20. KAPITEL
Das dunkle Wasser schlug träge ans Ufer. Taylor hörte das Geraschel von Tieren in den umliegenden Wäldern. Es war hier sehr ruhig, der Hafen lag ziemlich isoliert. Deshalb hatte der Mörder ihn ausgesucht. Weil er abseits der viel genutzten Wege lag.
Ein vertrautes Zirpen drang an ihre Ohren, drang durch das Hintergrundgemurmel und die Gespräche der Leute von der Spurensicherung.
Grillen. Grillen im Winter. Bestimmt gab es irgendein Ammenmärchen, das sich darum drehte. Vermutlich würde die Erde aufhören, sich um ihre Achse zu drehen, oder Sam würde einen Jungen bekommen, oder eine Katze würde über ihr Grab laufen. Sie sollte Ariadne fragen, die Hexe wüsste bestimmt, was es damit auf sich hatte. Das tat sie immer.
Taylor beobachtete, wie Sam die Leiche in den Van der Rechtsmedizin schieben ließ. Ihre Anweisungen waren ehrerbietig und dennoch effizient. Marcus kümmerte sich um die Ermittlungen; Taylor musste eigentlich nicht länger hierbleiben. Sie beschloss, noch ein paar Minuten zu warten. Irgendwie fühlte sie sich verantwortlich. Nein, eher schuldig, wenn sie ehrlich war. Was verrückt war, denn sie war weder für den Tod des Jungen noch für diesen Fall verantwortlich. Aber die Tatsache, dass ein weiteres Kind gestorben war, war einfach zu viel für sie.
Wann würde das aufhören? Lag es an ihr, hatte sie etwas falsch gemacht? Und wenn der Pretender doch so verdammt allwissend war, wieso ergriff er seine Chance nicht endlich? Es machte ihn an, wenn Polizisten in der Nähe waren. Sie war extra ganz allein an den Rand der Szenerie getreten. Wenn er sie beobachtete, würde er jetzt vielleicht zuschlagen. Aus der Ferne, in der Dunkelheit, wäre das Einfachste ein Schuss auf ihren Körper, den ihre Weste allerdings abfangen würde.
Ihr wurde bewusst, dass sie annahm, der Schechter-Junge wäre nur ein Trick, um sie abzulenken, was ihre Sinne nur noch mehr schärfte. Der Tod war ein unbegrenztes Gut.
Wut flammte in ihr auf. Komm schon, du Hurensohn. Legen wir los. Die Dunkelheit antwortete mit Schweigen, das nur von den Grillen und dem Stöhnen der Ermittler durchbrochen wurde.
In den letzten paar Monaten war die Mordrate in Nashville gestiegen. Obwohl die Aufklärungsrate ihres Teams immer noch zwischen achtzig und dreiundachtzig Prozent lag und damit höher als bei jedem anderen Team in der Metro und überhaupt im County, bedeuteten mehr aufzuklärende Morde mehr Arbeit und damit Stress für alle. Sie wusste, dass der Pretender seinen Anteil daran trug, schließlich hatte er ganz allein dafür gesorgt, dass die Opferzahl um fünfzehn Prozent gestiegen war. Aber auch andere Fälle hatten dieses Jahr dazu beigetragen. Nashville war eigentlich eher eine Stadt der niederen Verbrechen – Drogen, Prostitution, Gangs – als der Serienmörder, doch irgendwie spürten die Irren sie immer auf.
Ein weiterer Grund, warum sie das Problem lösen musste, und zwar schnell. Wenn sie den Pretender eliminierte, würde die Verbrechensrate sofort sinken. Der Chief wäre glücklich mit ihr, Delores Norris, Chefin des Office of Professional Accountability, wie die Dienstaufsichtsbehörde offiziell hieß, würde aufhören, jeden ihrer Schritte zu überwachen, Fitz würde wieder zur Arbeit kommen, ihr Team wäre endlich wieder zusammen, und das Leben würde weitergehen.
Ja, sein Tod war der Schlüssel.
