50. KAPITEL

Baldwin nutzte schon seit ein paar Jahren die Büros des FBI-Ablegers in Nashville für seine tägliche Arbeit. Sie lagen in günstiger Entfernung zur Innenstadt und zu Taylors Büro. Der morgendliche Verkehr von der Ostseite in die Stadt hinein war wie immer grauenhaft. Er nutzte die Zeit, um Garrett anzurufen.

„Wird auch langsam Zeit, dass du dich meldest. Leiten dir deine Lakaien meine Nachrichten nicht mehr weiter?“

„Ich habe keine Lakaien, sondern nur loyale, hart arbeitende Seelen, die niemals das Risiko eingehen würden, mich anzurufen, während ich suspendiert bin.“

„Ja, bestimmt. Sag Salt, dass ich dir das glaube.“

„Hier bricht gerade die Hölle los, Garrett. Taylors Bodyguards haben soeben den Zodiac-Nachahmer vor Sams Büro getötet. Sam wird vermisst. Unsere beste Spur ist tot. Alles bricht auseinander.“

„Ich weiß. Deshalb wollte ich ja auch, dass du mich anrufst. Ich habe mit dem Direktor gesprochen. Wir reaktivieren dich und heben die Suspendierung auf. Da draußen passiert gerade zu viel, als dass wir es uns leisten könnten, unseren besten Spieler auf der Ersatzbank sitzen zu haben. Versuch dich von den Medien fernzuhalten, aber nimm den Fall in deine Hände und setze diesen Nachahmungstätern ein Ende. Wo steht ihr gerade?“

Das wurde aber auch Zeit.

„Ich arbeite an Ewan Copeland. Ich versuche herauszubekommen, wer er ist und woher er kommt. Er hat unter dem Namen Barclay Iles in der Rechtsmedizin hier in Nashville gearbeitet. Wir haben seine Schwester gefunden – sie ist die Schützin von North Carolina und kommt aus Raleigh. Das SBI kümmert sich um diesen Teil des Falles. Sie heißt Ruth Anderson und ist auf der Flucht. Copeland kann nicht weit weg sein – er hat Taylor eine CD mit den Kennzeichen der Wagen geschickt, mit denen die Nachahmer unterwegs sind. Er hat sie absichtlich auffliegen lassen. Vermutlich Teil seines Spiels – oder ihm ist langweilig geworden. Wer weiß das schon. Und die True-Crime-Bloggerin ist tot.“

„Das habe ich gehört. Salt sagt, dass einer der Nachahmer in Gewahrsam genommen wurde. Ich möchte, dass du ihn persönlich befragst.“

„Er sitzt in Knoxville, Garrett. Ich muss hierbleiben. Das Spiel findet in Nashville statt.“

„Aber das Bauernopfer des Spiels sitzt in Knoxville. Du musst da hin.“

„Aber …“

„Baldwin, deine Suspendierung ist unter Vorbehalt aufgehoben worden. Der Direktor meint, die Aufmerksamkeit der Presse für den Fall verlangt danach, dass wir herausfinden, wieso drei Männer gleichzeitig anfingen, berühmte Serienmörder nachzuahmen. Wir haben zu viele Tote übers ganze Land verstreut und zwei weitere Mörder, die noch frei herumlaufen. Dieser Idiot hatte direkten Kontakt zum Pretender. Der Direktor will Antworten und Ergebnisse, und er glaubt, der Schlüssel zu den Fällen liegt in Knoxville. Also fahr da hin. Das ist ein Befehl.“

„Ja, Sir. Ich werde sofort alles in die Wege leiten, um nach Knoxville zu fahren.“

„Gib mir Bescheid, was du herausfindest. Und geh den Kameras aus dem Weg, verstanden?“

„Verstanden.“

„Gut. Eine Sache noch. Auf etwas persönlicherer Ebene.“

Baldwin wusste genau, was er meinte. Garrett hatte Neuigkeiten über das Kind, von dem Charlotte behauptet hatte, es abgetrieben zu haben.

„Er ist in Übersee. Auslandsadoption. Mehr weiß ich noch nicht, aber ich arbeite dran.“

Baldwin wich alle Luft aus den Lungen.

„Aber es geht ihm gut, oder?“

„Es ist mindestens zwei Jahre her, dass irgendjemand etwas von ihm gesehen hat. Nach Charlottes Tod sind alle möglichen Agenturen eingeschaltet worden. Du weißt, wie der Regierungskrake arbeitet. Das Bild von ihm ist alt. Ich gebe mein Bestes.“

„Ich weiß, Garrett. Danke.“

Er legte auf. Der Verkehr begann endlich wieder zu fließen. Sobald er die Abzweigung zur 440 passiert hatte, lief es zügiger. Vor ihm lag die Innenstadt. Die Wolken hatten sich zurückgezogen; typisches Nashville-Wetter – drohte mit einem Sturm und schickte stattdessen Sonnenschein. Die kalte Sonne glitzerte in den Gebäuden. Alles sah so normal aus, fühlte sich so richtig an.

