34. KAPITEL
Taylor war nie glücklicher gewesen, die Auffahrt ihres Hauses zu sehen.
Jahrelang hatte sie überlegt, sich eine Wohnung in der Innenstadt zu kaufen. Vor allem die neuen Appartementhäuser mit Dachgartenpools und privatem Sicherheitsdienst wie Gulch, Terrazzo und The Icon fand sie sehr verlockend. Sie hatte fast ihr ganzes Leben als Erwachsene in einer Hütte auf einem Hügel westlich der Stadt verbracht, und als sie und Baldwin sich verlobten, hatten sie gemeinsam ein Haus gekauft, das groß genug war, dass sie beide ein eigenes Büro haben konnten und es sogar ein Extrazimmer für ihren Billardtisch gab. Sie liebte das Haus. Es war offen und geräumig und sehr individuell eingerichtet. Doch an Tagen wie diesen, wo sie sich mit letzter Kraft aus dem Büro schleppte und die zwanzigminütige Fahrt nach Hause vor sich hatte, wünschte sie, näher dran zu wohnen. Eine kurze Fahrt oder sogar zu Fuß nur ein paar Straßen gehen zu müssen wäre himmlisch, vor allem wenn sie so müde war wie heute.
Ihre Schlaflosigkeit wurde immer schlimmer, je älter sie wurde. Ihr war aufgefallen, dass sie in letzter Zeit selbst ihre wachen Stunden immer wie durch einen leichten Schleier wahrnahm. Stress und Jahre ohne ausreichend Schlaf forderten langsam ihren Tribut. Wenn sie doch einmal schlief, dann nur aus purer Erschöpfung. Das war nicht gut. Das würde sie früher oder später aus dem Spiel nehmen, wenn sie nicht vorsichtig war. Bei ihr war es so: Sie rannte, rannte, rannte, brach zusammen und bekam niemals die richtige Menge Schlaf. Und wenn sie ehrlich war, hatte sie die bislang auch nicht gebraucht. Sie kam gut mir drei oder vier Stunden Schlaf pro Nacht aus.
Vielleicht lag es nur an diesem Fall, dem Horror, den Fitz durchgemacht hatte, dem Druck, den sie sich selber auferlegte, um die Bedrohung für ihr Leben abzuwenden, doch sie fühlte den Schlafmangel so stark wie nie. Es machte ihr Sorgen. Sie musste im Moment so klar bei Verstand sein wie nie zuvor. Da sie nicht wusste, wie lange sich dieser Fall noch hinziehen würde, musste sie endlich anfangen, sich besser um sich zu kümmern. Die kleinste Unachtsamkeit konnte ihre Welt aus den Angeln heben. Sie durfte sich keine Fehler erlauben. Nicht jetzt. Nicht, wo sie so nah daran war.
Sobald der Fall vorüber war, würde sie Sam bitten, ihr etwas zu geben, das sie schlafen ließ. Oder Baldwin, obwohl sie ihm ihre Schwächen nur ungern eingestand. Es gefiel ihr, dass er sie für stark hielt. Dadurch fühlte sie sich noch stärker, noch inspirierter. Nein, Sam wäre die richtige Ansprechpartnerin. Eine Nacht würde vermutlich schon reichen, um ihre Batterien wieder aufzuladen.
Baldwin war auf dem Nachhauseweg ungewöhnlich schweigsam gewesen. Sie mochte ihr gemeinsames Schweigen genauso sehr wie ihre Unterhaltungen. Für sie war es ein Zeichen echter Liebe, dass sie mit ihm still sein konnte, dass sie die Luft zwischen sich elektrisch aufladen konnten, ohne ein Wort zu sagen. Er besaß eine gewisse Stille in sich, einen tiefen inneren Frieden, der sie anlockte wie der Honig die Biene. Sie hatte diese gleiche Ruhe in sich. Sie beide sprachen wortlos miteinander, ein symbiotischer Tanz ihrer Körper.
Er fuhr in die Garage und lächelte Taylor an. „Geh schon mal nach oben. Ich komme in ein paar Minuten nach.“
Dem Vorschlag folgte sie nur zu gerne. Mit schweren Schritten stieg sie die Treppe hinauf. Die Sonne stand kurz davor, aufzugehen, und warf ihr blasses Licht durch die Jalousien. Taylor zog die Gardinen vor, um das Schlafzimmer abzudunkeln. Dann zog sie sich aus und fiel nackt in das eiskalte Bett. Noch bevor ihr Kopf das Kissen berührte, war sie eingeschlafen.
