1. KAPITEL

Boston, Massachusetts
20:12 Uhr
An: troy14@ncr.tr.com
Von: bostonboy@ncr.bb.com
Betreff: Boston

Lieber Troy,
alles ist gut.
BB

Stille. Nur das Schlagen seines Herzens.

Sie war jetzt zu Hause, die Woche der langen Arbeitstage im Büro war vorbei. Er hatte sich schon langsam gefragt, ob sie es überhaupt zurückschaffen würde. Amüsiert registrierte er seine Erleichterung, als er sie nun in ihrem dicken Wollmantel mit schleppenden Schritten die Straße hinunterkommen sah. Er war besorgter gewesen, als er erwartet hatte. Immerhin war das hier nur ein Spiel für ihn. Ein schönes Spiel.

Sie ging an dem Truck vorbei, ohne ihn eines zweiten Blickes zu würdigen. Noch ein paar Schritte, und sie erreichte das Appartementhaus. Das schmiedeeiserne Tor war kaputt und stand leicht offen. Sie drückte es mit der linken Hand auf und trottete die Stufen hinauf. Er beobachtete sie mit gesenktem Kopf aus dem Augenwinkel. Sie schloss die Tür auf und schlüpfte ins Haus. Nicht ein Mal hatte sie sich umgeschaut, nicht einen Moment überlegt, dass sie vielleicht in Gefahr sein könnte. Ihr millionster Fehler diese Woche.

Er würde ihr eine Minute Zeit geben, damit sie nach oben gehen konnte. Derweil beschäftigte er sich mit dem Paket, dem harten Plastikkästchen für die elektronische Unterschrift, den Schnüren an der Kiste und zählte die ganze Zeit im Hinterkopf mit.

Eins Mississippi, zwei Mississippi.

Sobald er bei sechzig angekommen war, folgte er ihrem Weg zur Tür. Er drückte mit seinem Finger auf den weißen Knopf, hörte das schrille Klingeln der Glocke. Eine Frauenstimme, blechern und dünn, sagte: „Ja?“

„Eine Lieferung für June Earhart.“

Ohne ein weiteres Wort drückte sie auf den Summer. Die Tür öffnete sich mit einem Klick, und er zog sie weit genug auf, um die Sackkarre durchziehen zu können. Dann zog er sich die Kappe tiefer in die Stirn, weil er nicht wollte, dass man sein Gesicht sah. Von früheren Besuchen wusste er, dass in der Eingangshalle Kameras installiert waren.

Er dachte an sein Ziel. Ihm gefiel Junes Aussehen. Braune Haare, braune Augen, einen Meter siebenundsechzig groß, ein wenig pummelig, aber das lag nur daran, dass sie gerne aß und keinen Sport trieb. Sie war nicht faul. Nein, auf keinen Fall. Nur … gut gepolstert.

Er hatte sie diese Woche jeden Tag in der Mittagspause beobachtet: Montag ging sie zu McDonald’s, Dienstag zu Subway, Mittwoch gab es Schmalzgebäck und einen süßen Smoothie von Dunkin’ Donuts. Donnerstag war sie im Büro geblieben, aber nachmittags hatte sie sich ein dick mit Salami, Schinken und Käse belegtes Sandwich gekauft und dazu eine Tüte Kartoffelchips. Er hatte sich gefragt, ob sie wohl nach Zwiebeln roch oder ob sie rücksichtsvoll genug gewesen war, ein Kaugummi zu kauen oder ein paar Tic Tac zu essen. Er nahm das Letztere an; June war eine sehr unsichere Frau, die nicht unangenehm auffallen wollte.

Gut, sie war von ihrem Büro aus immer zu Fuß zu den Läden gelaufen, hatte auf dem Weg aber den Pita-Stand und die Saft- und Salatbar links liegen lassen. Sie hatte sich für das fettige Essen entschieden, und er wusste, das lag daran, dass sie Angst davor hatte, allein zu sein, aber einen Verteidigungsmechanismus brauchte, um ihren Status als Single vor sich zu rechtfertigen. Er wusste, dass sie jeden Abend in ihrer schäbigen Wohnung saß, Fitness- und Yogazeitschriften las und davon träumte, wie es wohl wäre, einen durchtrainierten, geschmeidigen Körper zu haben, wohl wissend, dass sie, wenn sie sich entsprechend anstrengen würde, unwiderstehlich wäre. Und unwiderstehlich bedeutete, dass der Anwaltsgehilfe aus dem Nachbarbüro sie bemerken würde.