Die Vorstellung, Nashville zu verlassen, um nach Knoxville zu fahren, machte ihm höllische Angst. Er konnte Taylor nicht ohne Schutz lassen. Es war schlimm genug, dass sie sich getrennt hatten, um sich verschiedenen Spuren des Falles zu widmen. Er musste bei ihr sein, an ihrer Seite, musste ihr helfen, Copeland und Sam aufzuspüren.

Aber wenn er sich dem Befehl widersetzte, während seine Karriere auf so wackligen Beinen stand, wäre alles, wofür er jahrelang hart gearbeitet hatte, umsonst gewesen.

Vor einer Woche hätte er nicht gezögert. Er hätte gesagt, zum Teufel mit dem FBI, und sich wie eine Klette an Taylor geheftet.

Doch jetzt hatte er einen Sohn, den er in seinen Überlegungen berücksichtigen musste. Garretts Unterstützung bei der Suche nach ihm war unglaublich hilfreich gewesen. Könnte er wirklich absichtlich seinem Chef, seinem Freund – und vielleicht sogar seinem Sohn – den Rücken zuwenden, nur um seinen eigenen Weg zu gehen?

Er hätte nie erwartet, wählen zu müssen. Tief im Inneren spürte er, dass er diesen Test nicht bestehen würde.

Auf der Abfahrt, die zum CJC führte, rief er noch einmal Kevin an. Bat ihn, einen Helikopter zu organisieren, der ihn nach Knoxville bringen würde. Wenn er dorthin musste, dann so schnell wie möglich.

Am CJC herrschte bei seiner Ankunft das reinste Chaos. Die Straße war an der Brücke gesperrt. Er musste auf der Second Avenue vor dem Hooters parken und den Rest zu Fuß gehen, was er schnellen Schrittes und zutiefst besorgt tat. Ein Krankenwagen war da, aber die Sanitäter standen nur herum und taten nichts. Als er auf die Straße einbog, fuhren gerade zwei Feuerwehrwagen weg. Die Ersthelfer waren fertig. War das alles für Colleen Keck? Oder war noch etwas anderes vorgefallen?

Einen Augenblick übermannte ihn die Panik. Taylor. Wo war Taylor? Er klappte sein Handy auf, um sie anzurufen, während er in einen leichten Laufschritt verfiel. Es klingelte, dann ging ihre Mailbox ran. Verdammt. Hatte sie ihr Handy ausgestellt? Oder war Ewan Copelands letztes Puzzleteil an seinen Platz gefallen?

Der Van der Rechtsmedizin blieb neben ihm an der Ampel stehen. Er ignorierte das rote Licht und sprintete über die Straße. Marcus Wade stand an der Ecke und unterhielt sich mit Lincoln Ross. Taylors Chefin Joan Huston nahm Lincoln gerade die Waffe ab. Doch Taylor war nirgendwo zu sehen.

Er lief zu ihnen. „Wo ist Taylor? Geht es ihr gut?“

Commander Huston drehte sich zu ihm um. Sie war ruhig und gefasst, doch in ihren Augen lag eine gewisse Traurigkeit.

„Hallo Dr. Baldwin. Lieutenant Jackson geht es gut, soweit ich weiß. Wir haben im Parkhaus eine Zeugin verloren und die Verdächtige, die sie umgebracht hat. Detective Ross war gezwungen, zur Selbstverteidigung seine Waffe zu benutzen. Das hier ist ein Tatort, also muss ich Sie bitten, sich zu entfernen. Es handelt sich um einen Fall für die örtlichen Behörden, nicht für das FBI.“

Das stimmte; er hatte keinerlei Recht oder Grund, hier zu sein. Aber Lincoln war sein Freund, genau wie Marcus. Er wollte nicht gehen. Und wo zum Teufel war Taylor? Sie müsste inzwischen längst hier sein.

Er schaute zu Lincoln, der aschfahl im Gesicht war. Marcus stand neben ihm und sprach leise auf ihn ein. Dann drückte er seinen Arm und nickte Baldwin zu.

Ohne ein Wort zu sagen, ging Marcus zurück zum CJC. Baldwin gesellte sich zu ihm. Sie nahmen den langen Weg einmal ums Gebäude herum zur Hintertür. Dort blieben sie auf der Treppe stehen, um zu reden.

„Was ist hier los?“, fragte Baldwin.