Baldwin drehte im Erdgeschoss seine Runden durch Esszimmer, Flur, Wohnzimmer, Küche, Esszimmer. Er wusste, dass er schlafen sollte. Er hatte einen ebenso großen Schlafmangel wie Taylor, und ihr hatte man ihre Müdigkeit deutlich angesehen. Doch so müde er auch war, die Gedanken in seinem Kopf hörten nicht auf, zu rotieren. Die Vorstellung, dass Taylor schon früher auf Ewan Copelands Radar gelandet war, als sie ursprünglich gedacht hatten, ließ ihn nicht mehr los. Wenn er das gewusst hätte, wäre er diesen Fall ganz anders angegangen.
Er ging in die Küche und setzte den Wasserkessel auf. Vielleicht würde ein Kräutertee ihm helfen, sich zu entspannen. Er war vollgepumpt mit Koffein und Adrenalin und purer, unverfälschter Angst. Taylor zu verlieren wäre etwas, womit er nicht umgehen könnte. Das wusste er. Allein der Gedanken daran, dass er sich vielleicht verschätzt hatte, dass sie durch seinen Fehler hätte verletzt oder gar getötet werden können, machte ihn beinahe handlungsunfähig. Am liebsten würde er Taylor in ein Flugzeug setzen und so schnell wie möglich von hier fortbringen. Auf irgendeine kleine tropische Insel, wo er die örtliche Polizei mit einer großzügigen Spende dazu bringen könnte, sie zu beschützen, und eine Gruppe angeheuerter Bodyguards dafür sorgen würde, dass sie in Sicherheit war, bis der Mistkerl gefasst war.
Nicht sehr rational, aber verlockend. Sehr verlockend.
Die kleine Flamme des Gasherds brauchte Ewigkeiten, um das Wasser zum Kochen zu bringen. Er beschloss, solange die gestrige Post von draußen hereinzuholen. Sie waren gleich morgens nach North Carolina abgehauen, und bislang war er noch nicht dazu gekommen, den Briefkasten zu leeren. Er schaltete die Alarmanlage aus, damit Taylor nicht von dem Piepen geweckt würde, und schlüpfte zur Haustür hinaus. Im hellen Sonnenlicht musste er blinzeln. Er schirmte seine Augen mit der Hand ab – das erste Sonnenlicht des Tages, blendend wie ein Stroboskop.
Der Briefkasten war voll mit dem üblichen Kram. Auf dem Rückweg zum Haus blätterte Baldwin die Post durch. Rechnung. Rechnung. Zwei Kreditkartenabrechnungen, eine für ihn, eine für Taylor. Kataloge von Geschäften, bei denen sie nie einkauften. Zeitschriften. Er seufzte. Einfach nur ein Haufen Müll. Er schob die Briefe wieder zusammen und betrat das Haus.
Beinahe hätte er es übersehen.
Wenn er nicht über die Stufe gestolpert wäre und den Stapel fallen gelassen hätte, hätte er es nicht gesehen. Es lugte auf den roten Pflastersteinen zwischen zwei Zeitschriften heraus. Ein roter Umschlag mit dem handgeschriebenen Namen Taylor darauf. Er war nicht zugeklebt, die Lasche steckte hinten nur lose drin. Mit einem Stift öffnete er den Umschlag. Darin steckte eine Valentinskarte.
Er öffnete sie und ignorierte die schmalzigen Worte vorne drauf. Stattdessen las er gleich die Nachricht im Inneren.
Rosen sind rot
Veilchen sind blau
Colleen Keck ist tot
Und du bist es auch.
In der Karte lag außerdem eine dünne Kunststoffhülle mit einer CD darin.
Er ließ alles auf die Stufen fallen und rannte ins Haus, schlug die Tür hinter sich zu und nahm die Treppe nach oben zwei Stufen auf einmal.
Ihr Schlafzimmer lag im Dunkeln; das einzige Geräusch war Taylors leiser, tiefer Atem.
Ihr ging es gut.
Ihm nicht. Er war schwer verstört. Er schaute ihr ein paar Minuten beim Schlafen zu, dann ging er leise durch das gesamte Haus und schaute in allen Badezimmern und Schränken nach. Niemand da. Keine Fallen, keine Tricks. Der Mistkerl spielte schon wieder mit ihnen.