Sam unterbrach ihre Tagträumerei. „Wir können jetzt fahren. Tabor trifft sich dort mit uns.“
Taylor drehte sich zu ihrer besten Freundin um. „Du siehst müde aus. Du könntest den Fall an einen der anderen Rechtsmediziner abgeben.“
Sam war in der achten Woche schwanger. Sie hatte tiefe Ringe unter den Augen, und ihr Gesicht wirkte vor Erschöpfung ganz ausgezehrt.
„Ist schon okay. Simon kümmert sich um die Zwillinge, und mir geht es im Moment gut. Ich habe diese Woche Spätschicht, das funktioniert ganz gut. Es ist eher der Morgen, der mich schafft. Mir ist dieses Mal viel öfter übel als bei den Zwillingen. Mein Gott, bei denen wusste ich die ersten Monate ja nicht einmal, dass ich überhaupt schwanger war.“
„Ein Grund mehr, dir ausreichend Ruhe zu gönnen. Aber ich verstehe dich. Ich habe gesehen, wie ein paar der Jungs telefoniert haben. Ich hoffe, dass das hier noch nicht durchgesickert ist. Halt ein Auge drauf, okay?“
„Klar. Wir sehen uns später.“
„Warte, Sam. Macht es dir etwas aus, wenn ich dich begleite?“
Sam wirkte überrascht, schüttelte aber den Kopf. „Überhaupt nicht. Ich würde mich über ein wenig Gesellschaft freuen. Wir sehen uns dann da.“
Taylor schaute Sam hinterher, die mit großen Schritten zu dem weißen Van der Rechtsmedizin ging. Als sie abgefahren war, suchte Taylor nach Marcus, um ihn wissen zu lassen, dass sie jetzt weg wäre. Als sie in ihrem Wagen saß, wollte sie Baldwin anrufen und ihm sagen, dass sie jetzt in die Rechtsmedizin fuhr, doch ihr Akku war leer. Wie unachtsam von ihr. Normalerweise achtete sie immer ganz genau darauf, dass ihr Handy immer geladen war. Doch durch den Kurztrip nach North Carolina, das Wiedersehen mit Fitz, die Morde am Morgen hatte sie es einfach vergessen. Baldwin würde verärgert sein und ihr die Leviten lesen. Sie konnte es ihm nicht vorwerfen, es war wirklich ein dummer Fehler.
Sie stieg wieder aus und ging zu Marcus, um sich sein Handy auszuleihen. Ihre Taschenlampe brauchte sie nicht, die aufgestellten Scheinwerfer beleuchteten den Tatort ausreichend. Sie schlängelte sich an einem der Stative vorbei und drehte sich, um unter der Absperrung hindurchzuschlüpfen. Aus dem Augenwinkel sah sie etwas Orangefarbenes. Sie blieb stehen und schaute genauer hin. Auf den Stamm des Baumes, der ihr am nächsten stand, war ein Pentakel gemalt worden.
Sie rief nach einem der Kriminaltechniker. „Hey, Iles, komme mal bitte kurz her.“
Iles war gut und clever. Ruhig und sachlich. Sie mochte ihn. Er kam lächelnd auf sie zu, seine Zähne blitzten in seinem gebräunten Gesicht auf. Sie fragte sich, ob er auf die Sonnenbank ging oder in ein Spraytan-Studio oder vielleicht sogar beides. Denn mal ehrlich, ein Teint am Winteranfang? Diese metrosexuellen Männer, sie wusste nie, was sie von ihnen halten sollte. Normalerweise hatte sie kein großes Vertrauen in Männer, die mehr Zeit im Badezimmer benötigten als sie – abgesehen von Lincoln natürlich. Sein Faible für Klamotten fand sie äußerst faszinierend. Der Mann war nicht einfach nur ein Poser, sondern er hatte Geschmack und Stil.
„Was kann ich für Sie tun, Lieutenant?“
Sie zeigte auf den Baum. „Hat sich das schon jemand angeguckt?“
Iles leuchtete mit der Taschenlampe die Borke ab. Das fluoreszierende Orange sprang ihnen in 3-D entgegen. Gruselig. Es war mit der Sprühdose aufgetragen worden, kleine orangefarbene Tropfen waren den Stamm heruntergelaufen und hatten sich in der Borke und auf dem Boden gesammelt. Taylor beugte sich vor und atmete tief durch die Nase ein. Der beißende Geruch von Aceton stieg ihr in die Nase. Nicht ganz frisch, aber auch noch nicht trocken.
