaue Limousine vier Wagen hinter ihnen folgte ihnen schon seit Nashville. Und sie machten sich keine Mühe, sich unauffällig zu verhalten. Taylor wusste, dass er sich deswegen nicht mit ihr streiten würde, denn er vertraute Price genauso sehr wie seinen eigenen Leuten. Hinterhältige, manipulative …

„Wirklich? Danke, dass du es mir sagst.“

„Kein Streit?“

„Kein Streit.“

„Wow. Okay. Dann frage ich mich jetzt, wann du mir erzählen wirst, was in Quantico passiert ist.“

„Ich habe dir doch schon gesagt …“

„Ich weiß, Baldwin.“

Er lenkte den Wagen um eine besonders enge Kurve und packte das Lenkrad fester. Nach dieser Unterhaltung hätten sich seine Fingerabdrücke bestimmt für immer in dem grauen Leder verewigt.

Im Radio spielten sie „Angel“ von Sarah McLachlan. Passende Begleitmusik für diesen Trip, dachte er. Das hier war ihre zweite Chance, der große Durchbruch. Die Spur, die zur Lösung des Pretender-Falls führen könnte.

„Was genau weißt du?“, hakte er schließlich vorsichtig nach.

Taylor schaltete das Radio aus. „Oh bitte. Hör auf, Spielchen mit mir zu spielen. Ich habe die Nachricht von der Grafologin gesehen. Würdest du mir bitte sagen, wieso ich von einer völlig Fremden erfahren muss, dass du suspendiert wurdest? Und warum wissen vollkommen Fremde etwas von dir, das ich nicht weiß?“

Er stieß einen erleichterten Seufzer aus. Die Suspendierung konnte er erklären. Charlotte und den Jungen hingegen … dafür war er einfach noch nicht bereit.

„Ich habe das nicht vor dir geheim gehalten. Ich wollte dich nur nicht damit belasten. Du hast sowieso schon viel zu viel auf dem Zettel. Das ist nur vorübergehend. Garrett arbeitet bereits daran, mich wieder in den aktiven Dienst zu holen.

„Spuck’s aus, was genau hast du angestellt, um suspendiert zu werden? Du bist ihr Lieblingsagent.“

„Ha. Das wüsste ich aber. Du bist nicht böse?“

„Ich bin nur ein wenig überrascht, dass du glaubtest, das nicht mit mir teilen zu können.“

Das war kein Nein. Er warf ihr einen Blick zu. Sie schaute ihn mit diesem direkten Blick aus ihren verschiedenfarbigen Augen an, der zeigte, dass sie ernsthaft verwirrt und ernsthaft verletzt war. Diese verärgerte Haltung hielt drei Stunden an; er fühlte sich fürchterlich. Er hätte es ihr von Anfang an erzählen müssen. Das sagte er ihr auch.

„Taylor, ich vertraute dir mein Leben an, das weißt du. Diese Suspendierung ist nur vorübergehend. Ein Machtspielchen. Es gibt da diesen Agent namens Tucker, der es auf mich abgesehen hat. Das ist eine lange Geschichte.“

Sie zeigte auf die Straße, die sich meilenweit vor ihnen erstreckte. „Ich habe Zeit.“

Es war schon schlimm genug gewesen, den Tod seiner Agents bei der Anhörung vor seinem Widersacher noch einmal zu durchleben. Ihn jedoch der Frau zu erklären, die er liebte … Darauf war er nicht vorbereitet, doch er konnte es nicht länger aufschieben. Sein Leben mit Taylor war zu wichtig, und es war dumm genug gewesen, dass er überhaupt so lange gewartet hatte. Sie war eine toughe Frau, sie konnte mit der Wahrheit umgehen. Zumindest mit einem Teil davon.

Also fing er an zu erzählen. Er legte ihr den Harold-Arlen-Fall in allen Einzelheiten dar. Wie Arlen sie alle mit dem Tunnel in seinem Keller hinters Licht geführt hatte, wie er sich mit einem anderen Pädophilen zusammengetan und mit den Leichen der kleinen Mädchen Verstecken gespielt hatte. Wie Charlotte Douglas beschlossen hatte, Beweise an den Tatort zu schmuggeln. Dass sie Baldwin davon erzählt hatte und er es dummerweise für sich behalten hatte. Wie diese Unterlassung ihn nun, sechs Jahre später, vor den Untersuchungsausschuss gebracht hatte.

