7. KAPITEL
Outer Banks, North Carolina
Taylor wurde innerlich ganz kalt. Kein Wunder, dass Fitz ihr gegenüber so zurückhaltend gewesen war. Er musste gespürt haben, dass mit Sansom und ihren Handlangern irgendetwas nicht stimmte.
Oh Gott! War Fitz in Sicherheit? Würde der Pretender Fitz gehen lassen, nur um ihn danach wieder in seine Gewalt zu bringen? Sie atmete tief durch. Nein. Der Helikopter, der ihn mitgenommen hatte, trug das Logo des Duke Medical Center. Auf keinen Fall hatte der Pretender etwas damit zu tun.
Doch sie war es leid, Risiken einzugehen.
„Nur um sicherzugehen, müssen wir den Helikopter nach Nashville umleiten.“
Baldwin schaute sie einen Moment lang an. „Da gebe ich dir recht.“
Er tätigte einen Anruf. Taylor hörte die Stimme von Charlaine Shultz, einer von Baldwins führenden Profilerinnen, am anderen Ende. Sie versprach, sich sofort darum zu kümmern. Baldwin steckte sein Handy wieder weg.
Das Heulen von Sirenen kam immer näher, und über ihnen wirbelte der Hubschrauber des SBI den Schnee auf. Die Kavallerie war da.
Baldwin berührte Taylor am Arm. „Komm, schauen wir uns noch einmal um. In wenigen Minuten wird es hier nur so vor Agents wimmeln, und wir müssen einen Lagebericht abgeben.“
Wie immer dachte Baldwin voraus. Taylor war nicht in der Stimmung, innezuhalten, ihr Wissen mit einem anderen Officer zu teilen und ruhig einen Lagebericht abzugeben. Nein, sie wollte dem verdammten Wagen nachjagen. Aber sie folgte Baldwin ins Polizeirevier. Die Szenerie drinnen war schlimmer, als Taylor in Erinnerung hatte. Nadis und seine Rezeptionistin lagen in ihrem eigenen Blut. Ein weiterer Officer aus Nags Head und ihr Fahrer vom SBI lagen erdrosselt in einem Nebenzimmer. Taylor hatte Mühe, den schweigsamen Raucher wiederzuerkennen, der sie vom Flughafen abgeholt hatte. Der Geruch des Todes setzte sich in ihrer Nase fest.
Als sie über den Leichen stand und auf das dünne Band aus verletztem und blutigem Fleisch starrte, das sich über die Kehle der Officer zog, überlief Taylor ein eiskalter Schauer. Der Anblick warf sie in der Zeit zurück, zu weiteren Toten unter ihren Händen. Die Garrotte war das Zeichen eines anderen Mörders, eines, der schon lange tot war. Sie schluckte.
„Der falsche Polakis und der falsche Yeager haben die anderen umgebracht, während wir mit der falschen Sansom geredet haben“, sagte Taylor.
„Sieht so aus. Siehst du, da sind Schleifspuren.“ Baldwin zeigte auf eine Reihe schwarzer Streifen auf dem weißen Linoleum, die zu dem kleinen Pausenraum führten, in den die beiden Männer gesteckt worden waren.
„Sie haben einen nach dem anderen ermordet und dann hierhergeschleppt, damit sie aus dem Weg sind. Wie haben sie die ganze Show nur abgezogen?“
„Ich weiß es nicht. Aber sie waren gut, sehr gut. Wenn ich nicht gewarnt worden wäre, wären wir vielleicht immer noch mit ihr da drin. Oder da drin.“ Er zeigte auf den Pausenraum.
Taylor hörte, dass ein Auto vorfuhr. Die Räder knirschten auf dem Muschelkies. Ihre Zeit alleine war vorbei. Sie hatte dieses unangenehme Gefühl im Magen, die Nachwirkungen des Adrenalins. Ihre Sinne waren überdeutlich geschärft, und sie fürchtete, sich gleich übergeben zu müssen. Ein paar tiefe Atemzüge verdrängten die Übelkeit und machten Platz für die Wut, die sich jetzt heiß in ihr ausbreitete.