„Nein, das glaube ich nicht. Denken Sie, es hat etwas mit dem Tatort zu tun?“
„Ein toter Teenager und ein Pentakel am Tatort? Entweder ja – oder hier hat jemand einen sehr kranken Sinn für Humor.“
Sie rief Marcus zu sich. Er kam und schaute sie fragend an.
„Was ist los, LT? Sie haben gerade einen Rucksack unter dem Ast gefunden, sieht aus wie der von dem Jungen. Ich glaube, wir werden hier noch ein paar Stunden brauchen.“
„Hast du das gesehen?“
Marcus schaute zu dem Baum.
„Nein, habe ich nicht.“ Er wandte sich an Iles. Seine Stimme klang angespannt. „Fotografieren Sie das sofort.“
„Warum sollte jemand ein Pentakel an einen so weit weg stehenden Baum sprühen?“, fragte Iles. „Ich dachte, Sie hätten den Jungen, der für das Halloween-Massaker verantwortlich war, erschossen und den Rest von ihnen eingesperrt?“
Taylor versuchte, unter Iles Worten nicht zusammenzuzucken.
„Lassen Sie uns einfach beten, dass es sich nur um einen schlechten Scherz handelt“, sagte sie.
In tiefer Stille fuhr sie zur Rechtsmedizin. Dort würde sie als Erstes ein Telefon suchen und Baldwin anrufen. Es war schon nach Dienstschluss, und das Gebäude lag in völliger Dunkelheit. Mit ihrer Schlüsselkarte öffnete sie die Eingangstür. Sie gab verdammt noch mal ihr Bestes. Von außen betrachtet wirkte es nicht sonderlich klug, alleine im Dunkeln herumzulaufen. Ihr wurde immer mehr bewusst, wann sie wie verletzlich war. Es war gar nicht so schwer, sich angreifbar zu machen. Sie musste nur so tun, als würde sie nicht auf ihre Umgebung achten, als fühlte sie sich wohl genug, um in ihrer Wachsamkeit nachzulassen. Und das bedeutete, in der Nähe derer, die sie liebte, auf einem schmalen Grat zu wandern, um ihn hervorzulocken.
Sie war jetzt schon seit einigen Stunden allein. Warum hatte er noch nicht den nächsten Zug gemacht? Worauf wartete er in drei Gottes Namen?
Das Türschloss schnappte auf, und Taylor betrat das Gebäude. Der Empfang lag dunkel und verlassen da. Kris, das temperamentvolle Mädchen, das tagsüber hier saß und sich um Anrufe, Anfragen und trauernde Familien kümmerte, lag hoffentlich schon zu Hause im Bett.
Taylor zog Kris’ Stuhl hervor und setzte sich. Als sie nach dem Telefonhörer griff, fiel ihr ein Foto ins Auge, das Kris an ihren Computermonitor geklebt hatte. Kris und Barclay Iles in Badesachen, wie sie sich sonnengebräunt und glücklich umarmten. Ah. Das erklärte Iles gesunde Farbe. Taylor hatte nicht gewusst, dass die beiden ein Paar waren. Kris schien immer eher auf Bad Boys zu stehen, und Iles war …harmlos, um ehrlich zu sein. Hm, interessant.
Sie wählte ihre Festnetznummer, aber Baldwin ging nicht ran, sondern es meldete sich gleich der Anrufbeantworter. Das geschah nur, wenn er auf der anderen Leitung telefonierte, also hinterließ sie ihm eine Nachricht, wo sie war, erzählte kurz von dem Pentakel am Fundort von Peter Schechters Leiche und sagte ihm zum Schluss, dass sie ihn liebte. Zufrieden mit sich legte sie auf.
