John

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Es war neun Uhr morgens, und John hatte schon die ganze Zeitung überflogen. Er saß am Küchentisch, nippte an seinem Kaffee und schaute nun versonnen nach draußen in den Garten, als das Telefon klingelte. Es war Geraldine.

»Morgen!«, flötete sie. »Ich habe gute Nachrichten für dich: eine neue Buchung von einer deiner Stammkundinnen.«

Augenblicklich rutschte ihm das Herz in die Hose. Er wusste nur zu gut, wer diese Stammkundin war. Und es war ein Glücksfall gewesen, dass sie so lange nicht nach ihm gefragt hatte.

Geraldine sprach ungerührt weiter. »Es ist Audrey Cracknell. Sie muss wieder einmal zum Ball ihres Berufsverbandes.«

John hielt den Atem an und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen.

»Wunderbar, Geraldine.« Irgendwie gelang es ihm, halbwegs glaubwürdig zu klingen. »Wieder im Town and Country Golf Club?«

»Ganz genau. Moment, ich suche mal eben die Details heraus.« Dann hörte er sie in ihren Unterlagen kramen und musste sich gegen das Gefühl wehren, in eine kleine, enge Kiste gesperrt zu werden.

»Da wären wir«, zwitscherte sie. »Du holst sie nächsten Donnerstag um halb acht ab. Abendkleidung ist erbeten, und sie möchte, dass du den kornblumenblauen Kummerbund trägst. Weil der angeblich so gut zu deinen Augen passt! Abendessen gibt es auf dem Ball, gegen Mitternacht sollte die ganze Sache vorüber sein.«

»Okay.« Er bemühte sich, gelassen zu klingen. »Ich freu mich drauf.«

»Du bist ein Goldstück«, flötete Geraldine fröhlich. »Darum können die Damen auch nicht genug von dir bekommen.«

Sie verabschiedeten sich voneinander, und er legte auf.

»Mist!«, fluchte er im nächsten Moment so laut, dass Buster, sein schwarzer Retriever, der schlafend im Korb gelegen hatte, verwundert den Kopf hob. Audrey gehörte zu den wenigen Klientinnen, durch die sein normalerweise sehr angenehmer Job zu einer sehr unangenehmen Pflichtübung wurde. Sogar jetzt, zu Hause in seiner Küche, hatte er noch genau vor Augen, wie sie stets so lange wie irgend möglich in seinem Auto sitzen blieb, wenn er sie abends heimbrachte. Dann schaute sie ihn mit einer seltsamen Mischung aus Koketterie und Schüchternheit an, wie ein zu groß geratener Backfisch, der sehnsüchtig seinen ersten Kuss erwartete.

John hatte versucht, ganz rational zu ergründen, warum er die Abschiedsszenen nach einem Abend mit Audrey so verabscheute, und letztendlich war er zu folgendem Schluss gekommen: Mit aufgerissenen Augen auf kleines Mädchen zu machen war einfach lächerlich, wenn die betreffende Frau Jahrzehnte zu alt war, um noch als junges Mädchen durchzugehen. Frauen Mitte dreißig und älter waren anziehend, eben weil sie nicht mit großen Augen staunend durch die Welt liefen – dafür hatten sie schon zu viel erlebt. Sie hatten Geschichten zu erzählen, Meinungen zu vertreten, Narben vorzuweisen und Erfolge zu präsentieren. Die Erfahrung hatte sie gelehrt, hocherhobenen Hauptes durchs Leben zu gehen, gelassen zu bleiben und nicht gleich zu hyperventilieren, sobald ein Mann in ihre Nähe kam. Durch seine Arbeit lernte John viele Frauen kennen: Manche hatten reichlich Erfahrung mit Männern, andere hatten schon seit Jahren keinen Partner mehr an ihrer Seite. Doch sie alle besaßen Würde oder zumindest eine innere Notbremse, die sie davon abhielt, eine gewisse Grenze zu überschreiten. Wenn Audrey sich dagegen auf dem Beifahrersitz seines Autos zu ihm umdrehte und ihn mit nervös flatternden Augenlidern und klimpernden Wimpern anschaute, sah er nur ihren gigantischen Busen, der auf und ab wogte, und befürchtete, von ihrem heftigen Atem könnten die Autoscheiben beschlagen.

John schüttelte sich.

Er gab es nur ungern zu, denn eigentlich mochte er Frauen – er hatte sich für diesen Job entschieden, eben weil er Frauen mochte –, aber beim Gedanken an Audrey Cracknell bekam er eine Gänsehaut. Er brachte es auch nicht über sich, ihr einen Abschiedskuss zu geben, nicht mal auf die Wange, und so lächelte er bloß, bedankte sich bei ihr für den wunderbaren Abend und sah sie gerade eben so lange an, dass sie sich nicht vollkommen zurückgewiesen fühlte. Dann tippte er mit dem Fuß ganz leicht aufs Gaspedal, um ihr einen sanften Wink zu geben, dass es nun an der Zeit war zu gehen. Stand sie schließlich auf dem Bürgersteig und die Beifahrertür schlug zu, fuhr er sehr gesittet los. Doch kaum war er um die Ecke und außer Sicht, trat er aufs Gas und bretterte mit heulendem Motor nach Hause wie ein rücksichtsloser jugendlicher Raser. Es war jedes Mal eine Erleichterung, sie wieder los zu sein.

John kippte den letzten Schluck Kaffee in den Ausguss, und Buster folgte ihm mit klingelndem Halsband durch die Küche, immer in der Hoffnung auf einen kleinen Spaziergang. Geistesabwesend strubbelte John ihm über den Kopf. Er hätte sich dafür verfluchen können, Geraldine nicht gesagt zu haben, dass er keine Buchungen von Audrey mehr annehmen wolle. Seit Jahren nahm er es sich immer wieder vor und brachte es dann doch nicht übers Herz. Er war nicht dumm. Natürlich wusste er sehr genau, was Audrey für ihn empfand und was die gemeinsamen Abende ihr bedeuteten. Er hätte blind, taub und blöd sein müssen, um das nicht mitzubekommen.

John zog seine dreckverkrusteten Gummistiefel an. Buster musste noch etwas warten. Der Garten rief.

Zwei Stunden grub er wie besessen, dann ging es ihm wieder besser. Er atmete tief durch und saugte die frische, kalte Winterluft gierig ein. Draußen in der Natur konnte man einfach nicht lange schlecht gelaunt sein. Er nahm den Stock, den Buster ihm vor die Füße gelegt hatte, und warf ihn hoch in die Luft. Buster schnappte ihn mit einem schmatzenden Geräusch seiner feuchten Lefzen.

John hatte sich entschieden. Diesen einen Abend mit Audrey würde er noch durchstehen, und wie immer würde er sich ihr gegenüber professionell freundlich und aufmerksam verhalten. Aber anschließend würde er Geraldine sofort mitteilen, dass er für Abendveranstaltungen mit gewissen hormonell unausgeglichenen Damen in Zukunft nicht mehr zur Verfügung stand.

Entschlossen nickte er, um seinen Plan zu bekräftigen. Der Ball im Town and Country Golf Club am Donnerstagabend würde Audreys letztes Abendmahl sein. Und der Kummerbund blieb dort, wo er hingehörte – auf dem Dachboden.

»Komm, Buster«, rief er fröhlich, nahm den Spaten und machte sich auf den Weg zurück zum Haus, diesmal mit einem kleinen, aber unübersehbaren beschwingten Federn im Gang. »Zeit für deinen Spaziergang.«