Aber sie hatte Angst, und so träumte sie nur und verschaffte sich durch ihre selbstbetrügerischen Handlungen ein kleines bisschen mehr Zeit. Er wusste, sie hatte vor, im neuen Jahr einem Fitnessklub beizutreten. Das stand in pinkfarbener Schrift auf einem Zettel mit möglichen Neujahrsvorsätzen, den er in ihrem Küchenmüll gefunden hatte. Er wettete, dass sie diesen Vorsatz jedes Jahr fasste. June war der Typ Frau, der im November gute Vorsätze fürs neue Jahr fasste und sie niemals umsetzte. Eine Frau, die träumte. Eine Frau, die einen völlig Fremden in ihr Gebäude ließ, weil sie nie damit rechnete, ein Opfer zu werden.

Eine Frau ganz nach seinem Geschmack.

Die Sackkarre erschwerte den Aufstieg. Bei jedem Schritt schlug sie gegen die Stufen. Es wäre leichter gewesen, hätte June nicht Wein bestellt – er hätte einfach ein normales Paket die Treppe hinauftragen können. Aber so entsprach er mehr dem Bild, das sie sich von einem Lieferanten machte. Harmlos und unaufdringlich, viel zu beschäftigt mit seiner Arbeit, um eine Bedrohung zu sein.

Jetzt stand er vor der Tür zu Junes Wohnung im ersten Stock. Er richtete seine Kappe und stellte die Sackkarre, auf der eine schwere Holzkiste festgebunden war, vor sich ab. Ein Griff in seine Hosentasche – ja, es war noch alles da. Er setzte so etwas wie ein Lächeln auf und klopfte.

June öffnete die Tür. Sie war immer noch etwas außer Atem von ihrem Aufstieg die Treppe hinauf. Ihren schweren Mantel hatte sie schon ausgezogen, doch der Schal war immer noch fest um ihren Hals geschlungen. Er merkte gar nicht, dass er nun, wo er ihr von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand, vollkommen erstarrt war, bis sie sagte: „Bisschen spät für eine Lieferung, oder?“

Er verzog den Mund zu einem noch breiteren Lächeln und sagte: „Ja, Ma’am. Entschuldigen Sie bitte vielmals. Ich hinke meinem Zeitplan heute ein wenig hinterher.“

„Ich hatte fast schon nicht mehr damit gerechnet, dass das verdammte Zeug noch kommt. Stellen Sie es dorthin.“ Sie zeigte auf eine aufgeräumte Nische kurz vor der Küche. Die gleiche Nische, in der er letzte Nacht gehockt und June beim Fernsehen zugeschaut hatte. Sie hatte nichts von seiner Anwesenheit geahnt, und er war leise hinausgeschlüpft, nachdem sie eingeschlafen war.

Er zog die Sackkarre in den Flur und schob sie dann Richtung Küche, während er gleichzeitig in seiner Hosentasche auf den Anrufknopf seines Wegwerfhandys drückte. Junes Telefon begann zu klingeln. Ein kurzes Flackern in ihren Augen verriet ihm, das sie kurz überlegte, nicht ranzugehen, dann zuckte sie mit den Schultern und ging in Richtung Wohnzimmer, aus dem das Klingeln ertönte. In dem Moment, als sie ihm den Rücken zudrehte, griff er an. Er stopfte ihr das Ende ihres Schals in den Mund, sodass sie nicht schreien konnte, dann hob er sie hoch und trug sie ins Schlafzimmer. Warum sollte er es sich nicht ein wenig gemütlich machen?

Sie wehrte sich, also versetzte er ihr einen Schlag an die Stelle über dem Ohr – gerade ausreichend, um sie ein wenig benommen zu machen. Sofort wurden ihre Augen glasig, und die Panik darin ebbte ab. Er zog sie aus und warf sie aufs Bett, um dann sehr sorgfältig Stück für Stück seine eigene Kleidung abzulegen. Er schlug den Saum seiner braunen Hose um und legte sie zusammen, dann faltete er das Hemd in der Mitte, sodass die Ärmel genau aufeinanderlagen. Er musste den Fahrer wieder anziehen und wollte nicht, dass irgendetwas auf die Uniform kam. June war benebelt, aber bei Bewusstsein, und als er das Kondom überzog und sie nahm, versuchte sie zu schreien und ihm zu entkommen. Aber er war wesentlich größer und stärker, und sie hatte keine Chance. Dadurch, dass sie sich so wand, ging alles viel schneller vorbei, als ihm lieb war, aber zum Schluss schlang er die losen Enden ihres Schals um ihre Kehle und zog sie fest … und spürte, wie eine andere Form der Erleichterung durch seine Adern schoss.

Als ihre Augen hervorquollen, zog er den Schal noch enger. Er schaute genau hin, wie ihre Haut einen fleckigen Rotton annahm und das Weiß ihrer Augäpfel sich mit Blut füllte. Nach drei langen, quälenden, erfüllenden Minuten erschlaffte sie unter ihm.