Nach einem letzten Blick auf das Bild von Kris und Barclay Iles stand sie auf, durchquerte die Lobby und zog ihre Schlüsselkarte durch den Kartenleser am Eingang zum Allerheiligsten der Rechtsmedizin. Ein langer Flur führte zu den Autopsieräumen. Taylor lächelte, als sie an Sams Büro vorbeikam. Die Tür stand offen, eine kleine chinesische Lampe erfüllte den Raum mit sanftem Licht. Alles war an seinem Platz. Sam war eine Ordnungsfanatikerin; in ihrem Büro sah es nie so aus, als wäre gerade eine Bombe explodiert. Dieser leicht zwangsneurotische Hang machte aus ihr so eine gute Rechtsmedizinerin. Es gab kaum einmal etwas, das sie übersah.
Taylor betrat die Umkleidekabine für Frauen, band ihr Haar zum Zopf und zog sich die obligatorische OP-Kleidung über. Sie wollte nicht, dass ihre Zivilklamotten auch nur in die Nähe des Obduktionsraums kamen – Wasserleichen waren am schlimmsten; wenn man da nicht ganz genau aufpasste, stank man noch tagelang.
Sam hatte bereits angefangen. Sie trug ihre Ganzkörper-Bleischürze und stand mit einem Becher grünem Tee in der Hand an der Tür. Sie war nicht allein. Dr. Michael Tabor, der forensische Odontologe des Staates Tennessee, betrachtete am Leuchtkasten eine Röntgenaufnahme. Stuart Charisse, Sams Laborassistent, machte derweil weitere Röntgenaufnahmen des immer noch vollständig bekleideten Leichnams.
Tabor begrüßte Taylor mit einer Umarmung. Sie arbeitete gerne mit ihm zusammen. Er war nicht nur ein guter Zahnarzt, sondern auch einer der erfahrensten forensischen Odontologen im Staat. Seine Verbindungen nach Los Angeles und New York hatten ihm landesweite Bekanntheit eingebracht und ermöglichten es ihm, auch außerhalb von Tennessee zu arbeiten. Nach dem 11. September war er nach New York berufen worden, um bei der Identifizierung der Opfer zu helfen. Unermüdlich hatte er in New York wochenlang alles gegeben, um Feuerwehrmännern, Polizisten und den anderen unschuldigen Männern und Frauen, die beim Einsturz der Türme ums Leben gekommen waren, einen Namen zu geben. Taylor wusste, dass dieses Erlebnis ihn verändert hatte, und sie respektierte ihn sehr für seinen Einsatz.
Während Stuart den Kopf der Wasserleiche vorbereitete, um die Zähne zu röntgen, ging Tabor das nationale Zahnschemaregister auf seinem Laptop durch. Auch wenn er sich zwei Röntgenaufnahmen anschauen und beinahe sofort sagen konnte, ob sie zu ein und derselben Person gehörten, war das hier ein offizieller Fall, der verlangte, dass ein gewisses Prozedere eingehalten wurde.
Auf dem Papier schien der Prozess zur Identifizierung über das Zahnschema leicht zu sein. Man musste einfach die postmortal erstellten Röntgenaufnahmen mit den in der riesigen FBI-Datenbank erfassten Zahnschemata vergleichen. In Wahrheit hatte man dabei allerdings kaum einmal das Glück, einen Treffer zu erzielen. Das zentrale Zahnregister sollte eigentlich im ganzen Land Standard sein. Doch viele der dörflicher gelegenen Polizeireviere hatten Schwierigkeiten, ihre Datenbanken zu füttern, weil ihre Opfer nur selten zum Zahnarzt gingen. Und die Reviere in den großen Städten hatten so viele Fälle auf ihren Schreibtischen, dass sie auch nicht dazu kamen. Der Punkt, an dem der Abgleich zügig und glatt verlief, war noch nicht erreicht.
Die dahinterstehende Idee war ganz einfach. Wenn jemand vermisst gemeldet wurde, fragte der jeweilige Ermittler die Familie, ob die vermisste Person in den letzten Jahren bei einem Zahnarzt gewesen war. Wenn vorhanden, wurden die Röntgenaufnahmen und der Zahnstatus erfasst und in die Datenbank eingegeben.
Wenn ein mögliches Opfer auftauchte, untersuchte ein forensischer Odontologe die Leiche und erstellte anhand von neuen Röntgenaufnahmen und dem, was er sah, einen Zahnstatus. Die Datenbank wirkte dann ihr Wunder und spuckte einen Treffer aus, woraufhin die Familie darüber informiert werden konnte, dass der Vermisste gefunden worden war. So weit die Theorie.
