17. KAPITEL
Baldwin nahm nach dem ersten Klingeln ab. Es war Taylor. Er hörte ihrer Stimme an, wie erschöpft sie war. Als sie ihm erzählte, was sie vorhatte, seufzte er nur. Noch ein Toter. So grausam das klang, aber er war beinahe froh, dass sie dazugerufen worden war. Die Ablenkung würde ihr guttun. Es ging nichts über einen neuen Fall, der zu lösen war; und Taylor war gut in dem, was sie tat. Er beobachtete sie gerne dabei.
Doch im Moment beobachtete er sie nicht. Er war zu Hause und wartete auf sie. Wirklich gefallen tat ihm das nicht, aber wenn er sie zu sehr bedrängte, sie zu sehr einengte … Taylor würde sich wehren, wenn er sie erstickte. Sie war eine starke Frau. Seine Kriegerin. Trotzdem waren vier hervorragend ausgebildete Agents auf dem Weg nach Nashville, um Taylor ohne ihr Wissen zu beschützen. Sie würden sich unauffällig verhalten, wären jedoch im Fall des Falles zur Stelle. Sie wäre beschützt – wenigstens für den Moment.
Seine andere Leitung piepte. Er ignorierte es und hörte stattdessen der Frau, die er anbetete, zu, während sie ihm sagte, dass sie später käme und er schon einmal ohne sie essen sollte. Er sagte ihr, dass er sie liebte, und verabschiedete sich dann.
Baldwin legte das Telefon beiseite und fuhr sich mit den Fingern durch das Haar, bis es zu allen Seiten abstand. Seine Frisur zu zerwühlen half ihm beim Denken, und er tat es jetzt so energisch, dass er sich aus Versehen mit den Fingernägeln über die Kopfhaut kratzte.
Das musste endlich aufhören. Sie mussten den Pretender finden. Dieser Drahtseilakt würde für ihn und Taylor noch böse enden, wenn er die Situation nicht langsam unter Kontrolle bekäme und eine Lösung fand.
Er wusste, wie diese Lösung aussah, doch darüber wollte er nicht einmal nachdenken. Denn es zuzugeben würde es real machen und ihn nur noch weiter in Richtung Abgrund ziehen. Seine Zukunft beim FBI hing sowieso schon nur noch an einem seidenen Faden, und während seiner Suspendierung einen Verdächtigen zu töten, wäre der letzte Nagel zu seinem Sarg. Es musste einen anderen Weg geben. Ihn gefangen nehmen, nicht eliminieren. Dann könnte er wieder zu sich zurückkehren, zu seiner Beziehung, zu seiner Arbeit. Er durfte auf keinen Fall zulassen, dass ihm alles aus den Händen glitt, dass der elendige Mistkerl ihm alles nahm, wofür er gekämpft hatte. Es war zu lange her, dass er sich sicher und heimisch gefühlt hatte.
Er ging in die Küche und goss Milch in einen Becher. Er fügte Schokoladensirup und ein Päckchen löslichen Kaffee hinzu, stellte den Becher in die Mikrowelle und wartete, bis er heiß war. Er brauchte den Zucker, die Energie. Trotz Taylors Versicherung, dass alles gut war, würde er auf sie warten. Wenn sie nach Hause kam, hatte sie bestimmt Hunger – vielleicht auf etwas zu essen, vielleicht auf ihn. Er aß eine Banane und trank seinen Milchkaffee. Die Wärme breitete sich in seinem gesamten Körper aus, und der Becher lag angenehm heiß in seinen eiskalten Händen.
Zurück im Wohnzimmer schaute er nach, wer während seines Telefonats mit Taylor angerufen hatte. Erleichtert sah er, dass es Wendy Heinz gewesen war. Endlich. Wendy war die Grafologin, die er angeheuert hatte, um sich die Nachricht aus dem Wohnwagen anzusehen. Ajin tachat ajin – eine sehr wörtlich gemeinte Botschaft.
Seine Begeisterung wuchs, als er die Nachricht von Wendy abhörte.
In Wendys Stimme lag eine gewisse Euphorie. „Ich bin die Seiten durchgegangen, die Sie mir geschickt haben, und Sie werden nicht glauben, auf was ich dabei gestoßen bin. Rufen Sie mich an, sobald Sie können.“
Wie spät war es? 22:30 Uhr. Noch nicht zu spät für einen Anruf. Er kannte Wendy, sie war eine Nachteule. Trotz der langen Tage, in denen sie als Gutachterin vor Gericht aussagte und an der University of California unterrichtete und nebenbei noch hervorragende Bücher über Grafologie im Strafrecht schrieb, arbeitete sie in ihrer Freizeit an einem Roman. Freizeit bedeutete in ihrem Fall früh am Morgen und spätabends. Wann immer sie etwas Zeit und Ruhe von ihren alltäglichen Pflichten fand.
