42. KAPITEL
Colleen war langsam richtig genervt. Flynn war quengelig und wollte seine Pfannkuchen mit Gesicht, aber Detective Ross beharrte darauf, dass sie das CJC auf keinen Fall verlassen dürften. Sie mussten sich mit Essen von McDonald’s zufriedengeben, das ihnen ein Streifenpolizist vorbeibrachte. Es bestand zwar aus Pfannkuchen und Würstchen, aber Flynn verlangte so lautstark nach seinem Smiley-Gesicht, dass es inzwischen jeder in der Mordkommission mitbekommen hatte.
Ohne ihren Computer fühlte Colleen sich verloren. Ross hatte ihn ihr weggenommen, als sie das erste Mal versucht hatte, zu gehen. Das war, bevor er sie und Flynn in einem Verhörraum eingesperrt hatte. Sie stand nicht unter Arrest, aber sie durfte auch nicht gehen. Sie konnte kaum glauben, dass man hier wirklich dachte, sie hätte etwas mit dem verrückten Spiel dieses Mörders zu tun.
Ewan Copeland.
Bei dem Namen standen ihr alle Haare auf den Armen zu Berge. Solange sie behauptete, ihn nicht zu kennen, solange sie sich dumm stellte, war alles gut. Sie würden ihn fassen. Und dann könnten sie mit Flynn wieder in ihr normales Leben zurückkehren.
Sie versuchte, ihren wütenden Sohn zu beruhigen. Mehr gab es für sie nicht zu tun. Sie konzentrierte sich auf ihre Atemzüge. Tiefe, ruhige Yoga-Atmung. Vier Takte lang einatmen, vier Takte lang den Atem anhalten, vier Takte ausatmen, vier Takte nicht atmen. Sie machte daraus ein Spiel für Flynn. Guck mal, was Mommy macht, Baby. Nach fünf Runden fing er an, sich zu entspannen. Nach dem achten Mal schlief er an ihre Schulter gelehnt ein. Sein weiches Haar war ganz schweißverklebt. Sie hielt ihn eng gegen ihre Wange gedrückt, spürte, wie sein kleiner Körper ganz schlaff und warm wurde, während er immer tiefer in den Schlaf sank. Sie wünschte, sie könnte auch wieder so alt sein wie er und es ihm gleichtun.
Es klopfte leise, dann wurde die Tür geöffnet und Lincoln Ross stand im Türrahmen. Um seine Lippen spielte ein sehnsüchtiges Lächeln. Bei seinem Anblick setzte ihr Herz einen Schlag aus. Sie war verrückt, stand kurz davor, durchzudrehen, aber als sein Lächeln immer einnehmender wurde, konnte sie nicht anders, als es zu erwidern.
„Die Pfannkuchen haben gewirkt, wie ich sehe“, sagte er.
„Ich glaube, ich habe ihn hypnotisiert“, erwiderte sie, und er unterdrückte ein Lachen.
„Mich anscheinend auch. Ich habe mich bei der Arbeit noch nie so ruhig gefühlt.“
Sie erkannte, dass er sie beobachtet und gewartet hatte, bis Flynn ruhig war, bevor er zu ihr gekommen war. Dafür war sie ihm sehr dankbar. Jetzt betrat Ross den Raum und schloss die Tür leise hinter sich.
„Ich muss mit Ihnen reden, Colleen. Schläft er wirklich?“
„Tief und fest. Was ist denn? Können wir jetzt gehen?“
Lincoln setzte sich leise auf den Stuhl ihr gegenüber.
„Noch nicht. Colleen …“ Er atmete tief durch. Ihre Brust wurde mit einem Mal ganz eng. Was auch immer jetzt kam, es würde nichts Gutes sein.
Sie wappnete sich innerlich. Die schlimmste Nachricht, die eine Frau erhalten konnte, hatte sie bereits bekommen – dass ihr Ehemann weit vor seiner Zeit gestorben war. Das Einzige, was noch schlimmer sein könnte, wäre etwas mit Flynn, aber sie hielt ihren Sohn sicher in den Armen. Sonst gab es niemanden, um den sie sich sorgen könnte. Alles würde wieder gut werden.
„Was ist, Detective?“
Er zupfte einen Moment an seinen Haaren herum.
„Colleen, wo sind Sie aufgewachsen?“
„In Blacksburg, Virginia. Wieso?“
Seine braunen Augen ruhten auf ihr, und sie sah, dass seine Brauen ganz kurz zuckten.
„Warum?“, wiederholte sie.
„Waren Sie je in Forest City, North Carolina?“
Nein. Nein, nein, nein, nein, nein, nein, nein, nein.
„Ich glaube nicht“, sagte sie.
„Colleen“, setzte er an. Sie zog Flynn enger an sich und vergrub ihr Gesicht an seinem Hals. Panik stieg in ihr auf.
„Colleen“, sagte Lincoln erneut. „Forest City. Erinnern Sie sich an jemanden namens Emma Brighton?“
Sie wissen es nicht. Sie wissen es nicht. Bitte, Gott, mach, dass sie es nicht wissen.