Peter Schechters Fall war ein bisschen leichter. Er wurde erst seit fünf Tagen vermisst, und seine Eltern hatten am Wochenende die Zahnunterlagen bei der Polizei vorbeigebracht; sie befanden sich also bereits im Zentralregister. Tabor hatte die Vergleichsaufnahmen schon vorbereitet.
Taylor beobachtete, wie Stuart und Tabor Hand in Hand arbeiteten. Tabor nickte und schnalzte mit der Zunge. Er hatte ein Pokergesicht aufgesetzt, sodass Taylor nicht wusste, ob sie einen Treffer hatten oder nicht. Sam füllte irgendwelche vorbereitenden Papiere aus. Taylor ging zu ihr.
„Ich wusste gar nicht, dass Kris und Barclay Iles ein Pärchen sind“, sagte sie.
Sam runzelte angesichts der Störung die Stirn und antwortete, ohne den Stift abzusetzen: „Ja, sie haben es uns vor ein paar Monaten erzählt. Sie war der Grund, warum er überhaupt angestellt wurde – sie hat mir seinen Lebenslauf gegeben. Er war beinahe überqualifiziert – er hat ein paar Jahre Medizin studiert, bevor er die Universität verlassen hat. Als ich herausgefunden habe, dass er ihr Freund ist, war ich erst ein wenig verärgert, aber es scheint weder seine noch ihre Arbeit zu beeinträchtigen. Ich sehe ja, wie gut du und Baldwin zusammenarbeitet, also habe ich mich entschieden, nicht allzu streng zu sein und die beiden machen zu lassen.“
„Du nimmst mich und Baldwin als Beispiel?“
„Natürlich. Gott weiß, dass Simon und ich nicht miteinander arbeiten könnten. Ich würde ihn erwürgen, und er würde sich von mir scheiden lassen. Wir sind beide viel zu große Kontrollfreaks. Aber ihr beide, ihr habt diese perfekte Mischung aus Geben und Nehmen. Ihr ergänzt einander, anstatt euch gegenseitig die Köpfe einzuschlagen. Das finde ich cool.“
Sam hatte recht. Taylor arbeitete gerne mit Baldwin zusammen. Genau wie mit ihrem ganzen Team. Sicher, sie hatte jeden Einzelnen davon handverlesen, hatte darauf geachtet, dass ihre Persönlichkeiten zueinanderpassten, aber Sam hatte einen guten Punkt angesprochen. Es war nicht immer leicht, mit seiner besseren Hälfte zu arbeiten.
„Er ist es“, sagte Tabor.
„Kein Zweifel?“, fragte Sam.
„Nein, kein Zweifel. Die Röntgenaufnahmen passen perfekt zueinander. Tut mir leid, Ladies. Den Rest der Papiere werde ich morgen früh ausfüllen. Aber soweit es mich betrifft, könnt ihr die Eltern schon benachrichtigen.“ Tabor packte seine Sachen zusammen, nickte Taylor und Sam zu und verließ den Autopsiesaal.
Sam stellte ihre Teetasse weg. „Okay. Stuart, ziehen wir ihn aus.“
Taylor schaute zu, wie die beiden mit der nassen Kleidung kämpften. Als das Hemd ausgezogen war, wurde sie von Erleichterung gepackt.
Sie rief Marcus an. Er hob nach dem ersten Klingeln ab.
„Ist es Schechter?“, fragte er anstelle einer Begrüßung.