Er wählte ihre Nummer. Wendy nahm beim ersten Klingeln ab. Ihre Stimme klang sehr fröhlich.
„Dr. Baldwin! Ich bin so froh, dass Sie mich so schnell zurückrufen konnten.“
„Dieser Nachricht konnte ich wohl kaum widerstehen. Was haben Sie für mich?“
Er hörte sie in Papieren blättern. „Vermutlich ein bisschen mehr, als Sie erwarten. Haben Sie etwas zum Mitschreiben?“
„Solange Sie mir versprechen, es nicht zu analysieren, ja.“
Wendy lachte. „Der war gut, Doc. Okay, los geht’s. Der Brief, den Sie mir geschickt haben, war so kurz, dass es schwer ist, sich daraus einen umfassenderen Eindruck zu verschaffen. Abgesehen davon, dass eine ausgeprägte Rechtsneigung auf mangelnde Impulskontrolle und einen Hang zu Wutausbrüchen hindeutet. Aber deshalb habe ich Sie nicht angerufen. Ich mache diesen Job schon seit sehr, sehr vielen Jahren. Ich habe schon viele Handschriften gesehen und bin bei vielen Fällen als Gutachterin hinzugezogen worden. Es hat so lange gedauert, bis ich Sie zurückgerufen habe, weil ich etwas in einer alten Fallakte nachschauen musste. Irgendetwas an dieser Handschrift kam mir nämlich … seltsam vertraut vor.“
Baldwin wurde von Aufregung gepackt, sein Herz schlug ein paar Takte schneller. „Was meinen Sie mit vertraut?“
„Nun, ich hatte das Gefühl, sie schon einmal gesehen zu haben. Und mein Gefühl hat mich nicht getrogen.“
„Warten Sie, Sie erwähnten eine alte Fallakte. Sie haben von diesem Mörder schon einmal eine Schriftprobe gesehen?“
„Das kann ich nicht mit absoluter Sicherheit sagen, deshalb habe ich einen Kollegen gebeten, meinen Fund noch einmal zu überprüfen. Er stimmt mit mir überein. Wir gehen von der Annahme aus, dass es sich um die Handschrift Ihres Mörders handelt. Ohne live zu sehen, wie er vor meinen Augen auf ein Stück Papier schreibt, kann ich nicht beweisen, dass er es ist. Aber ja, ich habe diese Schrift schon einmal gesehen. Sind Sie bereit, sich ein paar Notizen zu machen?“
„Aber immer. Legen Sie los.“
„1995 habe ich an einem Fall in North Carolina gearbeitet. Es ging um eine Frau, die am Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom litt. Zumindest glaubten wir das. Sie hatte eine Vorgeschichte, verletzte jeden in ihrer Nähe, ihre Kinder, ihren Mann, ihre Freunde. Irgendwann hat sie ihren Ehemann umgebracht – das war, nachdem er genug von ihrem Verhalten gehabt und sie fortgeschickt hatte. Der Prozess war kurz, und sie wurde zu einer lebenslangen Gefängnisstrafe verurteilt. Für die Urteilsverkündung hatte ihr mittlerer Sohn einen Brief ans Gericht geschrieben und darum gebeten, Milde walten zu lassen. Er war damals erst vierzehn Jahre alt. Offensichtlich hat der Richter seinem Wunsch entsprochen, denn er hätte auch gut und gerne die Todesstrafe verhängen können. Sie wurde weggesperrt, und der Junge war plötzlich ganz allein auf der Welt. Er ist dann erst in einer Pflegefamilie untergekommen, später in einer Wohngemeinschaft. Er wurde immer gewalttätiger und ist irgendwann vom Radar verschwunden.“
„Er hat einen Brief ans Gericht geschrieben“, sagte Baldwin.
„Ja“, erwiderte Wendy. „Und meiner professionellen Einschätzung nach ist das die gleiche Handschrift wie die auf der Nachricht, die Sie mir gegeben haben.“
Baldwin kannte sich ein wenig mit Grafologie aus, aber nur mit den Grundlagen: Es war das Studium jeglicher grafischer Bewegung und konnte genutzt werden, um Einblick in den Verstand eines Menschen zu erhalten. Handschriften, Gekritzel, Zeichnungen, Skulpturen und Bilder – alles konnte auf Anzeichen untersucht werden, die auf bestimmte Persönlichkeitsmerkmale hindeuteten. Ausgeübt von jemandem, der sein Handwerk verstand, zeigte die Grafologie erstaunlich genaue Ergebnisse.
