57. KAPITEL
Copeland war wieder weit genug zu Sinnen gekommen, um Angst zu zeigen. Für einen Moment trafen sich ihre Blicke, und Taylor sah den Schmerz und die Furcht in seinen Augen. Perfekt. Genau, wie sie es sich erträumt hatte.
Er war weit genug lahmgelegt, dass sie sich traute, Sam hier herauszubringen. Ohne den Blick von ihm zu wenden, fragte sie: „Bist du in Ordnung, Sam? Kannst du gehen?“
Sam weinte. „Ich weiß es nicht. Gott sei Dank, Taylor, dass du da bist. Ich dachte, du würdest nie mehr kommen.“
„Hat er dich verletzt?“
„Ich habe das Baby verloren.“
Die leise, gebrochene Stimme ihrer besten Freundin riss Taylor beinahe entzwei. Sam war die Starke von ihnen, die Furchtlose, die Gute. Taylors wegen befand sie sich in dieser Situation. Das würde sie sich nie verzeihen.
Ein weiterer Toter durch Copelands Hand. Taylor musste sich zwingen, nicht den Abzug zu drücken. Noch nicht. Sie konnte nicht zulassen, dass Sam ihr dabei zusah. Sie musste sie aus dem Raum schaffen.
Sams Hände waren an die Rückenlehne des Stuhls gefesselt. Ohne hinzusehen, benutzte Taylor ihren Schlüssel und öffnete die Handschellen ein wenig ungelenk mit ihrer linken Hand, während sie die Waffe immer noch auf Copeland gerichtet hielt. Er beobachtete sie misstrauisch. In seinem Blick lag keine Spur von Selbstvertrauen mehr.
Sie half Sam auf die Füße. Sam schwankte ein wenig, dann fand sie ihr Gleichgewicht. Sie klammerte sich so fest an Taylors Arm, dass Taylor spürte, wie sich ein blauer Fleck bildete.
Sie half ihr durch den Raum, wobei sie rückwärts ging und die Pistole stets ruhig auf Copeland gerichtet hielt.
„Alles wird gut, Liebes, das verspreche ich. Geh die Hintertreppe hinunter. Dort gibt es einen kurzen Tunnel, durch den du nach draußen kommst. Er führt in den Garten. Baldwin sollte auf dem Weg sein. Die Haustür ist verschlossen, also zeig ihm den Hintereingang. Geh. Geh jetzt.“
„Danke, Taylor“, sagte Sam leise. Mit unsicherem Schritt nahm sie die erste Stufe. Sie schaute nicht zurück; ihre Hände hielten ihren blutigen Bauch.
Taylor schloss die Tür hinter sich. Jetzt waren sie allein. Sie hörte die ersten Sirenen. Copeland hörte sie auch; sein Mund verzog sich zu einem blutigen Grinsen.
„Hier kommt dein Freund.“
„Halt die Klappe. Du sprichst nicht mit mir. Du hörst mir zu.“
„Aber willst du nicht wissen, warum ich dich ausgewählt habe?“
Sie zögerte, was er als Erlaubnis deutete, weiterzusprechen. Er spuckte einen großen blutigen Klumpen in Richtung ihrer Stiefel, doch sie rührte sich nicht.
„Du hast mich ausgelacht.“
„Ich habe dich nie zuvor in meinem Leben getroffen.“
„Das stimmt nicht. Du hast mich rausgewunken. Direkt, nachdem ich Tommy Keck getötet habe. Alle auf dem Highway sollten nach dem Schützen Ausschau halten, weißt du noch? Ich hatte bereits das Fahrzeug gewechselt, und du hattest keine Hoffnung, mich zu finden. Aber du hast mich rausgewunken und befragt, ganz das gute Mädchen, das du bist. Ich habe dich zum Essen eingeladen. Und du hast mich ausgelacht, du Schlampe.“
„Du hast so viele Menschen verletzt, so viele getötet, weil ich nicht mit dir ausgehen wollte? Du bist verrückt.“
„Nein, es ging nicht um das Essen. Es war die Art, wie du mich ausgelacht hast, als wäre ich ein Stück Hundescheiße, dass an deinem Stiefel klebt. Als wäre ich nichts. Als verdiente ich nicht einmal, mit dir zu reden. Seit vier Jahren warte ich auf diesen Augenblick. Auf eine Chance, dir zu sagen, dass das alles deine Schuld ist. Du hast sie alle umgebracht. Du hast das Baby aus dem Leib deiner besten Freundin geholt. Du hast deiner Vaterfigur das Augenlicht genommen. All diese Dinge hast du dir selber angetan, Taylor. Wenn du nur ein kleines bisschen höflicher gewesen wärst, ein klein wenig netter, wäre ich meiner Wege gegangen und nie wieder hierher zurückgekommen.“
Sie hörte Stimmen auf der Auffahrt. Die Verstärkung war da. Sie musste das hier schnell erledigen. Mit einem Schritt war sie beim Fenster, wobei sie ein Auge immer noch auf Copeland gerichtet hatte. Sie schaute kurz hinaus auf die Auffahrt und hoffte, dass niemand den Schuss hören würde.
