Lou

117324.jpg

Lou versuchte, die aufsteigende Angst zu unterdrücken, die ihr fast den Magen umdrehte. Trotzig reckte sie das Kinn und betrat die Bar. Der Weg zur Arbeit war ihr heute nicht leichtgefallen, auch weil ihre Füße es gar nicht mehr gewohnt waren, in flachen Schuhen zu laufen (ein seltsames Gefühl, nach so vielen Jahren auf hohen Absätzen). Aber das war halb so wild. Nein, viel schlimmer war, wie grässlich sie sich gefühlt hatte, als sie das Haus verließ. Richtig nackt. Als sei sie mitten in einem Albtraum aufgewacht – einem dieser fiesen Träume, in denen man aus dem Haus geht und viel zu spät merkt, dass man vergessen hat, sich anzuziehen.

Es war das erste Mal seit dem Morgen nach Simon, dass sie ihre Wohnung verließ. Und es war das erste Mal seit ihrem zwölften Lebensjahr, dass sie ungeschminkt rausging. Leicht war das nicht. Es war eine echte Mammutaufgabe. Die dicke Schutzschicht aus Schminke war ihre Rüstung gewesen, ohne die sie sich unsicher und entblößt fühlte. Irgendwie bezweifelte sie, dass sie für diesen entspannten, natürlichen Look geschaffen war. Ihr kam das Ganze jedenfalls entschieden unnatürlich vor.

Aber nun hatte sie es bis hierher geschafft, ohne sich auf dem Absatz umzudrehen und panisch nach Hause zu laufen …

Entschlossen ging sie die Treppe hinunter, die Augen stur geradeaus gerichtet – geflissentlich vermied sie den Blick in den großen Spiegel, der die Gäste beim Hereinkommen begrüßte –, und marschierte quer durch den Raum zu Tony, Paul und Jake, die gerade die Getränkevorräte auffüllten.

»Heilige Scheiße!«, rief Tony bei ihrem Anblick. »Was ist denn mit dir passiert? Bist du schon wieder krank?«

Misstrauisch beäugte er sie und hielt betont Abstand. In Tonys Welt war es medizinisch erwiesen, dass Krankheitserreger mehr als dreißig Zentimeter weit springen konnten.

»Nein, alles okay«, entgegnete Lou. Anteilnahme war der Stimme ihres Liebhabers jedenfalls nicht anzuhören, wie sie ernüchtert feststellen musste.

Sie spürte förmlich, wie Tony sie mit Blicken durchbohrte, als sie die Tür zum Büro aufdrückte und kurz verschwand, um ihre Tasche abzustellen. Außer Sichtweite fuhr sie sich nervös mit den Fingern durch die Haare, biss sich auf die Lippen (ohne Angst vor Lippenstift auf den Zähnen) und marschierte dann wieder hinaus in die Bar.

Tony hatte sich nicht vom Fleck gerührt. Noch immer starrte er sie mit offenem Mund und zutiefst misstrauischem Gesicht an, dem die natürliche Angst vor einer ansteckenden Krankheit nur zu gut anzusehen war. Paul und Jake glotzten sie ebenfalls an, allerdings nicht ganz so feindselig.

Ihre Blicke ignorierend machte Lou sich daran, die Kasse einzuräumen und die Plastikbeutelchen mit dem Münzgeld in die dafür vorgesehenen Fächer zu leeren.

»Hör mal, Süße.« Tonys Stimme klang etwas versöhnlicher. Lou wurde ganz steif; diesen Tonfall kannte sie. Es war Tonys »Sei nett zu deiner Mitarbeiterin, bestimmt hat sie wieder ihre Tage«-Stimme. »Sicher, dass du heute arbeiten solltest? Du bist doch nicht etwa ansteckend, oder? Hey, ich will nur dein Bestes!«, fügte er rasch hinzu und hob abwehrend die Hände, als müsse er sich gegen einen aggressiven menstruellen Frontalangriff schützen. »Am Wochenende fliege ich mit Suzy und den Kindern nach Marbella. Da kann ich deine Malaisen nicht gebrauchen.«

»Ich sagte doch schon, mir geht es blendend, vielen Dank«, entgegnete Lou, ohne den Blick von ihrer Arbeit zu wenden. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Tony sich zu Jake und Paul umdrehte und das Gesicht verzog.

»Tja, wenn das so ist« – seine Stimme hatte wieder ihren üblichen groben Befehlston angenommen –, »dann reiß dich gefälligst zusammen. Bei deiner Visage wird ja noch das Bier sauer. Unsere Gäste wollen was Hübsches zum Angucken; Zückerchen fürs Auge, kein Sauerkraut.«

Wütend drehte er sich um und polterte nach hinten ins Büro. Irgendwas an seiner Art ließ Lou vermuten, dass ihre Beziehung wohl kaum tiefer ging als ihr Make-up. Die Zeiten ihrer Quickies vor den Flaschenhaltern an der Bar waren eindeutig vorbei.

»Geht’s dir wirklich gut?«, fragte Paul leise. Er klang ehrlich besorgt. »Wir können dich auch vertreten, wenn du lieber nach Hause gehen und dich ins Bett legen willst.«

»Danke, Paul, aber das ist nicht nötig.«

»Also gut, wenn du meinst«, entgegnete er ohne rechte Überzeugung. »Du siehst jedenfalls ziemlich mitgenommen aus, wenn du mich fragst.«

Lou seufzte. Am besten brachte sie es schnell hinter sich. Schließlich sollte das kein kurz angelegtes Experiment werden.

»Hört zu, wenn ihr es genau wissen wollt« – sagte sie so laut, dass auch Jake es mitbekam –, »ich bin heute nicht geschminkt, mehr nicht.«

»Ach!« Paul klang etwas verlegen. »Mist! Tut mir leid, Lou!«

»Halb so wild«, entgegnete sie freundlich. Womöglich würde sie eine ordentliche Portion Optimismus brauchen, um die Sache durchzustehen. »Make-up ist schweineteuer. Bei der Menge, die ich mir sonst immer ins Gesicht gespachtelt habe, spare ich ein Vermögen.«

»Du siehst toll aus!«, versicherte Jake. »Jünger.«

»Danke! Ich dachte mir, es wird Zeit, dass ihr alle mich endlich mal kennenlernt«, erklärte sie fröhlich. »Ich meine, mich, so wie ich wirklich bin.«

Verdutzt schauten Jake und Paul sich an. Aber Lou machte sich gar nicht erst die Mühe, das weiter auszuführen. Stattdessen widmete sie sich den Flaschenhaltern und machte sich daran, die leeren Flaschen gegen volle auszutauschen. Und musste heimlich lächeln, als sie ihr frisches, sauber geschrubbtes Gesicht im glänzenden Edelstahl gespiegelt sah.