Er räumte schnell alles auf. Sicher würde der Truck bald jemandem auffallen. Als alles an Ort und Stelle war, löste er den Schal von ihrem Hals und band ihn zu einer auffallenden Schleife. Er küsste June auf die Stirn, bedauerte kurz, dass sie es nun nie mehr ins Fitnessstudio schaffen würde, zog sich sorgsam wieder an und verließ ihre Wohnung, wobei er daran dachte, den Knopf herunterzudrücken, der das Schloss verriegelte. Er war überrascht, wie leise die Tür sich schloss; ein stiller Zeuge des Todes ihrer Besitzerin und des Fremden, der sich leise in den Abend hinausstahl.

Die Luft war kalt und schneidend. Es würde bald schneien. Er stellte den Kragen auf und schob die Sackkarre vor sich her zum Lieferwagen. Er hatte Glück gehabt. Der Fahrer hatte genau seine Größe, und die Uniform passte perfekt. Er kletterte in den Truck und fuhr um die Ecke in eine stille Sackgasse. Dort zog er sich aus, ersetzte die braune Uniform durch seine eigene Kleidung, hatte ein wenig Mühe damit, den toten Fahrer wieder in die Uniform zu manövrieren, schaffte es aber schließlich, Arme und Beine durch die richtigen Löcher zu schieben. Er tätschelte den Kopf des Fahrers. Ein leider notwendiger Kollateralschaden.

Er schaute zu beiden Seiten aus dem Fenster. Die Straße lag verlassen da, in den Häusern rechts und links brannte kein Licht. Er war zuversichtlich, dass ihn niemand gesehen hatte. Vorsichtig glitt er durch die Seitentür des Lieferwagens und fing an, ein lang vergessenes Lied zu pfeifen. Strangers in the night … exchanging glances …

Eine erledigt. Viele weitere würden noch folgen.

New York, New York
22:12 Uhr

An: troy14@ncr.tr.com
Von: 44cal@ncr.ss.com
Betreff: New York

Lieber Troy,
hey Mann, ich bin im Zeitplan.
44

Verdammt, die Tüte raschelte. Er wusste, dass es keine gute Idee war, die Waffe in einer Tüte mitzunehmen. Bei jedem Schritt hörte er das raschel, raschel, raschel an seinem Bein. Wie sollte er sich so an jemanden heranschleichen? Aber er konnte die Pistole auch nicht herausnehmen und so tragen – immerhin war das hier New York. An jeder Ecke lauerte ein Cop. Und auf Schritt und Tritt traf man auf Touristen mit erstaunten Blicken und gezückten Kameras.

Die Anweisung war jedoch präzise gewesen. Die Papiertüte war unerlässlich.

Der Hund hat mich dazu getrieben. Der Hund, der Hund, der Hund.

Da. Er war wieder in seiner Rolle.

Ein leichter Schneefall setzte ein. Er wusste, dass er seinen Körper, seinen Kopf bestäubte, doch er fühlte es nicht. Er hatte sich eine schwarze Wollmütze über den kahlen Schädel gestülpt. Ansonsten würde er zu kalt werden. Er überquerte die Houston und joggte in den Washington Square Park, wobei er einer Pfütze auswich. Raschel, raschel, raschel. Vielleicht könnte er das Geräusch ein wenig dämpfen, wenn er seine Hand in die Tasche steckte, aber nein, mit tief in den Hosentaschen vergrabenen Händen herumzulaufen sähe zu verdächtig aus. Er erinnerte sich an die Anweisung. Ziehe keine Aufmerksamkeit auf dich. Gehe aufrecht, Schultern zurück, schaue denen, die dir entgegenkommen, in die Augen. Niemand erinnert sich an die, die einen angeschaut haben. Sie erinnern sich nur an die, die den Blick abgewendet haben.

Der Hund hat mich dazu getrieben.

Er erblickte seine Opfer. Zwei Männer, die sich aneinanderlehnten. Einer blond, einer dunkelhaarig, saßen sie völlig selbstvergessen auf der grünen Parkbank. Sein Herz machte einen Sprung. Alles würde nach Plan laufen. Ohne das Wissen ihrer ahnungslosen Ehefrauen, die glaubten, ihre Männer wären im Fitnessstudio – oder bei einem Pokerspiel, im Kino, bei einem späten Abendessen, in einem Meeting, im Stau –, kamen die Männer jeden Abend zu dieser Bank. Sie saßen beieinander, redeten und träumten zusammen. Manchmal, wenn sie sehr verwegen waren, strich ein Finger sanft über eine Handfläche, drückte sich ein Oberschenkel stärker gegen den anderen. Und an den wunderbarsten Abenden – denen, auf die sie sich am meisten freuten – huschten sie beide nach einer angemessenen Zeit nacheinander in ein kleines, schäbiges Apartment, das sie für eben diese Zwecke gemietet hatten, liebten sich in aller Hast und tauchten danach wieder in ihren jeweiligen Leben unter. Niemand durfte davon erfahren. Und niemand wusste davon.