„Ich nehme an, sie hatten eigentlich mich mitnehmen sollen?“
Baldwin schüttelte den Kopf. „Das glaube ich nicht. Sie hätten uns ohne Probleme jederzeit alle erschießen und dich mitnehmen können. Ich denke, die falsche Sansom sollte sich in unser Team einschleusen, um alles, was wir in Erfahrung bringen, weiterzugeben. Irgendwann hätte sie uns dann vermutlich zu einem vorherbestimmten Ort geführt, an dem sie dann die Oberhand gehabt hätte.“
„Wir haben ihr ziemlich viele Informationen gegeben.“
„Aber nichts, was sie nicht bereits wusste. Charlottes Powerpoint-Präsentation enthält nichts wirklich Neues.“
„Hinter all dem steckt der Pretender. Er hat Helfer.“
„Ja.“ Baldwin biss die Zähne so fest zusammen, dass die Muskeln an seinem Unterkiefer stark hervortraten. „Ja, er hat Hilfe. Mehr, als wir geahnt haben.“
Taylor atmete tief ein und bedauerte es sofort. Erschöpft lehnte sie sich gegen die Wand.
„Also hat er dafür gesorgt, dass Fitz in Nags Head abgesetzt wird, wo er die Szene kontrollieren konnte. Er hat das Boot an einer Stelle zurückgelassen, wo es schnell gefunden wird. Er hat alles arrangiert.“
„Ja.“
„Er muss Helfer in unseren Reihen haben.“
„Ja, das glaube ich auch.“
„Und er wusste, dass ich sofort hierhereilen würde. Ich habe ihm direkt in die Hände gespielt.“
Baldwin drehte sich zu ihr um, seine Lippen waren zu einer dünnen Linie zusammengepresst. „Ja.“
„Ein bisschen weniger Zustimmung von deiner Seite wäre sehr hilfreich, weißt du.“
Er schnaubte und schenkte ihr ein schiefes Lächeln. „Dann hör auf, die ganze Zeit über recht zu haben.“
Dieses kleine Geplänkel half ihr, sich etwas zu entspannen. Sie war jahrelang genau für solche Situationen ausgebildet worden. Und trotz der persönlichen Natur dieser Verbrechen, trotz der Tatsache, dass sie direkt auf sie gerichtet waren, war sie sicher, dass sie gewinnen könnten. Denn das war ihr Job. Das Gute triumphierte über das Böse, selbst wenn es auf dem Weg dahin ab und zu überrannt wurde.
Vor dem Polizeirevier ertönten Rufe. Taylor und Baldwin schauten einander an. Es hatte keinen Sinn, ein Risiko einzugehen. Baldwin zog seine Waffe, Taylor tat es ihm gleich.
„Halt dich bereit“, flüsterte er.
Einen Augenblick später kamen die Rufe näher. Eine starke, tiefe Stimme mit einem leichten Südstaatenakzent rief nach ihnen.
„Dr. Baldwin? Lieutenant Jackson? Ich bin SBI Supervisory Agent Roddie Hall. Ich weiß, dass Sie im Moment auf der Hut sind. Garrett Woods hat mir gesagt, ich solle Ihnen sagen, dass er eine Flasche White Label in der untersten linken Schublade seines Schreibtisches aufbewahrt. Ich werfe Ihnen meine Marke zu, damit Sie sie in Ruhe anschauen können, okay?“
Taylor spürte, dass Baldwin sich ein wenig entspannte.
„Ja, okay“, sagte er.
Die Marke landete mit einem dumpfen Geräusch neben Taylors rechtem Fuß. Baldwin nickte. Taylor beugte sich vor, hob die Lederhülle auf und reichte sie ihm. Baldwin warf einen Blick darauf und bedeutete ihr dann, dass alles in Ordnung war. Gemeinsam traten sie um die Ecke herum zur Tür, Taylor unten, Baldwin oben, die Waffen auf den Mann gerichtet, der mit erhobenen Händen im Empfangsbereich stand. Sein Schulterholster war leer.