„Ja. Tabor ist gerade eben mit dem Zahnvergleich fertig geworden.“
„Verdammt. Na gut. Ich fahre raus zu seinen Eltern. Gibt es schon was Neues wegen des Pentakels? Ist Schechter ein spätes Opfer der Halloween-Morde?“
„Wir haben an seinem Körper keine sichtbaren Messerspuren oder Ritzereien gefunden. Ich glaube nicht, dass die Fälle zusammenhängen. Man kann allerdings nie wissen. Für mich fühlt sich das jedoch nicht wie die Halloween-Morde an. Ich fahre jetzt nach Hause. Sag den Eltern, dass Sam sie für eine Identifizierung …“ Sie schaute zu Sam, die zwei Mal vier Finger hochhielt. „…gegen acht Uhr morgen früh erwartet. Und Marcus, nachdem du mit den Schechters gesprochen hast, fährst du auch nach Hause, okay? Du hattest einen verdammt langen Tag.“
„Da sagst du was, Schwester. Wir sehen uns morgen.“
„Sicher.“
„Oh, hey, eine Sache noch. Gibt es schon einen Hinweis auf die Todesursache? Danach werden seine Eltern sicher fragen.“
„Einen Moment.“ Taylor wandte sich an Sam. „Sam, schon irgendeine Vorstellung von der Todesursache?“
Sam, die Stuart gerade half, die Leiche zu waschen, rief: „Noch nicht. Es gibt blaue Flecken am Hals, aber morgen früh werde ich mehr wissen. Halte sie hin.“
„Hast du das gehört?“, fragte Taylor ihren Kollegen.
„Ja.“ Marcus seufzte. Die Hinterbliebenen zu informieren war mit das Schlimmste an ihrem Beruf. Auch wenn sie vom Seelsorger begleitet wurde, wie es die Regeln der Metro vorschrieben, war es zutiefst verstörend, mit ansehen zu müssen, wie eine Familie die schlimmste aller möglichen Nachrichten erhielt; eine Nachricht, die ihre Welt von diesem Moment an für immer verändern würde. Niemand von ihnen war sonderlich gut darin, doch es gehörte nun einmal zu ihrem Job.
„Viel Glück“, sagte sie ernst. „Wir sehen uns morgen.“
Taylor verließ die Rechtsmedizin und schaute sich unauffällig nach den Bodyguards um, die Price ihr inzwischen eigentlich geschickt haben sollte, in der Hoffnung, einen von ihnen zu erkennen. Er hatte ihr Fotos der Männer geschickt, damit sie sie nicht aus Versehen mit ihrem Ziel verwechselte. In den dunklen Schatten an einer Ecke des Gebäudes erblickte sie einen von ihnen. Er grüßte sie und verschmolz dann wieder mit der Dunkelheit. Der andere Mann war nicht zu sehen. Wenn der Pretender sie bemerkte … Nein, er würde die gesteigerte Herausforderung genießen.
Sie stieg ein und ging im Kopf schon einmal die Argumente durch. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass es beinahe Mitternacht war. Zeit, nach Hause zu fahren. Die Männer würden ihr folgen. Sie würde Baldwin erklären, dass sie ihre eigenen Leute engagiert hatte. Er könnte nichts dagegen sagen – immerhin ließ sie zu, dass sie rund um die Uhr beschützt wurde.
Auf den Straßen waren kaum Autos unterwegs. Nur sie und ihre unauffälligen Verfolger. Sie fuhr auf die I-65 Süd, die sie zur I-40 West brachte. Einen Moment lang sah es so aus, als wenn die nächtliche Skyline von Nashville ihr zuzwinkerte. Sie liebte die Stadt bei Nacht. Die Lichter in den verlassenen Gebäuden leuchteten so tröstlich wie ein Leuchtturm nach langer Zeit auf See. Ruhe überkam sie, Frieden, trotz des Toten dieses Abends. Sie dachte an den Schechter-Fall.
Sobald sie eingeschaltet wurde, hatten die Toten keine Geheimnisse mehr. Ihre Aufgabe, ihre Mission war es, die Wahrheit ans Licht zu bringen, auch noch die kleinste Schande aus dem Leben eines Menschen zu finden und diesem Faden bis zu der Lösung des Falles zu folgen. Welches Geheimnis barg Peter Schechter? Welche kleine sichtbare oder unsichtbare Grenzüberschreitung hatte er mit angesehen oder begangen, die zu seinem Tod geführt hatte?
Das Pentakel – sie wurde das Gefühl nicht los, dass es sich um eine Nachricht handelte, nicht um einen Scherz, um einen Witz.