Außer einem. Und nun einem zweiten.

Der Hund hat mich dazu getrieben.

Er ging direkt auf die Hurenböcke zu. Diesen verqueren, anormalen Abschaum. Einen Meter vor ihnen blieb er stehen, griff in seine Tasche und zog eine American Spirit heraus. Er zündete sie an, zog einmal lang daran und stieß den Rauch durch seine Nase aus. Er wusste, dass er aussah wie ein Drache, und machte es nur zum Vergnügen gleich noch einmal.

Sie schauten nicht auf, so vertieft waren sie in ihre Unterhaltung. Kurz ekelte es ihn. Männer sollten nicht so füreinander empfinden, das war nicht richtig. Aber dass sie abgelenkt waren, war gut. Er war für sie einfach nur irgendein Mann, der eine Zigarettenpause einlegte. Er genoss ein letztes Mal das tiefe, raue Brennen in seinen Lungen, dann warf er die Kippe ins Gebüsch.

Er schaute sich um. Der Washington Square Park lag seltsam verlassen da. Das musste an der Kälte liegen – oder es war Fügung. Der Engel, der auf seiner Schulter saß, schrie vor Entsetzen. Er ignorierte ihn, so wie er ihn die letzten sechs Wochen ignoriert hatte. Er war gelangweilt und bereit. Bereit, etwas Spaß zu haben.

Die Männer lehnten sich näher aneinander.

Er schniefte einmal, als müsse er entscheiden, was er tun solle. Dann zog er die Pistole aus der Hosentasche. Der Schalldämpfer hustete. Blut sprudelte aus den Wunden hervor. Zwei Schüsse, jeweils genau in den Kopf. Sie hatten nichts davon mitgekriegt. Er zerknüllte den Zettel und warf ihn in Richtung der beiden. Dann floh er. Die Sünder waren gegeneinander zusammengesackt, graue Jogginganzüge und rotes Gehirn vermischten sich auf der harten, kalten Bank. Kleine Blutspritzer tropften in die dünne Schneeschicht unter ihnen. Er hörte das Tropfen, als er wegging.

Der Hund hat mich dazu getrieben.

Er war einen Straßenzug entfernt, als sein Engel ihm sagte, dass er nicht mehr raschelte. Verdammte Scheiße. Er durchsuchte seine Hosentaschen und fand nichts außer der Pistole, seinen Zigaretten und dem Feuerzeug. Als er die Pistole aus seiner Tasche herausgezogen hatte, war die Papiertüte zu Boden gefallen. Er war zu sehr mit den wütenden Geräuschen des Engels beschäftigt gewesen, um es zu bemerken. Scheiße. Er hatte nichts außer dem Zettel zurücklassen sollen. Scheiße, Scheiße, Scheiße.

Sofort fiel er aus seiner Rolle, und Panik schoss durch seine Adern.

Der Engel sprach zu ihm. Atme. So ist es gut, Mann. Atme. Geh weiter. Es ist nur eine braune Papiertüte. Niemand wird rausfinden können, woher sie kommt. Er machte sich eine mentale Notiz, sobald er nach Hause kam, die Quittung für die Packung Brottüten wegzuwerfen. Nur für den Fall. Er wollte nichts aufheben, dass ihn belasten könnte. Befehle waren nun mal Befehle.

Der Engel war jetzt richtig in Fahrt. Beschissener Hund. Wer gibt schon einem Hund die Schuld? Nur ein total verrückter Wichser, sonst keiner. Der Hund hat mich dazu getrieben – was für ein Scheiß.

Er war kein besonders guter Engel.

Hinter ihm ertönten Sirenen. Panik begann erneut aus der Tiefe seines Magens aufzusteigen. Er musste hier weg. Musste laufen. Er wollte anfangen zu rennen, doch der Engel brüllte ihm ins Ohr.

Ruhig, Kumpel. Geh ganz ruhig weiter.

Er blieb stehen und atmete tief durch. Erinnerte sich an den überraschten Gesichtsausdruck der beiden. Er drehte sich zu dem Fenster einer Bar, als die Streifenwagen mit blitzenden Blaulichtern an ihm vorbeifuhren. Nur ein Mann auf dem Nachhauseweg, der darüber nachdachte, noch auf einen Drink einzukehren. Er lächelte.

Alles in allem war es ein guter Abend gewesen.