Er kehrte nach unten zurück, schaute auch da überall nach, und ging dann nach draußen, um die restliche Post hereinzuholen, die verteilt auf den Stufen lag, wo er sie hatte fallen lassen. Er hob die Karte auf und achtete dieses Mal nicht auf die Worte, sondern auf die Kunststoffhülle. Mit dem Umschlag der Kreditkartenabrechnung drehte er die Hülle herum. Die CD war mit schwarzen Blockbuchstaben beschriftet. Nummern. Bevor er sie entschlüsseln konnte, fing sein Herz schon an zu rasen. Die Haare im Nacken standen ihm zu Berge. Jemand war hinter ihm.
Jesus.
Er rührte sich nicht und wurde ganz ruhig.
Das war es also. Trotz seiner erhöhten Alarmbereitschaft war er unachtsam gewesen und hatte sich vor seinem Haus erwischen lassen. Die Haustür war unverschlossen, die Alarmanlage nicht an. Perfektes Timing. Wie hatte er nur so dumm sein können, in seiner Aufmerksamkeit nachzulassen, während Taylor schlief und so verletzlich war wie nie?
Nichts. Kein Schuss, kein Geräusch.
Er konnte nicht anders, er drehte den Kopf und schaute sich um.
Zwei Männer standen neben ihm. Große Männer, fit, muskulös, mit dunklen Sonnenbrillen und Pistolenholstern. Keiner bewegte sich oder griff nach seiner Waffe.
Er atmete noch.
Baldwin stand ganz langsam auf. Er sammelte die Post ein und strich seine Hose glatt. Ein großer Fehler, unbewaffnet an den Briefkasten zu gehen, sich nicht umzusehen, schnell wieder ins Haus zurückzueilen, die Tür unverschlossen zu lassen. Er war so in Gedanken versunken gewesen, so konzentriert, dass er vergessen hatte, was auf dem Spiel stand.
Die Männer rührten sich nicht.
„Gentlemen“, sagte er schließlich. „Was kann ich für Sie tun?“
„Geht es Miss Taylor gut, Sir?“
Sir. Miss Taylor. Respektvoll. Sein Atem kehrte zu ihm zurück. Er musste sich zwingen, nicht einen erleichterten Seufzer auszustoßen. Sie machten nur ihren Job. Es waren Taylors Beschützer.
„Sie schläft. Wer sind Sie?“
„Ich bin Wells. Das ist Rogers. Miss Taylor hat uns engagiert. Personenschutz. Sie hat ihre Meldung ausgelassen.“
Er war nicht dumm, er würde kein weiteres Risiko mehr eingehen. Das hätte er schon in North Carolina tun sollen, bevor alles den Bach runterging.
„Ihre Ausweise bitte.“
Sie zogen ihre Ausweise hervor. Die Bilder passten zu ihren Gesichtern, das P mit dem Dollarzeichen – Prices Firmenlogo – war auch da. Alles sah rechtmäßig aus.
Der Größere der beiden verlagerte ein wenig sein Gewicht, eine winzige Bewegung. Baldwin sah, dass seine Hand jetzt auf dem Griff seiner Waffe ruhte.
„Sir, ich muss Sie erneut fragen. Wo ist Miss Taylor?“
„Ihr geht es gut. Wir stehen hier draußen zu exponiert. Kommen Sie bitte mit rein.“
Die Männer folgten ihm, ohne zu zögern, sodass er sich fragte, wie befehlend seine Stimme wohl geklungen haben mochte. Sie arbeiteten nicht für ihn, sie arbeiteten für Taylor. Vielleicht hatte sie sie angewiesen, auch Baldwins Anordnungen Folge zu leisten? Nein, das sah ihr nicht ähnlich. Verdammte Frau, besorgte sich einfach selber Personenschutz. Als wenn das FBI nicht ausreichend wäre. Als wenn er nicht ausreichend wäre.
Er sammelte sich, während er die beiden Männer in die Küche führte, die mit einem Mal sehr klein wirkte. Die Bodyguards waren zwar nicht so groß wie Baldwin, aber dafür sehr viel breiter. Sie wirkten stark und fähig.
„Tee?“, fragte er und zeigte auf den Kessel.