Taylor hörte aufmerksam zu. Sie stellte keine Fragen, sondern ließ ihn sich alles von der Seele reden. Sie sagte nichts, als er mit belegter Stimme von der Schießerei erzählte, an deren Ende drei Agents und Harold Arlen tot waren. Sein siebtes junges Opfer hatte überlebt. Für Baldwin war das nur ein schwacher Trost, aber immerhin ein Trost.

Bisher hatte er ihr noch nie die ganze Geschichte erzählt. Sie kannte Bruchstücke, aber die ganze Wahrheit, dass niemand an diesem Tag hätte sterben müssen, wenn er aufmerksamer gewesen wäre, hatte er immer zurückgehalten. Genau wie die Rolle, die Charlotte in dem Ganzen gespielt hatte.

Taylor schwieg einen Moment, dann streckte sie ihren Arm aus und nahm Baldwins Hand. Sie sagte nichts, das war auch nicht nötig. Ihre Vergebung floss durch die Berührung hindurch, und er fühlte sich elendig. Er hatte ihre Vergebung nicht verdient. Nicht, bevor sie nicht die ganze Wahrheit kannte und alle Karten auf dem Tisch lagen.

Nach ein paar Minuten ergriff sie das Wort. „Es war nicht deine Schuld, das weißt du. Also was ist da noch, Honey? Ich kenne dich gut genug, um zu wissen, dass du etwas vor mir verbirgst. Sag es mir. Du kannst mir alles erzählen, und ich werde dich immer lieben. Immer.“

Sie kannte ihn wirklich zu gut. Und vielleicht hatte sie recht. Vielleicht war es an der Zeit, reinen Tisch zu machen. Er formte die Worte in seinem Kopf, probierte, wie sie passten. Ich habe einen Sohn. Und Charlotte war seine Mutter. Er atmete tief durch. Setzte an, es ihr zu erzählen. Doch dann klingelte sein Handy, und der Moment war vorbei.

„Merk dir, wo wir waren“, sagte er und nahm den Anruf mit einem knappen „Ja“ an.

„Dr. Baldwin? Hier spricht Buddy Morgan. Ich bin der Polizeichef hier in Forest City. Wenn ich richtig informiert bin, sind Sie gerade auf dem Weg zu uns?“

„Hallo, Chief Morgan. Schön, von Ihnen zu hören. Wir haben wieder Handyempfang, also gehe ich davon aus, dass es nicht mehr weit ist. Ich schätze, wir sollten so gegen vierzehn Uhr bei Ihnen sein.“

„Haben Sie dann schon gegessen?“

Baldwin lachte. „Wenn ich ehrlich bin, nein. Wir sind heute ganz früh am Morgen aufgebrochen.“

„Dann lassen Sie uns im Smith’s Drugs treffen. Geht auf meine Rechnung. Da können wir essen und uns dabei unterhalten. Ich erzähle Ihnen alles über die Copelands. Es ist eine lange Geschichte. Ich hoffe, Sie haben ein wenig Zeit mitgebracht.“

„Haben wir. Ich habe ein Zimmer im Holiday Inn reserviert – wir bleiben über Nacht.“

„Gut. Dann sehen wir uns gleich.“

Er legte auf.

„Der Polizeichef lädt uns zum Lunch ein.“

„Das liebe ich an Kleinstädten“, sagte Taylor.

„Taylor, ich …“

„Ist okay. Wir haben morgen eine sechsstündige Rückfahrt. Du kannst mir den Rest auf dem Heimweg erzählen.“

Während der zweiten Hälfte der Fahrt hatte keiner von ihnen ein Handysignal gehabt. Die Funkabdeckung in den Bergen North Carolinas war eine Katastrophe. Jetzt, wo sie wieder Empfang hatten, piepten ihre beiden Handys und signalisierten die ganzen verpassten Anrufe. Sowohl Taylor als auch Baldwin kümmerten sich um ihre jeweiligen Pflichten, und Baldwin musste sich selbst gegenüber zugeben, dass er erleichtert war. Allerdings wusste er auch, dass ihm nur ein kurzfristiger Aufschub gewährt worden war und die Wahrheit demnächst ans Licht kommen würde, ob er das nun wollte oder nicht.

Vergebung war ein zartes Pflänzchen. Er hoffte um ihrer beider willen, dass Taylor sie gewähren konnte.