„Ihr Boss ist ein wenig sauer auf mich“, sagte Hall. „Ich glaube nicht, dass er seinen Whiskey in nächster Zeit mit mir teilen wird.“
„Das glaube ich auch nicht“, erwiderte Baldwin.
„Kann ich meine Hände jetzt herunternehmen?“
„Ja, aber langsam, bitte.“
Hall wirkte erleichtert, als er seine Arme sinken ließ. Er war ein großer Mann mit frühzeitig ergrauten Haaren und einem zerknitterten braunen Anzug, der ihm eine Nummer zu groß war. Sein weißes Hemd hatte rote Flecken. Nach einem kurzen Blick auf Taylors Hände traf er den weisen Entschluss, sie nicht zu schütteln.
Vorübergehend beruhigt, steckten Taylor und Baldwin ihre Waffen weg.
„Was ist passiert?“, wollte Baldwin wissen. „Wie haben die es geschafft, Ihre Agents zu überwältigen?“
„Das wissen wir noch nicht. Allen dreien ist zweimal in den Hinterkopf geschossen worden. Eine wahre Hinrichtung. Dann wurden sie am Strand vergraben. Ein Mann, der mit seinem Hund spazieren ging, hat sie gefunden. Der Hund ist durchgedreht und hat angefangen zu buddeln. Geht es Ihnen beiden gut?“
„Ja, aber wir haben hier vier tote Officer. Drei aus Nags Head und einer ihrer Jungs.“
Hall schloss kurz seine Augen. Taylor verstand seinen Schmerz nur zu gut. Es fühlte sich an, als wäre auf der ganzen Welt Krieg ausgebrochen, als stünde jeder einzelne Bereich ihres Lebens unter Beschuss.
Aber in einem hatte der Pretender sich verrechnet. Indem er sieben Polizisten getötet hatte, hatte er die gesamte Staatsmacht gegen sich aufgebracht. Nun waren nicht mehr nur Taylor und Baldwin auf der Suche nach ihm; jede einzelne Agency im Land würde ihn an die Spitze ihrer Liste setzen. Die Jagd auf ihn war jetzt offiziell eröffnet.
Taylors Gedanken schweiften ab. Was zum Teufel wollte er? Wieso nahm er so viele Probleme auf sich, nur um seine Kräfte mit ihren zu messen? Provozierte er sie nur zum Spaß? Sie war so müde. Sie wünschte, sie könnte sich hinsetzen, ihren Kopf auf die Arme legen und alles in Ruhe durchdenken. Sie schob die Müdigkeit beiseite und konzentrierte sich wieder auf die Gegenwart.
„Agent Hall, was wissen Sie noch?“, fragte sie.
Hall strich sich mit der Hand über die Stirn. „Offensichtlich nicht genug. Aber hier unsere Fakten. Ihr Sergeant Pete Fitzgerald ist gestern Morgen aufgegriffen worden, als er allein am Straßenrand entlangging. Nach allem, was ich weiß, wurde er seit über einer Woche vermisst. Unsere Agents aus dem westlichen Distrikt haben sein Auge gefunden und uns alle alarmiert. Wir haben im gesamten Staat nach ihm gesucht, aber keine Spur von ihm gefunden, bis er schließlich hier auftauchte. Er hat einen Großteil des Tages und der Nacht unter Bewachung im Krankenhaus verbracht, dann haben die örtlichen Polizisten ihn hierherverlegt. Wir hatten zugestimmt, dass es so einfacher wäre.“
„Einfacher, ihn als Verdächtigen zu behandeln, meinen Sie?“, hakte Taylor nach.