Sie klappte ihr Handy auf, das sie in der Rechtsmedizin aufgeladen hatte, und wählte eine Nummer, die sie inzwischen auswendig kannte. Einen Moment kam sie sich albern vor, die Hexe anzurufen – doch noch hatte Ariadne in allem immer recht behalten.
Es klingelte ein paar Mal, dann drang eine weiche Stimme an ihr Ohr.
„Wie geht es dir, Taylor?“
„Ariadne. Danke, mir geht es gut. Und dir?“
Die Frage war ein wenig heikel. Ariadne war schwanger mit einem Baby, das sie in einem Akt der Gewalt empfangen hatte. Taylor fühlte sich dafür schuldig, doch Ariadne zerstreute ihre Sorgen sofort.
„Der Segen der Göttin ruht auf mir, wie immer. Uns geht es sehr gut. Ich bin so froh, dass du deinen Sergeanten gefunden hast. Ich habe dir doch gesagt, dass es ihm gut geht. Wie kommst du mit allem klar?“
Taylor sah die Frau vor sich, wie sie sich vor einem knisternden Feuer auf die Couch gekuschelt hatte, die kleinen, blassen Füße unter sich gezogen, während ihre langen, wunderschönen schwarzen Haare wie ein Mantel um ihren Körper flossen. Sie wünschte sich, einmal den Frieden zu empfinden, den Ariadne zu verkörpern schien.
„Ich freue mich, dass er wieder gesund wird. Was mich angeht – na ja, mir geht es so gut, wie es einem unter den Umständen gehen kann.“ Das war wenigstens eine ehrliche Antwort. „Hör mal, wir haben heute den Jungen gefunden, der seit Halloween vermisst wird.“
„Er ist tot.“ Das war eine Feststellung, keine Frage. Ariadne wusste immer mehr, als man ihr sagte.
„Ja. Auf einem Baum in der Nähe des Fundorts der Leiche haben wir ein aufgesprühtes Pentakel gefunden.“
„Gab es irgendwelche Zeichen auf dem Körper des Jungen?“
„Keine offensichtlichen. Ich glaube nicht, dass sein Tod mit den Halloween-Morden zusammenhängt, aber ich könnte mich irren.“
„Du solltest dich nicht immer hinterfragen, Taylor. Deine Instinkte sind immer richtig.“
„Du weißt von dem Mann, der mich verfolgt. Ich frage mich, ob es ein Versuch von ihm war, mich hervorzulocken.“
„Du willst doch hervorgelockt werden.“
Mist. Vielleicht war dieser Anruf doch keine so gute Idee gewesen. „Ariadne, ich muss wissen, ob diese Leiche in Verbindung zu dem anderen Fall steht.“
„Gib mir eine Minute.“
Erst herrschte Schweigen, dann kam ein tiefer Seufzer. „Ich glaube nicht, dass er Teil des Halloween-Massakers war.“
„Das habe ich auch gedacht. Danke. Wir müssen uns bald mal wieder treffen.“
„Taylor?“
„Ja?“
Sie hörte das Zögern in Ariadnes Stimme. „Sei vorsichtig. Du willst nicht, dass die Sache nach hinten losgeht. Einige Situationen sind … nicht wieder rückgängig zu machen.“
Die Hexe befand sich schon wieder in ihrem Wachschlaf. Es war unheimlich, wie sie es schaffte, übers Telefon Taylors Absichten und Gefühle zu lesen.
„Mach ich. Gute Nacht.“
„Möge Dianas Segen mit dir sein, Schwester.“
Taylor warf einen Blick zu dem kalten Mond und lächelte. Dann legte sie auf und schob Ariadnes Warnung beiseite, um weiter über Peter Schechters Tod nachzudenken.
Er wurde seit Freitag vermisst. Fünf Tage. Ausreichend Zeit für den Pretender, um sich ihn zu schnappen. Vielleicht hatte er jemanden dafür angeheuert, es für ihn zu tun. So wie in Nags Head. Vielleicht war sie schon zu lange mit Baldwin zusammen, vielleicht hatte sie in ihren eigenen Fällen schon zu viel Seltsamkeiten gesehen, aber die Vorstellung von einer ganzen Bande, die ein mörderisches Spiel spielte, kam ihr durchaus realistisch vor.