San Francisco, Kalifornien
23:00 Uhr

An: troy14@ncr.tr.com
Von: crypto@ncr.zk.com
Betreff: San Francisco

Lieber Troy,
alles läuft gut. Melde mich, falls etwas schiefgeht.
ZK

Seine Handflächen waren schweißnass.

Er unterdrückte den Drang, sich zu übergeben, schluckte gegen die aufsteigende Galle an. Die Handschuhe fühlten sich eng an, juckend, klaustrophobisch. Dem Befehl trotzend zog er sie aus. Kühle Luft ließ seine Haut prickeln. Ah. Besser. Er steckte die Handschuhe in die hintere Hosentasche seiner schwarzen Jeans. Sein Griff um die Waffe wurde fester, sicherer. Das Metall war glatt und lag heiß in seiner Hand. Diesen Augenblick stellte er sich seit Jahren vor. Jetzt hatte er die Chance, die echte Chance, seine Fantasie auszuleben und gleichzeitig etwas Geld zu verdienen. Sich der täglichen Plackerei zu entziehen. Dem verhassten Job, aus dem man ihn entlassen hatte. Dem verhassten Haus, das die Bank ihm weggenommen hatte. Dem verhassten Auto, dessen Raten er kaum noch aufbringen konnte. Er war obdachlos, pleite und brannte darauf, sich als Mörder zu versuchen. Das Geld war ein netter Bonus. Diese Gelegenheit war zum genau richtigen Zeitpunkt gekommen.

Zwanzig Meter entfernt wanden sich zwei Gestalten auf den Vordersitzen eines Toyota Tercel. Leise Musik erklang aus dem dunklen Wagen. Die Fenster waren beschlagen, er konnte keine Einzelheiten erkennen. Aber er wusste, dass es sich um ein Pärchen handelte. Teenager auf nächtlicher Fummeltour. Ihre Namen waren ihm egal. Ihre Leben interessierten ihn nicht. Sie waren nur Requisiten. Eine Illusion.

Er näherte sich, sorgsam darauf bedacht, den Kies unter seinen Schuhen nicht knirschen zu lassen. Der Weg war verwahrlost, tiefe Spurrinnen zogen sich durch den Kiesbelag. Der leicht faulige Geruch des stehenden Gewässers hielt niemanden fern. Die alte Straße war allgemein als „Lovers Lane“ bekannt – der perfekte Platz, wenn man etwas Privatsphäre suchte. Nur der Mond erleuchtete seinen Weg.

Noch zehn Meter. Die Übelkeit kehrte mit voller Wucht zurück. Er hielt inne und atmete tief durch den Mund, zwang sein Herz, sich zu beruhigen, fühlte das Adrenalin durch seinen Körper jagen wie das beißende Gift von einer Million winziger Feuerameisen.

Da war er nun. Der Augenblick, von dem er seit Jahren geträumt hatte. Endlich!

Er redete sich gut zu. Erinnere dich daran, was du hier tust. Denk daran, was auf dem Spiel steht. Denke daran, was sein kann.

Das war schon besser. Die Nervosität war verflogen, er war ganz im Augenblick gefangen.

Es war so weit.

Wie elektrisiert vor Aufregung machte er die letzten Schritte. Er zog die Maglite aus einer Jackentasche und nahm sie fest in die Hand. Aus dieser Entfernung konnte er das Stöhnen hören und die nackte Haut des Mädchens sehen, das sich wieder und wieder über seinem Liebhaber erhob und auf ihn herabsenkte. Es kribbelte in seinen Hoden, wie er es vom Pornoschauen kannte. Er erkannte jetzt, was das, was er für nervöse Aufregung gehalten hatte, wirklich war – Erregung. Das Gefühl gefiel ihm sehr.

Mit dem stumpfen Ende der Taschenlampe klopfte er gegen das Fenster auf der Fahrerseite.

Ein kurzer Schrei; er hatte sie überrascht. Gut. Er hielt die silberne Marke gegen das Fenster. Sah, wie die Augen des Jungen sich weiteten. Hektisches Herumtasten – vermutlich hatten sie Alkohol oder Drogen in Reichweite –, dann wurde das Fenster surrend heruntergelassen. Musik ergoss sich in die Luft. Er erkannte die Melodie, ein altes Liebeslied. Das erschrockene Gesicht des Jungen füllte den Fensterrahmen aus. Das Mädchen hatte sich auf den Beifahrersitz verzogen und zupfte verstohlen an seinem Rock.

Der Junge räusperte sich. Seine Lippen waren im harten Licht der Taschenlampe rot und wund.