Beide schüttelten den Kopf. Baldwin nahm an, dass Tee für diese Jungs nicht das richtige Getränk war. Vermutlich tranken sie eher Batteriesäure auf Eis oder so.
„Verzeihen Sie, Sir, aber wir müssen uns persönlich davon überzeugen, dass es Miss Taylor gut geht. Befehl von Mr Price“, sagte Wells.
„Das verstehe ich. Ihr geht es gut. Sie ist nur müde. Ich wollte, dass sie ein wenig schläft. Sie hat ein paar anstrengende Tage hinter sich.“
„Wem sagen Sie das. Aber …“
„Ich werde sie jetzt nicht wecken, damit Sie Prices Neugier befriedigen, haben Sie das verstanden?“ Baldwin versuchte, einen freundlichen Ton beizubehalten, aber langsam reichte es ihm. Wells erkannte die Anzeichen drohenden Ärgers, wog seine Möglichkeiten ab und nickte kurz.
„Nur eine Sekunde“, sagte er und holte sein Handy heraus. Baldwin hörte Prices Stimme am anderen Ende. Wells übermittelte ihm den aktuellen Status, sagte ein paar Mal „hm, hm“ und reichte das Telefon dann an Baldwin weiter.
„Er möchte mit Ihnen sprechen.“
Baldwin nahm das Handy.
„Hallo Mitchell.“
„Nun, du klingst nicht so verärgert, wie ich es erwartet hatte. Sie hat mir erzählt, dass du deine Jungs abgezogen hast. Ich denke, sie will dir gegenüber nicht zugeben, dass sie Angst hat, Baldwin.“
„Du hättest mir etwas sagen können, nachdem sie dich angerufen hat.“
„Und die Rache des Khan heraufbeschwören? Auf keinen Fall. Das ist ihre Sache und ihr Geld.“
„Du hast recht, Mitchell. Sie muss allein entscheiden, wem sie im Moment traut. Ich will dich nicht länger aufhalten, sondern nur sichergehen, dass diese Jungs zu dir gehören.“
„Das tun sie. Pass auf dich auf, Baldwin. Und auf sie.“
Baldwin legte auf und reichte das Handy an Wells zurück, der es in seine Jackentasche steckte.
„Wir warten dann hier, bis sie aufwacht, Sir.“
„Okay. Setzen Sie sich. Sie schläft jetzt seit einer guten Stunde. Ich werde sie um sieben wecken. Versuchen Sie, nichts kaputtzumachen, während Sie warten.“
Sie setzten sich nicht, aber Wells lehnte sich gegen die Arbeitsplatte in der Küche und verschränkte seine mächtigen Arme vor der Brust. Sein Partner Rogers war der Stillere der beiden. Er schaute einfach nur zu Boden, als wäre die Maserung im Holz das Faszinierendste, was er je gesehen hatte. Ab und zu schaute er auf, als bitte er um Erlaubnis, weiterhin eine Statue imitieren zu dürfen.
Baldwin zuckte mit den Schultern und überließ die beiden sich selbst. Es fühlte sich merkwürdig gut an, sie in der Nähe zu haben. Langsam geriet alles außer Kontrolle, die Sandkörner fielen immer schneller durch das Uhrenglas. Er spürte, dass etwas in der Luft lag, eine Art Erwartung, heraufziehendes Verderben. Sie eilten der Lösung des Falles entgegen, ob sie es nun wollten oder nicht.
Er rief Lincoln an und erkundigte sich nach Colleen Keck. Ihr ging es offenbar gut. Sie war zwar wütender als ein nasses Huhn, weil sie nicht gehen durfte, aber sie war in Sicherheit und quicklebendig. Also war die Karte nicht ganz korrekt. Nur eine weitere dumme Drohung. Er bat Lincoln, besonders achtzugeben, und legte auf.
Er legte den Poststapel auf den Küchentresen und nahm sich ein paar Einweghandschuhe aus der Küchenschublade. Die beiden Jungs schauten ihm interessiert zu.
Die CD-Hülle war zugeklebt und offensichtlich persönlich ausgeliefert worden. Keine Briefmarke auf dem Umschlag, nichts, das zurückverfolgt werden konnte. Clever und ungemein gruselig. Er hasste den Gedanken, dass der Pretender wusste, wo sie wohnten, und sich jederzeit Zutritt zu ihnen verschaffen konnte.