Sie hatte ihren Kopf nur für den Bruchteil einer Sekunde zur Seite gedreht, doch das reichte. Copeland griff sie von hinten an und boxte ihr in den unteren Rücken. Sie unterdrückte einen Schrei, wirbelte herum und trat zu. Sie spürte, wie ihr Stiefel traf, hörte das ekelhafte Knacken, als sein Unterarm brach.
Er stöhnte vor Schmerzen auf und sackte seitlich auf dem Fußboden zusammen. Sie trat ihm erneut hart in die Rippen und hörte, wie aller Atem in einem Rutsch aus seinen Lungen wich, während weitere Knochen nachgaben.
Sie empfand nichts als die pure Energie ihres Zorns. Er machte sie stark, allmächtig, und verankerte sie doch auf grausame Weise in diesem Moment. Sie musste aufhören. Ihr Atem kam in abgehackten Zügen, der Schleier vor ihren Augen lüftete sich. Sie musste alle Selbstbeherrschung aufbringen, um ihre Fäuste zur Ruhe zu bringen, um aufzuhören, ihn zu schlagen.
Die ganze Energie zurückzunehmen war an diesem Punkt beinahe unmöglich. Sie stolperte ein paar Schritte rückwärts, beugte sich vor, um Luft zu holen. Nach einer Weile richtete sie sich auf und zog ein Winchester-Hohlspitzgeschoss aus ihrer Hosentasche. Zwei große Schritte, und sie war wieder bei ihm, stand breitbeinig über ihm, die Zähne zusammengebissen, um sich zurückzuhalten, ihm nicht mit dem Stiefel voll ins Gesicht zu treten. Er schaute nicht auf, sondern hielt den Blick auf den Boden gesenkt. Er war geschlagen.
Geh, Taylor. Geh weg. Er ist besiegt.
Doch es reichte noch nicht.
Sie konnte nicht anders – sie zischte ihn an und hielt ihm mit der linken Hand die Kugel hin. „Siehst du das, du Mistkerl? Das ist die Kugel, die du mir geschickt hast. Ich trage sie bei mir und warte nur auf eine Chance, sie dir ins Gehirn zu jagen. Und dieser Moment ist jetzt gekommen. Der große böse Pretender liegt wimmernd auf dem staubigen Dachboden in dem Haus des Mannes, der ihn erschaffen hat. Nicht mal ein Mörder konntest du alleine werden. Du musstest dir von fremden Leuten helfen lassen. Du bist nichts. Und das ist das Ende deiner Geschichte. Ein verdammt beschissenes Ende, oder?“
Taylor ließ das Magazin aus ihrer Pistole in ihre Hand fallen und holte die Kugel aus der Kammer. Sie drückte das Winchester-Geschoss ins Magazin. Steckte das Magazin wieder zurück in die Glock. Zog den Schlitten nach hinten und lächelte, als sie hörte, wie die Kugel in die Kammer glitt. Troy, Barclay, Ewan – wie zum Teufel er auch immer hieß – schaute ihr nicht in die Augen, sondern kauerte auf dem kalten Boden.
Ihr Zeitfenster schloss sich. Noch waren sie alleine. Aber nicht mehr lange. Es war niemand zu sehen. Niemand würde davon erfahren. Er hatte sie angegriffen. Sie hatte um ihr Leben gekämpft, die Waffe in der Hand. Sie war bei dem Kampf losgegangen. Sie könnte es tun.
Guter Gott, sie könnte den Abzug drücken und diesem Leben ein Ende setzen. Sie wollte es so sehr, dass sie es förmlich schmeckte. Der Tod lag metallisch auf ihrer Zunge.
Die Waffe zitterte kein einziges Mal.
„Steh auf“, sagte sie.
Er rappelte sich in eine sitzende Position auf, dann zog er sich an der Wand hoch, bis er stand.