Er bat Wendy, sein Wissen kurz aufzufrischen, was sie nur zu gerne tat. Die gute Nachricht machte sie beide ein wenig schwummerig. Ob er damit den Pretender ausfindig machen könnte, würde man sehen, aber er hatte das Gefühl, den ersten Schritt gemacht zu haben, um seine wahre Identität herauszufinden. Endlich hatte der Pretender einen Fehler begangen, den sie ausnutzen konnten.
Wendy war eine gute Dozentin und erklärte kurz und prägnant. „Die Sache sieht so aus: Wir können sowohl unveränderliche Merkmale feststellen wie den IQ, Begabung, Temperament und Persönlichkeit, als auch Einblicke in Verhalten, Stimmungen, Vorstellungen, Motivationen und den körperlichen Zustand erhalten. Es gibt nur wenig, was wir mit einer ordentlichen Probe nicht über einen Menschen aussagen können. Die Handschrift ist so einzigartig wie Fingerabdrücke und Zahnschemata. Der Mensch lässt sich von drei grundlegenden Prinzipien leiten: körperlich, mental und emotional. Alle drei offenbaren sich in der Handschrift. Aber ich schweife ab. Der Grund, warum ich die Schrift von dem Brief aus dem alten Fall wiedererkannt habe, ist, dass ich hier das erste Mal ein echtes Beispiel des manischen D gesehen habe.“
„Das manische D. Charles Manson hatte das, wenn ich mich richtig erinnere. Das ist doch, wenn der senkrechte Strich des kleinen d sich sehr weit nach rechts lehnt, oder?“
„Genau. Manson und der Zodiac-Killer, selbst O.J. Simpson hat es. Es wird beinahe exklusiv von Psychopathen und Mördern verwendet. Von Gewaltverbrechern, den gefährlichsten Menschen überhaupt. In diesem Brief damals fand sich also das manische D, aber das war noch nicht alles. Die Handschrift wies außerdem eine unregelmäßige Schrägstellung auf. Bei den meisten Leuten neigt sich die Schrift in eine Richtung – nach links oder rechts oder ganz gerade von oben nach unten und in allen Variationen davon. Das hängt von unserer Stimmung und Persönlichkeit ab und davon, ob der Schreiber Links- oder Rechtshänder ist, aber normalerweise ist diese Richtung ziemlich konsistent. Seine jedoch war ein totales Durcheinander. Es wurde nicht eine Regel eingehalten – obwohl der Brief auf normalem linierten Papier geschrieben wurde, waren die Linien komplett ignoriert und die Ränder nicht eingehalten worden. Wir nennen den linken Rand die Gesellschaftslinie, und die hat er vollkommen missachtet. Die Buchstaben waren eng und der Druck auf das Papier so stark, dass es an einigen Stellen gerissen ist. Man musste kein Experte sein, um zu sehen, dass der Verfasser der Zeilen gewaltig verstört war.
Aber auch hochintelligent – die Ausdrucksweise war sehr gebildet, die Argumentation schlüssig. Aber die inkohärente Grundlinie sagte mir, dass ich es mit jemandem zu tun hatte, der geistesgestört war. Ich habe den Richter darüber informiert und überall Alarm geschlagen, wo ich nur konnte, aber damals hatte die Grafologie noch nicht den Einfluss, den sie heute hat.“ Sie lachte leise. „Und der ist immer noch verdammt gering. Ich hatte größte Probleme, sie dazu zu bringen, mir überhaupt zuzuhören. Der Fall kam aus einer sehr kleinen Stadt am Fuß der Berge von North Carolina. Der Junge war vierzehn, misshandelt worden und allein. Es gab nicht viele Programme, die sich um verstörte Kinder kümmerten, schon gar um den asozialen Sohn einer Mörderin. Nach den ersten Pflegefamilien und seiner Zeit in der betreuten Wohngruppe verliert sich seine Spur. Mehr ist in den Akten nicht zu finden. Jetzt wissen Sie genauso viel wie ich.“
„Ach Wendy, Sie machen sich über mich lustig.“
Sie lachte zustimmend. „Richtig. Ich weiß, dass Sie seinen Namen wissen wollen.“
„Da können Sie drauf wetten.“
„Ewan Copeland.“
„Ewan Copeland. Ewan Copeland. Warum kommt mir das so bekannt vor?“
„Sein Dad war Roger Copeland. Baseballspieler in der Minor League. Er hat die meiste Zeit seiner Karriere in der Minor League gespielt, ist aber für ein Jahr von den Atlanta Braves in die Major League berufen worden.“
„Heilige Scheiße. Jetzt erinnere ich mich wieder. Roger Copeland ist direkt nach Saisonende ermordet worden. Sie glaubten, seine Frau hätte es getan. Ist das der gleiche Fall?“