„Das Mädchen hatte ein Messer, und sie war innerhalb der Zone. Linc hatte keine andere Wahl, als sie zu erschießen. Ihm geht es ziemlich schlecht. Der Schuss ist ohne Zweifel zur Selbstverteidigung erfolgt. Das Problem ist, drei Leute haben gesehen, was passiert ist, und zwei davon sind jetzt tot. Er ist vorübergehend suspendiert und wird zumindest für den heutigen Tag nach Hause geschickt, nachdem er mit der Psychologin gesprochen hat.“ Marcus zog seine Schlüsselkarte durch den Schlitz. „Wo ist Taylor?“

„Das versuche ich auch gerade herauszufinden. Ich hatte gehofft, sie wäre schon hier. Sie hat mich gebeten, sie hier zu treffen. Sie sucht nach Sam. Wir glauben, dass Copeland sie hat. Solltest du nicht eigentlich bei Fitz sein?“

„Das war ich auch, aber als ich gehört habe, dass Sam vermisst wird, bin ich sofort hierher zurückgekommen. Ich habe zwei Männern, denen ich traue, bei ihm gelassen. Es geht ihm gut. Mann, dieser Tag wird aber auch von Minute zu Minute besser.“ Er schüttelte den Kopf.

„Was hat Colleen Keck dazu gebracht, abzuhauen?“

Sie hatten die Büros der Mordkommission erreicht. Marcus ging direkt zu Taylors Büro und bedeutete Baldwin, ihm zu folgen. Er schloss die Tür hinter sich, damit sie offen reden konnten.

„Lincoln hat ihre Fingerabdrücke überprüft. Wie sich herausstellte, war sie nicht die, als die sie sich ausgab. Ihr echter Name ist Emma Brighton. Sie stammt aus Forest City, North Carolina. Copelands Heimatstadt.“

„Taylor hat vermutet, dass sie in irgendeiner Verbindung zu Copeland steht und den Namen erkannt hat, als sie ihr ihn nannte.“

„Lincoln hatte gerade versucht, die Geschichte aus ihr herauszubekommen, da ist sie durchgedreht. Er hält sie für das Mädchen, das Copeland mit sechzehn vergewaltigt hat. Sie hat mit ihm zusammen in der betreuten Wohngruppe gelebt.“

Baldwin schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. „Mein Gott. Das ergibt Sinn. Kein Wunder, dass er es auf sie abgesehen hatte – er kümmert sich um die noch offenen Probleme der Vergangenheit. Sie hat ein neues Leben unter anderem Namen angefangen. Hat geheiratet. Ein Kind bekommen.“ Ihm kam ein weiterer Gedanke. „Der Mord an ihrem Ehemann ist nie aufgeklärt worden, oder? Ich wette, dass Copeland dabei auch irgendwie seine Finger im Spiel hatte.“

„Das ist gut möglich … Er ist während einer Drogenkontrolle auf der Interstate erschossen worden – der ganze Vorfall ist zwar von Kameras aufgezeichnet worden, aber wer auch immer es getan hat, wusste, wie er sein Gesicht verbergen konnte. Von der Körpergröße her konnte man darauf schließen, dass es sich um einen Mann gehandelt hat, aber mehr wissen sie bis heute nicht. Die Ballistik hat nie irgendwelche Treffer ergeben; es war eine saubere Waffe.“

„Das klingt ganz nach Copeland. Er hat herausgefunden, dass seine alte Flamme als Colleen Keck lebt. Er wusste, mit wem sie verheiratet war. Vor drei Jahren hat er Kecks Namen genutzt, um seine Mutter zu besuchen. Er hat jahrelang nach ihr gesucht und dann beschlossen, ihr Leben systematisch zu zerstören. Sie war schließlich eine Zeugin, auch wenn wir wissen, dass er sich seitdem mehreren kosmetischen Operationen unterzogen hat. In letzter Zeit hat er sich als Barclay Iles aus der Rechtsmedizin ausgegeben. Einer meiner Profiler stattet gerade seinem Chirurgen einen Besuch ab.“

„Ehrlich?“

„Ehrlich.“ Noch ein Gedanke schoss ihm durch den Kopf. „Der Name des Blogs. Felon E. E für Emma. Ich frage mich, ob sie das absichtlich oder unterbewusst gemacht hat? Ich wette, nach dem Tod ihres Mannes konnte sie nicht anders. Aber wer war die Frau, die Lincoln erschossen hat? Wer hat Colleen umgebracht?“

„Das versuchen wir gerade herauszufinden. Sie hatte keinen Ausweis bei sich.“

Baldwin stand auf und tigerte im Büro auf und ab. „Die Hinweise, die er uns geschickt hat. Die Kennzeichen und die Adresse von Sam. Ein Buchstabe ist übrig geblieben – ein E. E für Emma Brighton, E für Felon E.“

„Das ergibt Sinn.“

„Wie ist sie überhaupt getötet worden?“

„Auf grausame Weise. Man hat ihr die Kehle durchgeschnitten.“

Auf einmal war ihm alles klar. „Marcus, wir müssen da wieder raus. Ich glaube, ich weiß, wen Lincoln im Parkhaus erschossen hat. Und wenn sie es wirklich ist, ist es auf einen Schlag doch auch mein Fall.“