16. KAPITEL
Taylor schreckte aus dem Schlaf hoch. Verdammt. Für eine halbe Sekunde nur hatte sie die Augen geschlossen und war weggenickt.
Unterschiedlichste Gefühle kreisten durch ihren Körper. Sie musste aufstehen, die Nachtluft einatmen, ihn finden. Es war gut und schön, davon zu träumen, den Kampf mit dem Pretender aufzunehmen, aber in Wahrheit war vermutlich er es, der den Kampf beginnen würde.
Mit einem Mal war ihr das Büro zu eng. Die Wände schienen sie zu erdrücken. Taylor stand zu schnell auf. Ihr Holster blieb an der Ecke ihres Posteingangskorbes hängen und riss ihn samt Inhalt zu Boden.
„Verdammte Scheiße.“
Sie schaute sich das Chaos an – das Spiegelbild ihrer Emotionen.
Werde gejagt oder werde zur Jägerin.
Vor die Wahl gestellt, wusste sie, welchen Weg sie einschlagen würde.
Sie ließ sich auf die Knie sinken und begann, das Durcheinander zu ordnen. Sie sammelte Papiere ein und stapelte sie zu drei gleich hohen Haufen. Ihr Telefon klingelte. Taylor streckte die Hand aus und zog es zu sich heran. Ein interner Anruf aus der Zentrale.
„Lieutenant Jackson“, sagte sie und schob die morbiden Gedanken, die sich in ihrem Kopf ausgebreitet hatten, beiseite.
„LT, ich bin’s, Marcus. Ich bin an einem Tatort, und ich denke, das hier solltest du dir ansehen.“
Sie schaute auf die Uhr. 22:11 Uhr. Mist. Baldwin wäre sauer auf sie. Sie hatte gar nicht so lange hier sein sollen. Und da sie offiziell noch im Urlaub war, wäre Commander Huston nicht sehr erfreut, wenn sie sich jetzt in einen Fall einmischte. Aber Marcus Wade würde sie niemals ohne Grund dazurufen. Er war klug und besonnen, und sie konnte sich darauf verlassen, dass er hinter die Fassade schaute und den Sachen auf den Grund ging. Wenn er sie anrief, dann brauchte er sie auch.
Ein kurzer Blick konnte ja nicht schaden. Und falls der Pretender sie beobachten sollte … Ein Schuss ins sprichwörtlich Blaue, vielleicht?
„Es ist schon spät. Wieso ist nicht die B-Schicht gerufen worden?“
„Lincoln und ich sind schon eine Weile hier. Es hat Stunden gedauert, die Leiche aus dem Wasser zu bergen. Er ist immer noch da drin; an irgendetwas festgebunden. Die Polizeitaucher versuchen, ihn freizukriegen.“
Stimmt, dachte Taylor. Lincoln hatte erwähnt, dass er zu einem Einsatz gerufen worden war. Und jetzt rief Marcus an. „Habt ihr schon irgendwelche Hinweise auf die Identität des Opfers?“
„Ich glaube, es könnte sich um Peter Schechter handeln.“
Taylor stöhnte innerlich. Noch ein toter Teenager, noch ein Elternpaar, das von der Trauer verschlungen werden würde. Das wären dann neun Jugendliche aus Nashville, die innerhalb einer Woche getötet worden waren. Der, den sie erschossen hatte, nicht mitgezählt. Sie wusste nicht, wie die Stadt sich jemals davon erholen sollte. Sie wusste ja nicht einmal, wie sie sich jemals davon erholen sollte.
„Gehört er zum Halloween-Massaker?“
„Das kann ich nicht sagen. Kannst du hierherkommen? Ich bin am Percy Priest, einem Bootsanleger am Hamilton Creek Park. Sam ist auch gerade eingetroffen.“
„Ich bin in zehn Minuten da. Sag Sam, sie soll so lange warten, bis ich die Szene gesehen habe, okay?“
„Mach ich. Danke, Taylor.“
Marcus legte auf. Taylor schaltete das Licht in ihrem Büro aus und joggte zum Wagenpark. Ihre Stiefel knallten laut auf der Betonwendeltreppe, die zum Parkplatz hinunterführte. Was gepfiffen auf die Anweisung, nur reine Schreibtischtätigkeiten ausüben zu dürfen. Ein Mitglied ihres Teams brauchte sie.
Sie schnappte sich den ersten Wagen, den sie fand, setzte sich hinters Lenkrad und machte sich auf in Richtung Westen.