Das war zu viel für Hall. Er hob die Stimme. „Einfacher, ein Auge auf ihn zu haben und ihn in Sicherheit zu wissen. Ja, wir mussten ihn befragen. Das würden Sie auch tun, wenn es bei Ihnen passiert wäre. Die Suchmeldung ist der einzige Grund, warum die Polizei ihm nicht an Ort und Stelle Handschellen angelegt hat – er war als Entführungsopfer eingestuft. Ein Mann, der mit Blut befleckt war, dem ein Auge fehlte und der über seine tote Freundin sprach? Sie hatten keine Ahnung, womit sie es zu tun hatten.“
„Nun mal ganz ruhig. Das gilt für beide. Für das, was hier vorgefallen ist, können wir niemandem die Schuld geben“, schaltete Baldwin sich ein. Er hob eine Augenbraue und ließ Taylor eine stumme Ermahnung zukommen, dann wandte er sich an Hall. „Bitte fahren Sie fort.“
Hall seufzte schwer und fuhr sich mit den Händen über sein spärliches Haar. „Es gibt nicht viel mehr. Wir haben unser Team hierhergeschickt, damit es sich gleich heute früh mit ihm trifft. Es muss auf dem Weg angegriffen worden sein. Ich weiß nur nicht, wie das passieren konnte. Seitdem das Boot gefunden wurde, ist der ganze Fall unter Verschluss. Um welche Uhrzeit sind Sie auf die Täter getroffen, Dr. Baldwin? Waren sie bereits hier, als Sie kamen?“
„Ja. Das war ziemlich früh, so gegen sieben Uhr morgens. Sie waren schon vor mir da und bereits allen vorgestellt worden. Die Menschen, die ihre Ausweise gesehen haben, sind tot, also können wir sie nicht fragen, ob es Originale oder Fälschungen waren. Ich meine, sie hätten auch leicht einfach bluffen können, sie sahen so echt aus. Ich habe auch nicht nach ihren Marken gefragt. Jetzt wünschte ich mir, ich hätte es getan. Sansom hat mir allerdings ihre Karte gegeben.“
Er zog sie aus seiner Brieftasche. Hall schaute sie sich an und bedeutete dann einem Kriminaltechniker, sie an sich zu nehmen.
„Das ist die Visitenkarte der echten Renee. Vielleicht haben wir Glück und finden ein paar Fingerabdrücke.“
Baldwin reichte die Karte dem Techniker, der noch einige Instruktionen von Hall erhielt und dann davoneilte. Hall wandte sich wieder ihnen zu.
„Sie hatten sich hier also schon häuslich eingerichtet, als Sie kamen?“
Baldwin nickte. „Ja. Sie müssen auf der Lauer gelegen haben. Irgendwoher wussten sie, dass Ihre Agents auf dem Weg waren, um Fitz in Schutzhaft zu nehmen. Wer hat übrigens seinen Transport ins Duke organisiert?“
„Das war ich. Er war offensichtlich nicht in bester Verfassung, und ich kenne einen der Ärzte im Duke; wir haben uns im Grundstudium kennengelernt. Er hat wirklich bahnbrechende Ergebnisse in der Augenheilkunde vorzuweisen. Ich dachte, das wäre der richtige Ort für Ihren Mann.“
Bei diesen Worten taute Taylor ein wenig auf. „Das weiß ich sehr zu schätzen. Wir haben den Flug jetzt allerdings aus Sicherheitsgründen nach Nashville umgeleitet. Ich hoffe, Sie verstehen das. Sie sind aber jederzeit herzlich willkommen, dort mit Fitz zu sprechen.“
„Ja, das verstehe ich. Ich kann nicht behaupten, dass ich es Ihnen zum Vorwurf mache. Das hier haben wir wirklich vermasselt. Ich habe nur keine Ahnung, wie das passieren konnte.“
Taylor verschränkte die Arme vor der Brust. „Sie müssen Ihre Leute genau durchleuchten. Irgendjemand gibt geheime Informationen des SBI weiter. Ich sage es nicht gerne, aber Sie haben einen Verräter in Ihren Reihen.“