„Was ist los, Officer? Gibt es ein Problem?“

„Kein Problem“, sagte er und drückte den Abzug. Er erwischte den Jungen direkt unterhalb des linken Auges. Perfekt! Er zögerte einen Moment, starrte auf das Loch, erstaunt von der Menge an Blut, die über den Sitz gespritzt war. Die Pistole war so viel lauter, als er erwartet hatte – auf dem Schießstand, mit dem Gehörschutz, war der Knall lange nicht so intensiv gewesen; seine Ohren klingelten, doch er konnte darunter noch ein anderes Geräusch ausmachen. Jemand schrie. Es war das Mädchen.

Er wurde in die Gegenwart zurückgerissen. Sie fummelte an der Tür herum, verdammt, sie hatte sie geöffnet. Schnell lief er vorne um den Wagen herum, erreichte sie gerade, als sie loslaufen wollte. Sie stieß kleine, panische Schreie aus. Als sie über ihre Schulter schaute und ihn näherkommen sah, lief sie rückwärts und fiel zu Boden. Wie ein Krebs krabbelte sie weiter, ihre Füße verfingen sich in den dreckigen Zweigen und dem Kies, doch sie versuchte, ihm zu entkommen. Er schoss.

Die Kugel schlug mit einem dumpfen Geräusch in ihre Brust ein. Das Mädchen fiel auf den Rücken, Arme und Beine verdreht, die Augen gen Himmel gerichtet. Ein zielgerichteter Schuss ins Herz. Sie brauchte nur eine Minute, um zu sterben. Ihr Atem ging schwer, stockend, während ihr Körper erkannt hatte, dass er aufhörte, zu existieren. Er ignorierte ihr kätzchengleiches Wimmern und schaute auf das Blut. Faszinierend; die Zähflüssigkeit, die Farbe. Er streckte die Hand aus und berührte die sich ausbreitende Pfütze; als er den Arm zurückzog, schimmerte sein Finger rot.

Er bemerkte, dass er die härteste Erektion aller Zeiten hatte. Einen kurzen Augenblick dachte er darüber nach, sich selber zu berühren, stellte sich die liebesapfelroten Finger um sein hartes Fleisch vor, und das allein reichte, um ihn über die Klippe zu treiben.

Befriedigt versuchte er, wieder normal zu atmen, steckte die Waffe in die Jackentasche und holte die Kamera heraus. Er machte fünfzehn Bilder aus verschiedenen Winkeln und Entfernungen, dann kehrte er zu dem Jungen zurück und wiederholte das Ganze. Er schaute auf seine Uhr. Kurz nach Mitternacht. Zeit, zu gehen.

Er eilte in den Wald, den ausgetretenen Pfad entlang, der zum See führte. Zufrieden mit dem Abenteuer des Abends dachte er bereits über den nächsten Schritt nach. Seine Nervosität war jetzt vollkommen verschwunden. Als Nächstes durfte er das Messer benutzen.

Nashville, Tennessee
Mitternacht

Taylor Jackson erwachte mit klopfendem Herzen. Sie schlief selten tief, aber heute musste sie wirklich weg gewesen sein. Sie fühlte sich, als würde sie durch die matschig graue Masse ihres Gehirns schwimmen, und versuchte, ihre Synapsen dazu zu bringen, loszufeuern und ihre Lider zu öffnen. Irgendetwas hatte sie geweckt. Ein lautes Geräusch, das ganz aus der Nähe gekommen war.

Sie steckte ihre Hand unter das Kissen und spürte die Kälte ihrer Glock. Mit so wenig Geraschel wie möglich zog sie die Waffe an ihre Brust, umfasste sie mit der rechten Hand und sprang dann aus dem Bett auf, den Lauf in die Schwärze ihres Schlafzimmers gerichtet.

Da erklang das Geräusch erneut, und ein Schauer lief ihr über den Rücken. Eine Eule.

Zitternd legte sie sich wieder hin und schob die Waffe an ihren Platz. Sie verschränkte die Finger auf der Brust und zwang ihr Herz, wieder normal zu schlagen. Die Zimmerdecke erschien ihr näher als sonst; der Mond warf sein Licht in Mustern auf die helle Tapete.

Ausgerechnet am heutigen Nachmittag hatte ihre Freundin – wenn man Ariadne denn so nennen wollte – Taylor erzählt, dass die Eule ihr Totem war, ihr Krafttier. Die Eule würde ihr Zeichen bringen. Taylor gab nichts auf diesen ganzen Hokuspokus; die weiße Hexe steckte voll von Warnungen und verdrehten Wahrheiten. Aber noch einmal den Ruf der Eule zu hören – nun zum dritten Mal – ließ eine ungute Vorahnung in ihr aufsteigen.

Wenn sie Ariadne glaubte, würde sie das jetzt definitiv ein Zeichen nennen.