Der J. Percy Priest Lake war der größte See in Davidson County. Über zweihundertunddreizehn Meilen Uferlinie, fünf Jachthäfen und dreiunddreißig Bootsrampen. Mit den ganzen Wegen und Spielplätzen und Anglern und Bootsfahrern war es ein Wunder, dass sie Schechters Leiche so schnell gefunden hatten. Obwohl – Taylor erinnerte sich, dass ihr Freund Robert Trice, der einst das OEM geleitet hatte, immer sagte, irgendwann kommen alle Wasserleichen an die Oberfläche. Das Office of Emergency Management war für alle Such- und Rettungsaktionen am Wasser zuständig. Robert war leider schon lange nicht mehr da; er war viel zu früh gestorben. Er fehlte ihr.
Marcus stand zu ihrer Linken und sprach mit Sam. Der Mondschein auf dem Wasser hätte eigentlich ein schönes Bild ergeben sollen, doch auf Taylor wirkte es bedrohlich. Das hier gefiel ihr kein bisschen. Es fühlte sich falsch an – und zwar schon seit Wochen. Sie musste mal eine gründliche Bestandsaufnahme ihres Lebens durchführen. Denn das hier war nur ein Traum, richtig? Richtig? Schützen. Dienen.
Sie hatte nicht das Gefühl, in den letzten Tagen allzu viele Leben gerettet zu haben.
Sie ging zu Marcus und Sam hinüber, die ganz in ihre Unterhaltung vertieft waren.
„Wie habt ihr ihn gefunden?“, fragte Sam.
„Irgendwer war hier, um sich um sein Boot zu kümmern, und sah dabei etwas Rotes im Wasser aufblitzen. Als er erkannte, dass es sich um eine Daunenjacke handelte, hat er die Polizei gerufen.“
„Das war großes Glück. Die Leiche hätte noch viel länger unter Wasser bleiben können. Die Kälte hat vielleicht geholfen, ein paar Spuren zu konservieren.“
„Die Knoten, mit denen er an dem Ast festgebunden ist, sind ziemlich ausgefeilt. Seine Jacke ist auch beschwert worden, allerdings nicht stark genug. Ich glaube, er sollte nicht so schnell gefunden werden.“
Sam schob ihre zu langen Ponyfransen aus der Stirn. Ihre braunen Augen blitzten. „Gut, dass er festgebunden worden ist. Ansonsten wäre er über den ganzen See getrieben und sonst wo aufgetaucht. Ah, Taylor. Wie geht es Fitz?“
„So gut, wie man es unter den Umständen erwarten kann. Er hat viel durchgemacht.“
Sam musterte sie kritisch. „Genau wie du. Du solltest darüber nachdenken, noch ein wenig länger freizunehmen. Warte mal, du hast doch eigentlich Urlaub, was machst du überhaupt hier?“
„Marcus hat mich angerufen. Mir geht es gut, wirklich. Ich muss mich beschäftigt halten. Wenn ich noch einen weiteren Tag einfach herumsitze, werde ich noch verrückt. Ich fasse auch nichts an, versprochen.“
Sam sprach so leise, dass nur Taylor sie verstehen konnte. „Du kannst kaum behaupten, heute Morgen nur herumgesessen zu haben. Ich habe gehört, was passiert ist. Geht es dir gut?“
Taylor nickte. „Ja. Tu mir nur bitte einen Gefallen, sei wachsam, ja? Ich will kein Risiko eingehen. Ihr seid mir alle viel zu wichtig, als dass ich zulassen würde, dass der Pretender euch in sein kleines Spielchen hineinzieht.“
„So klein ist das Spielchen gar nicht“, sagte Sam mit einem grimmigen Lächeln.
Sie hörten Wasser spritzen, dann dröhnte eine tiefe, männliche Stimme durch die Dunkelheit. „Wir haben ihn!“
Sofort wurde es totenstill. Sie holten die Leiche langsam heraus und versuchten, keine Beweise zu verlieren, obwohl die Leiche offensichtlich schon seit mehreren Tagen im Wasser lag. Es hatte sich bereits Leichenwachs gebildet, eine dicke, gummiartige Schicht, die sich aus dem sich zersetzenden Fettgewebe bildete. Die Gase im Inneren des Körpers hatten für Auftrieb gesorgt und ihn so an die Wasseroberfläche steigen lassen.
Die noch zusammengeklappte Trage hockte wie eine metallene Spinne auf dem unebenen Boden. Ein aufgefalteter Leichensack lag bereit, um die Überreste aufzunehmen. Mit einem letzten Platschen hievten vier starke Männer die Leiche hinein.