Sie beobachtete ihn genau. Es steckte immer noch ein Funken Kampfgeist in ihm. Er schaute sie an, versuchte, sein gebrochenes Bein so wenig wie möglich zu belasten.
Endlich sprach er. Trotz der offensichtlichen Schmerzen war seine Stimme kräftig, trotzend. „Nach allem, was wir durchgemacht haben, willst du mich einfach umbringen.“
„Hast du einen anderen Vorschlag?“
„Du könntest mich laufen lassen. Ich hasse die Vorstellung, dass unser kleiner Tanz schon zu Ende ist. Du warst eine würdige Gegnerin. Es ging immer nur um dich. Wenn ich dich nicht haben kann, nehme ich den Tod gerne in Kauf.“
„Du wirst mich niemals haben. Aber verrate mir eins.“
„Alles.“
„Was hatte es mit den Nachahmungstätern auf sich?“
„Oh, die. Ich mag es, Zuschauer zu haben. Ich hatte ihnen versprochen, ich würde dich auf die Art des Mörders töten, den sie nachgemacht haben. Der Boston Strangler führte mit weitem Abstand. Er hätte die Belohnung seines Lebens bekommen – er hätte zusehen dürfen, wie ich dich erst ficke und dann erdrossle. Zu schade. Was für eine Schande, dass wir das nicht zu einem angemessenen Ende haben bringen können.“
Sie krümmte ihren Finger um den Abzug. Drückte die Fingerkuppe gegen das kalte Metall. Nur ein klein wenig mehr Druck.
„Ja“, sagte sie. „Es ist wirklich schade, dass er nicht hier ist, um zu sehen, wie dein mieses kleines Leben endet. Ich muss nur den Abzug drücken. Die Kugel gehört entweder dir oder mir. Und ich habe das Gefühl, dass ich noch ein paar Dinge auf meiner To-do-Liste habe.“
Aufs Herz zielen, direkter Schuss.
„Lebe wohl, Ewan.“
Mehr Druck. Der Abzug begann sich langsam nach hinten zu bewegen. Die Stimme sprach erneut zu ihr.
Das ist Mord. Es ist Mord, und das weißt du. Was tust du da, Taylor? Das bist du nicht.
Halt den Mund. Halt den Mund, halt den Mund, halt den Mund. Das ist Gerechtigkeit.
Wie viele Stücke deiner Seele kannst du noch abstoßen, bevor du nicht mehr lebensfähig bist, Taylor? Jede Kugel, jedes Leben, nimmt dir ein Stück deiner Seele. Er ist hilflos. Er kann nicht weglaufen. Das hier ist falsch. Das ist nicht die Art, wie man so etwas löst. Das ist der falsche Weg.
„Worauf wartest du?“, fragte Ewan. „Mach schon. Mir wird das hier langsam langweilig. Tu es, Taylor. Tu es!“
Sie spürte die Wut in sich hochkochen, den fiebrigen Wunsch, dem hier ein Ende zu setzen – ihm ein Ende zu setzen. All die Sorgen, die Schmerzen und das Leid zu beenden, das er verursacht hatte. Nicht nur für sich selber, sondern auch für Fitz und Susie, für Sam, für deren ungeborenes Kind, für die Fremden, die durch die Hände dieses Mannes gestorben waren.
Auge um Auge.
Sie erfasste die Bewegung beinahe noch, bevor er sie ausführte. Er stürzte sich auf sie, aber sie trat nur kühl beiseite und ließ ihn das Gleichgewicht verlieren. Er fiel hart auf den Zementboden und hielt sich stöhnend sein Bein.
„Mach schon, du Schlampe“, zischte er. „Bring es hinter dich.“
Sie nahm den Druck vom Abzug.
Eine ungeahnte Ruhe überkam sie.
„Nein. Das bist du nicht wert“, sagte sie und steckte die Glock ein. Sie hörte ein Geräusch und drehte den Kopf in Richtung Treppe.
„Das war der letzte Fehler, den du je gemacht hast, Lieutenant.“
Sie hörte das Klicken und wirbelte in dem Moment herum, als Baldwin durch die Tür stürmte. Sie sah, wie Ewan einen Arm hob. Sofort war ihre Waffe wieder in ihrer Hand, und die Kugeln flogen.
Sie wollte sich nach links bewegen, doch ihre Beine gehorchten ihr nicht.
Schmerzen. Unfassbare Schmerzen. Brennend. Sie wollte nach ihrem Kopf greifen, doch ihre Hand bewegte sich nicht.
Tränen. Sie weinte jetzt. Der Zement, hart und kalt an ihrer Wange.
Dann war nichts mehr.