Sie brauchte jedoch keine Eule, um ihr zu sagen, dass alles gerade den Bach hinunterging. Es war gerade erst achtundvierzig Stunden her, dass sie gezwungen gewesen war, einen Teenager zu erschießen. Die Zeit hatte noch keine Gelegenheit gehabt, ihre Wunden zu heilen. Wenn überhaupt, ging es ihr noch schlechter als an dem Tag der Schießerei.

Sie rollte sich auf die Seite und versuchte, das Bild des Jungen aus ihrem Gedächtnis zu drängen. „Denk an etwas anderes“, hatte Ariadne ihr geraten. „Es wird besser.“

Das war allerdings eine Lüge. Es wurde nicht besser. Im Gegenteil, alles fiel immer schneller in sich zusammen. Sie wusste, was passieren würde. Sie spürte es in ihren Knochen. Sie brauchte weder rufende Eulen noch irgendwelche Hexen, die ihr Ärger voraussagten; ihr eigener Instinkt war in höchster Alarmbereitschaft.

Ihr größter Feind machte endlich seinen nächsten Schritt.

Sie starrte an die Decke. Der Pretender, dieser psychopathische Hurensohn, hatte Pete Fitzgerald entführt. Ihren lieben Freund Fitz, ihren Sergeant und Vaterfigur für sie. Er hielt ihn gefangen und folterte ihn, aber er erlaubte ihm, am Leben zu bleiben. Ein Beweis der Macht, über die der Pretender verfügte. Er hielt Leben und Tod in seinen Händen. Dieses Zeichen verstand sie laut und deutlich – er könnte sie sich schnappen. Jederzeit. Überall.

Er hatte Taylor ein Geschenk hinterlassen. Eine Verhöhnung ihrer Fähigkeiten und eine Warnung. In einem alten Airstream-Wohnwagen in den Bergen von North Carolina hatte Fitz’ Augapfel mit einer daran gehefteten Nachricht gelegen, die auf Hebräisch verfasst worden war. Ajin tachat ajin. Die wortwörtliche Übersetzung lautete: Auge um Auge.

Fitz mochte noch atmen, aber er war auf jeden Fall für den Rest seines Lebens entstellt. Sie hatte keine Ahnung, welche anderen Wunden ihm noch zugefügt worden waren; sie konnte sich nur das Schlimmste vorstellen.

Aber bald genug würde sie es wissen. In ein paar Stunden wäre sie auf dem Weg nach Nags Head, North Carolina, um ihn nach Hause zu bringen.

Sie rollte sich wieder zurück, die Bettdecke verhedderte sich um ihre Beine. Sie trat gegen den weichen Stoff, der sich daraufhin wie eine folgsame Wolke auf sie herabsenkte.

Die Dunkelheit erfüllte sie erneut. Ihr Gehirn lief immer noch auf Hochtouren. Das Gefühl, dass alles auseinanderfiel, dass sie ihre Form verlor, kehrte zurück. Die vergangenen zwei Tage gehörten zu den schlimmsten ihres Lebens. Zwei Tage, in denen sie jeden Moment noch einmal in ihrem Kopf durchgegangen war, der Rückstoß der Waffe in ihrer Hand, das Stechen in ihrem Handgelenk, als sie wieder und wieder feuerte, das betäubende Klingeln in ihren Ohren, der Ausdruck puren Schocks auf seinem Gesicht, der Hass in den Augen des Jungen. Zum tausendsten Mal fragte sie sich: Hätte ich irgendetwas anders machen könne? Natürlich nicht, er hatte die Waffe auf sie gerichtet. Suicide by cop nannte man dieses Phänomen. Der Täter zwang durch sein Verhalten einen Polizisten dazu, ihn zu erschießen, weil er nicht den Mut besaß, sich selber das Leben zu nehmen.

Ihre Gedanken wanderten zu Fitz, zu der Panik, die er empfinden musste, zu der Vorstellung, wie es wohl gewesen sein musste, als man ihm das Auge entfernt hatte. Sie betete, dass er dabei nicht bei Bewusstsein gewesen war. Galle stieg ihr hoch. Mit ihm zu sprechen, hatte sie kurzfristig aus ihrer Angst herausgerissen. Als er angerufen hatte, um ihr zu sagen, dass er lebte und es ihm gut ging, hatte er keine Einzelheiten seiner Torturen erwähnt. Aber er hatte ihr eine Nachricht vom Pretender übermittelt, rätselhaft und herausfordernd.

„Ich soll dir von ihm sagen: ‚Lass uns spielen.‘“

Sie drehte sich erneut auf die Seite, schüttelte das Kissen auf und drückte ihren Kopf tief hinein. Es waren nicht nur die Schießerei und Fitz, die ihr durch den Kopf gingen.