Sam ging sofort zu ihr und schnalzte dabei auf ihre typische Südstaatenart mit der Zunge. Taylor blieb einen Moment lang zurück und beobachtete nur. Sie wollte Sams Unterhaltung mit dem Toten nicht stören. Dann rief Sam ihr über die Schulter hinweg zu: „Komm schon. Ich weiß, dass du ihn dir anschauen willst.“
Taylor kam langsam näher, bis sie parallel neben dem stand, was einmal das Gesicht der Leiche gewesen war. Sie versuchte, nicht einzuatmen, und beugte sich ein kleines bisschen vor. Männlich und wie es aussah noch keine zwanzig. Die Haut war grau und teigig und feucht von Wasser und aufgeblähtem Gewebe. In seinen Haaren hing Schmutz. Sein Gesicht war zu sehr zerstört, um es mit hundertprozentiger Sicherheit zu sagen, aber dennoch glaubte sie, dass sie Peter Schechter gefunden hatten. Vielleicht war es ein Bauchgefühl, vielleicht nur das Ergebnis eines Ausschlussverfahrens. Er war der einzige Vermisstenfall, den sie im Moment hatten, und die Leiche passte zu der Beschreibung in ihren Computern.
„Sieht so aus, als wäre er es. Gott sei seiner Seele gnädig.“ Sam kannte das Profil des Jungen – jeder kannte es. Er wurde seit fünf Tagen vermisst, das war lang genug, um jeden Polizisten in der Stadt in erhöhten Alarmzustand zu versetzen.
„Fällt dir schon irgendetwas ins Auge?“, fragte Taylor.
„Du solltest mich eigentlich besser kennen, Süße.“
„Das tue ich auch, aber ich dachte, ich versuch’s mal.“
Sam ging zu ihrer Tasche und holte ein Thermometer heraus. „Am besten klingelst du den Priester aus dem Bett. Ich will das hier nicht länger hinauszögern als unbedingt nötig.“
„Ja, ich verstehe. Kannst du ihn heute Nacht noch identifizieren?“
„Im Büro habe ich sein Zahnschema. Ich rufe auf dem Rückweg Mike Tabor an und frage, ob er kurz vorbeischauen und einen Blick darauf werfen kann. Es ist schon spät, aber Tabor hat darum gebeten, informiert zu werden, wenn wir etwas finden. Wenn es sich wirklich um den Jungen handelt, sollten wir seine Eltern informieren, bevor irgendetwas hiervon an die Presse durchsickert.“
„Das kannst du laut sagen.“ Taylor trat beiseite und ließ Sam ihre Arbeit machen. Trauer überkam sie. Was für eine Verschwendung. Was für eine gottverdammte Verschwendung. Wenigstens hatte sie nicht das Gefühl, dass es sich hierbei um das Werk des Pretenders handelte. Noch einen weiteren Toten auf dem Gewissen zu haben, hätte sie nicht ertragen.
Marcus hatte seine Augen in dem künstlichen Licht zusammengekniffen und machte sich Notizen. Der Geruch nach verrottendem Fleisch lag in der Luft. Wasserleichen waren am schlimmsten. Fäulnis vermischt mit abgestandenem Winterwasser ergab einen unverkennbaren Pesthauch, der selbst die stärksten Mägen umdrehen konnte. Wie ein überfahrenes Tier, das man drei Tage in eine schimmlig-feuchte Decke gehüllt hatte. Er schenkte ihr ein schwaches Lächeln.
„Sam versucht, die Leiche noch heute Nacht zu identifizieren. Hast du schon Father Victor angerufen?“, wollte Taylor wissen.
„Ja, gerade eben. Er weiß, dass wir ihn vielleicht noch benötigen.“
„Gut. Ich fahre mit Sam zurück in die Rechtsmedizin und überlass dir das Kommando hier draußen, während wir an der Identifizierung arbeiten. Du musst dich nicht beeilen.“
Die Erleichterung war ihm deutlich anzusehen. Es würde, egal wie, eine lange Nacht werden – wenn sie die Aufgaben aufteilten, konnten sie aber wenigstens ein bisschen Zeit sparen.
„Bist du sicher, dass es dir nichts ausmacht?“
„Ja, ganz sicher. Ich rufe dich an, sobald wir etwas wissen.“
„Danke Taylor. Du hast was bei mir gut.“
Sie stieß leicht gegen seine Schulter. „Ja, ja.“
Zurück an ihrem Auto, nahm sie ihr Handy zur Hand. Sie musste Baldwin über das informieren, was sie vorhatte. Er würde darüber nicht sonderlich erfreut sein, aber ehrlich gesagt, sie war es. Sie brauchte die Zerstreuung. An einem Mordfall zu arbeiten, selbst wenn es nur als Randfigur war, lenkte ihre Gedanken von dem Mord ab, den sie vorhatte zu begehen.