Das Ganze konnte durchaus mit dem Pretender in Zusammenhang stehen. Sie war Polizistin, sie glaubte nicht an Zufälle. Ein Pentakel an einem Baum in der Nähe eines toten Jungen – das war nicht genau gleich, aber ähnlich. Sie durfte den Gedanken nicht außer Acht lassen. Der Pretender war immerhin ein Nachahmungstäter. Es war gut möglich, dass er sich wieder einmal über sie lustig machte.
Aber wenn er jemanden nachmachte, dann stimmte alles bis ins letzte Detail. Es könnte sich auch um einen wahllosen Mord handeln, der mit ihren anderen Fällen überhaupt nichts zu tun hatte.
Der arme Peter Schechter. Was auch immer er getan haben mochte, das hatte er nicht verdient.
Sie war bereits bei ihrer Ausfahrt angekommen. Mit einem Mal konnte sie es kaum noch erwarten, nach Hause zu kommen. Baldwin würde ihr helfen, die lauernde Dunkelheit zu verscheuchen. Die Straßen lagen vollkommen verlassen in der kalten Nachtluft, sodass sie nur zehn Minuten bis zu ihrem Haus brauchte.
Als sie auf die Auffahrt fuhr, sah sie, dass alle Lichter im Haus brannten. Sie lächelte – natürlich war er noch nicht schlafen gegangen. Sie war froh. Inmitten dieser Turbulenzen brauchte sie einen Anker, jemanden, der sie festhielt. Und Baldwin war genau das.
Er wartete in der Küche auf sie und begrüßte sie mit einem breiten Grinsen. Dann zog er sie in seine Arme.
„Mmm, ich bin froh, dass du zu Hause bist.“
„Ich auch.“
„Ich habe dir ein wenig Hühnernudelsuppe aufgewärmt.“ Er spielte mit ihrem Haar und lächelte immer noch.
„Das rieche ich. Erwartest du, dass ich in naher Zukunft krank werde?“
„Natürlich nicht. Ich helfe nur, deine Abwehrkräfte aufrechtzuerhalten.“ Er küsste sie, erst sanft, dann mit wachsender Leidenschaft.
So musste der Himmel sein. Nach Hause zu kommen zu dem Mann, den sie liebte, in der Luft der warme Duft nach Essen und das Holzaroma des offenen Kaminfeuers. Würde sie all das aufgeben können, sollte sie gefasst werden? Hör auf, daran zu denken.
Sie erwiderte den Kuss und schlang ihre Arme um Baldwins starken Körper. Es gefiel ihr, dass er größer war als sie. Sie passten perfekt zusammen. Gerade, als sie anfing, weniger an die warme Suppe und mehr an ihr warmes Bett zu denken, entzog er sich ihr.
„Noch nicht“, sagte er.
„Verdammt.“ Sie fuhr mit den Fingern durch sein Haar. „Ich dachte, wir könnten vielleicht …“
„Oh, das werden wir auch. Aber erst muss ich dir etwas wirklich Großartiges erzählen.“
„Was?“
„Setz dich.“
Er führte sie an den Tisch und kehrte zum Herd zurück, um ihr eine Schüssel Suppe aufzufüllen. Vorsichtig, um nichts zu verschütten, kam er wieder zu ihr und stellte die Schüssel vor sie auf den Tisch.
„Iss“, befahl er. Sie wagte nicht, sich zu widersetzen. Er hatte ein Ass im Ärmel, das merkte sie. Vorsichtig tauchte sie den Löffel in die goldgelbe Flüssigkeit und ließ das Salz auf ihren Geschmacksknospen explodieren. Oh, das tat so gut.
Nach mehreren Löffeln legte sie den Esslöffel beiseite. „Okay. Raus damit. Du siehst aus wie ein kleiner Junge auf seiner Geburtstagsparty, der es kaum erwarten kann, die Torte anzuschneiden.“
Baldwin atmete tief durch und grinste. „Ich weiß, wer er ist.“
„Du weißt, wer er ist?“
Noch während sie die Worte aussprach, dämmerte es ihr. Der Atem stockte in ihrer Kehle.
Baldwin reichte ihr seine Aufzeichnungen.
Die Suppe war vergessen.