„Hey, hat einer von euch in den letzten Tagen das Haus bewacht?“
Wells schüttelte den Kopf. „Nein, Sir. Wir sind Ihnen nach Forest City gefolgt. Verdammt langweilige Fahrt, das kann ich Ihnen sagen.“
„Was, die majestätischen Blue Ridge Mountains haben Ihnen nicht gefallen?“
„Ich ziehe die Rockies vor, Sir. Das sind wenigstens echte Berge. Besser noch, setzen Sie mich mit dem Fallschirm irgendwo in fünfundzwanzigtausend Fuß über dem Hindukusch ab. Das bringt richtig Spaß.“
Beinahe hätte Wells gelächelt. Aber nur beinahe. Und Rogers wirkte zum ersten Mal interessiert.
Söldner. Ehemalige Militärtypen, die jetzt wieder in den Staaten zurück waren. Professionelle, zähe Jungs, die auf seine Verlobte aufpassten. Er wusste nicht, ob er wütend oder dankbar sein sollte.
„Tja, während Sie uns gefolgt sind, hat der Mörder das hier in unseren Briefkasten gesteckt.“
„Das sollten wir melden, Sir“, sagte Wells und steckte die Hand in die Tasche.
„Eine Sekunde, okay? Lasst mich erst einmal sehen, was das überhaupt ist.“
Wells ließ sein Handy für den Moment stecken. Das war das Gute an Berufssoldaten: Sie konnten mit Befehlen umgehen.
Baldwin ging in die Vorratskammer und holte eine kleine Kiste heraus, die mit den Werkzeugen für eine rudimentäre forensische Untersuchung ausgestattet war. Als Erstes nahm er das Fingerabdruckpulver und einen Pinsel heraus, stäubte die CD-Hülle ein und verteilte das Puder auf der glatten Oberfläche. Nichts. Mit einem Skalpell schlitzte er das Klebeband auf, das die Hülle verschloss, und führte die Prozedur in der Innenseite noch einmal mit einem neuen Pinsel durch. Es wäre zu schön, auf einen Fingerabdruck zu stoßen … Wieder nichts.
Er nahm die CD heraus und las die Buchstaben. Sie ergaben keinen Sinn. Einfach nur Zahlen und Buchstaben, die ihm nichts sagten. Im Dechiffrieren war er eigentlich ganz gut, das war etwas, wofür er sich interessierte, aber hier sprang ihn rein gar nichts an, wo er ansetzen konnte. Er ließ die Kombination durch seine mentale Dechiffriermaschine laufen. Nichts.
Sorgfältig schrieb er die Buchstaben und Zahlen in sein Notizbuch ab und ging dann zu der Stereoanlage ins Wohnzimmer hinüber. Er legte die CD ein, drückte auf Play und regelte für den Fall der Fälle die Lautstärke herunter, um Taylor nicht zu wecken.
Die ersten Töne einer vertrauten Melodie erklangen, und Baldwin schüttelte den Kopf. Was für ein geschmackloser, dämlicher Versuch, eine Botschaft zu übermitteln.
Es war ein Lied von den Platters aus den Fünfzigern. Er hatte es noch nie in diesem Kontext betrachtet. Für einen Stalker war es perfekt.
„Oh yes, I’m the great pretender … I’m lonely, but no one can tell … you’ve left me to dream, all alone.“
Oh ja, der arme, einsame Thronfolger, der ganz alleine träumen musste. Mein Gott. Baldwin wurde wütend. Dieser verdammte Freak ging ihm langsam auf die Nerven.
„Was bedeutet das, Sir?“, fragte Wells. Er und Rogers waren ihm ins Wohnzimmer gefolgt und schauten ihn jetzt besorgt an. Baldwin merkte, dass er die CD-Hülle so fest umklammert hielt, dass sie gebrochen war. Ein kleiner Blutstropfen fiel von seinem Finger auf den Parkettfußboden, dann folgten weitere in immer kürzeren Abständen. Mist. Er hatte sich böse geschnitten.
Er drückte auf die Stopptaste, ignorierte das Angebot von Wells und Rogers, ihm zu helfen, und ging in die Küche. Dort nahm er ein Geschirrhandtuch aus einer Schublade und wickelte es um seine Hand. Zurück im Wohnzimmer guckte er, wie viel Blut auf den Fußboden getropft war, und fragte sich, wie viele Chancen er noch bekommen würde.