Lass uns spielen.

Der Pretender war nicht sonderlich subtil gewesen. Es hatte Anrufe in ihrem Haus gegeben. Die Kugel und die Notiz, die in ihrem Briefkasten hinterlassen worden waren, als sie außer Landes gewesen war, um einen anderen Verrückten zu jagen – es gab immer einen weiteren Verrückten da draußen, der nur darauf wartete, gefasst zu werden … Das alles durchdringende Gefühl, dass sie beobachtet wurde. Das lange Schweigen von Fitz, sein Wiederauftauchen, war die echte Nachricht. Siehst du, welche Macht ich habe, Taylor? Ich kann an die, die dir am nächsten stehen, jederzeit rankommen, wann immer ich will.

Der Pretender würde sich nicht mehr damit zufriedengeben, nur ihre Freunde zu verletzen.

Lass uns spielen.

Sie wünschte, Baldwin wäre daheim. Seine erzwungene Rückkehr nach Quantico bedeutete, dass er die letzten zwei Tage nicht da gewesen war. Sie hatte nicht geahnt, wie sehr sie ihn brauchte, wie sehr sie sich auf seine Logik und seinen Trost verließ. Erst jetzt, wo er weg war, wurde ihr das bewusst. Sie war mit einer der größten Herausforderungen ihres Lebens konfrontiert worden und hatte sie mehr oder weniger gut gemeistert, aber sie sehnte sich danach, ihn bei sich zu haben. Ein kurzer Glücksfunken blitzte in ihr auf. Wenn die Disziplinaranhörung sich nicht verzögerte, würde sie ihn morgen sehen. Falls morgen jemals käme.

Die Uhr zeigte „0:17“.

Mit einem tiefen Seufzer stand sie auf. Sie zog ihre schwarze Yogahose an und steckte die Glock .40 hinten ins Bündchen. Die Waffe war schwer und dehnte das Gummiband, also zog Taylor die Hose fester zu. So war es besser.

Ihr geliebter Billardtisch stand nur den Flur hinunter. Sobald sie in dem Extrazimmer angekommen war, knipste sie eine Tischlampe an, deren grüner Schirm einen ätherischen Schimmer über die Schatten warf. Sie schaltete auch den Fernseher ein. Auf Fox News lief gerade eine ihrer Lieblingssendungen. Red Eye schaffte es immer wieder, sie zu unterhalten; vor allem der Halbzeitreport mit Andy Levy gefiel ihr. Wenn sie heute Nacht schon nicht weinen konnte, vielleicht würde sie dann lachen können.

Sie nahm die Abdeckung vom Tisch und ließ sich Zeit, ihren Queue einzukreiden. Dabei hörte sie mit einem Ohr dem Fernseher zu. Sie zielte, stieß zu, lochte die Kugeln ein und fing gleich wieder von vorne an.

Die Eule machte ihr mehr zu schaffen als alles andere zuvor. Vielleicht glaubte sie jetzt doch den Erkenntnissen der Hexe. Ariadne hatte Taylor gesagt, dass sie bei dem Vorfall in der Schule keine andere Wahl gehabt hatte, als zu schießen; dass sie Leben gerettet, das Richtige getan hatte. Sie hatte Taylor erzählt, dass Fitz noch lebte, aber verletzt war. Dass Taylor und Baldwin untrennbar miteinander verbunden waren und sie sich auf ihn verlassen konnte und es sogar sollte. Ariadne hatte sich langsam in Taylors Leben gestohlen und sich in Baldwins Abwesenheit wie seine Stellvertreterin benommen, sodass Taylor mit ihren Sorgen nicht ganz alleine gewesen war. Und das war gut so, denn sie wurde das Gefühl nicht los, dass um sie herum alles zusammenbrach. Der Pretender war auf dem Weg zu ihr, und dieses Mal würde er sich nicht damit zufriedengeben, nachts ganz nah an ihr vorbeizugehen.

Sie wusste nicht, warum er diesen speziellen Moment ausgesucht hatte, um zu handeln, um nach ihr zu greifen. Um die Wahrheit zu sagen, sie wusste noch nicht einmal, wieso er überhaupt auf sie gekommen war. Sirenen und Waffen und Schutz beiseite – er wollte sie aus einem bestimmten Grund.

Lass uns spielen.

Sie stieß erneut zu, die Kugeln rollten wild durcheinander, die weiße Kugel hüpfte vom Tisch herunter und fiel mit einem dumpfen Geräusch zu Boden. Sie beugte sich vor, um sie aufzuheben, und legte sie sanft wieder auf den grünen Filz.

Bin ich für ihn bereit?

Alles der Reihe nach.

Zuerst einmal würde sie nach North Carolina fahren, um Fitz abzuholen.