„Das ist er. Und Betty Copeland hat ihn getötet. Sie ist nachgewiesenermaßen geisteskrank. Ich bin ehrlich gesagt überrascht, dass sie nicht lebenslänglich in eine psychiatrische Klinik überwiesen wurde. Sie hatte einen schrecklichen Anwalt. Er hätte sie aufgrund von Unzurechnungsfähigkeit freibekommen können. Stattdessen sitzt sie einhundertzwanzig Jahre in Atlanta ab. Sie hat den Mord begangen, und das war alles, was für den Richter gezählt hat.“
„Lebt sie noch?“
„Ich weiß es nicht. Als ich das letzte Mal nachgeschaut habe, war sie noch am Leben und in Haft. Für Betty gibt es keine Bewährungsanhörungen. Das finden Sie aber auch alles in den Unterlagen, die ich Ihnen zugeschickt habe.“
„Und Sie sagen mir, dass der Mann, der den Brief geschrieben hat, den wir in dem Wohnwagen fanden, mit einem hohen Maß an Wahrscheinlichkeit die gleiche Person ist, die den Brief schrieb, in dem er um Gnade für seine Mutter bat, nachdem diese seinen Vater umgebracht hatte?“
„Genau das sage ich.“
„Wendy, ich weiß wirklich nicht, wie ich Ihnen das jemals zurückzahlen könnte.“
„Ich bin sicher, dass ich eines Tages auch einmal einen Gefallen benötige. Ich habe mir die Freiheit genommen, Ihnen per Overnight-Kurier Kopien von allem, was ich habe, an Ihre Privatadresse zu schicken. Sie müssten gleich morgen früh da sein. Ich hoffe, das hilft Ihnen weiter.“
„Mehr als Sie sich vorstellen können, Wendy. Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll.“
„Mir fällt schon was ein. Eine letzte Sache noch, Dr. Baldwin. Dieser Junge war nach dem Mord komplett dysfunktional. Der Rest seiner Familie war tot. Er war ganz allein. Wenn er Ihr Mörder ist, ist er offensichtlich zu etwas herangewachsen, das wir uns nicht vorstellen können. Ich möchte Sie nur warnen, besonders wachsam zu sein. Er ist ein sehr wechselhafter Mensch.“
„Das wusste ich bereits. Wir versuchen schon eine ganze Weile, ein Profil von ihm zu erstellen, doch das verändert sich auch ständig.“
„Das überrascht mich nicht. Er hatte damals keinen Halt und hat ihn offensichtlich auch bis heute nicht gefunden.“
„Danke Wendy. Nochmals, ich kann gar nicht sagen, wie sehr …“
„Ich weiß. Viel Glück.“
Baldwin legte auf und öffnete auf seinem Laptop eine Landkarte von North Carolina. Es dauerte nicht lange, bis er den Ort gefunden hatte – Forest City lag gleich südlich von Asheville, ein wenig mehr als eine Stunde Fahrt von dem Bergdörfchen entfernt. Jetzt, wo sie von der Verbindung nach North Carolina wussten, ergaben die Dinge langsam einen Sinn. Copeland hatte Fitz’ Auge eine Stunde von seiner Heimatstadt entfernt zurückgelassen – legte er es darauf an, gefasst zu werden? War er des Spiels müde und hatte das Massaker in Nags Head angezettelt, um sie auf die Spur seiner wahren Identität zu bringen? Das konnte durchaus sein; selbst wenn es sich um einen unterbewussten Antrieb handelte, würde er irgendwann wollen, dass sie erfuhren, dass aus Ewan Copeland der Pretender geworden war.
Baldwin rechnete kurz nach. Es waren mit dem Auto nur sechs Stunden nach Forest City. Genauso lang würde es dauern, das Flugzeug nach Nashville zu beordern und dorthin zu fliegen. So verlockend es auch klang, wieder mit einem Privatflugzeug zu reisen, er konnte von Garrett Woods nicht erwarten, dass er einem suspendierten Agent weiterhin den FBI-Jet zur Verfügung stellte. Nein, mit dem Auto zu fahren, war die bessere Entscheidung. Wenn sie jetzt losfuhren, könnten sie noch vor Tagesanbruch dort sein.
Aber er musste auf das Material warten, das Wendy ihm geschickt hatte. Verdammt.
Er fing an, auf und ab zu gehen, spielte mit der Idee, trotzdem zu fahren, entschied sich dann jedoch für die klügere Lösung. Eine Nacht durchzuschlafen würde nicht schaden. Die Richtung war gerade wesentlich klarer geworden, und tief in seinem Herzen wusste er, dass sie endlich zum Kern der Sache vordringen würden.
Er holte sein Telefon, um Taylor anzurufen, wobei ein leichtes Lächeln um seine Mundwinkel spielte.