„Ich war nie in Forest City, North Carolina, Detective.“ Sie hob trotzig ihr Kinn und schaute Lincoln direkt in die Augen.
„Ich habe Ihre Fingerabdrücke überprüft, Colleen. Ich weiß, dass Sie Emma Brighton sind. Und ich weiß, was er Ihnen angetan hat.“
Der Name. Er brachte sofort sklavische Erinnerungen mit sich, die sie so tief vergraben glaubte, dass sie sich selber davon überzeugt hatte, es wäre jemand anderem passiert. Jemandem, den sie nicht kannte. Eine Geschichte, von der sie gehört hatte, ein grauenhaftes Gerücht, aber eines, das von jemand anderem handelte. So wie die Geschichten, mit denen sie jeden Tag auf Felon E zu tun hatte, vergewaltigte Frauen, sterbende Kinder. Die Menschen, für die sie kämpfte, die Gerechtigkeit verdient hatten.
Der Pfannkuchen stieg ihr in der Kehle hoch. Detective Ross schaute sie immer noch unverwandt an. Wie hatte sie ihn nur attraktiv finden können? Für den Rest ihres Lebens würde sie vor sich sehen, wie diese Lippen den Namen bildeten, wie seine rosafarbene Zunge dabei seine Zähne berührte. Auf, zu, auf, zu. Emma. Emma. Emma.
Sie weinte. Wie war das passiert?
„Colleen? Geht es Ihnen gut? Es tut mir leid, dass ich Sie damit so unvorbereitet konfrontiere. Aber wir müssen es einfach wissen. Ihre Reaktion, als Sie den Namen Copeland gehört haben …“
„Wagen Sie es ja nicht, seinen Namen in meiner Gegenwart auszusprechen.“
Sie sprang auf die Füße.
„Ich gehe. Jetzt. Sofort.“
Flynn fing an zu weinen. Es war ihr egal. Sie drückte ihn nur fester an sich und stürzte zur Tür. Der Detective folgte ihr, aber sie war schneller. Sie war bereits draußen und den Flur hinunter. Sie rannte blindlings los, die Haare fielen ihr in die Augen und nahmen ihr die Sicht.
Seit Jahren hatte sie nicht mehr daran gedacht. Sie hatte umfangreiche Therapien hinter sich, hatte mit einem System namens EMDR gearbeitet – Eye Movement Desensitization and Reprocessing, eine Verhaltenstherapie, die die Nervenbahnen in ihrem Gehirn neu ausrichtete, damit sie mit ihrem Leben weitermachen konnte. Den verkrüppelten Teil ihrer Seele hatte sie auf dem Büroboden ihrer Therapeutin zurückgelassen, mit einem Fuß unter die Couch geschoben, für immer hinter sich gelassen. EMDR ermöglichte es ihr, das Wort Vergewaltigung zu hören, ohne zusammenzuzucken, ohne grauenhafte Erinnerungen an das, was in jener Nacht geschehen war, in sich aufsteigen zu lassen. Es hatte ihr einen neuen Namen gegeben, einen, der nicht von Gewalt befleckt war. Sie hatte neu angefangen, und niemand hatte davon gewusst. Niemand. Nicht einmal Tommy.
Mit zwei Wörtern hatte der Mistkerl von einem Detective ihre jahrelange Arbeit zunichte gemacht.
Ihre Arme entspannten sich. Da war die Tür.
Emma. Emma Verdammt noch mal vergewaltigt bis sie auf den Teppich blutete ihr Geschlechtsteil auseinandergerissen vierzig Schnitte auf dem Bauch mit dem schärfsten Messer, dass er finden konnte, ihre Jungfräulichkeit ihr Geschlecht ihr Blut lief über den Teppich der Fahrer des Krankenwagens schrie der mitleidige Blick ihrer zugekifften Mutter die ganze Welt wusste was er ihr angetan hatte und sie würde dem Schmerz den Schreien dem Blut niemals entkommen Brighton.
„Haltet sie auf“, hörte sie den Detective rufen, doch die Gesichter, die sich zu ihr umdrehten, schauten erschrocken, und mehr als diese kurze Verzögerung brauchte sie nicht. Sie lief aus der Tür und eilte über die Straße. Sie rannte die Rampe zum Parkhaus hinunter. Es fiel ihr nicht einmal auf, dass sie Flynn an der Tür des CJC hatte fallen lassen.
Sie hatte keine Ahnung, wer Flynn war.
Sie wusste nur, dass sie wegmusste. Raus hier. Sofort.
Das Auto. Da vorne. Schlüssel … sie tastete ihre Taschen ab, da war er. Sie schloss auf. Öffnete die Tür. Sank auf den Sitz.
Emma Brighton.
Das Gesicht aus ihrer Vergangenheit schwebte an die Oberfläche. Das süße Lächeln, die lockigen Haare. Ein fröhliches Mädchen.
Emma Brighton, bevor sie beschmutzt und entehrt worden war.
Colleen spürte das Messer nicht, das ihr durch die Kehle schnitt. Sie spürte gar nichts mehr.