Audrey
Audrey tat etwas, das sie bei anderen nicht ausstehen konnte: Sie wand sich vor Unbehagen. Aber sie konnte einfach nicht anders. Der Bus ließ ewig auf sich warten, und jede Minute schien sich in die Unendlichkeit auszudehnen, während sie versuchte, ihre stetig wachsende Paranoia zu ignorieren.
Alle wussten es, da war sie sich sicher. Die Passanten, denen sie seit dem Verlassen des Hauses begegnet war, durchbohrten sie förmlich mit Blicken. Normalerweise wurde sie morgens auf dem Weg zur Arbeit glatt übersehen; sie war bloß eine unscheinbare Mittfünfzigerin unter vielen. Aber heute war es anders. Heute war sie sich sicher, dass jeder der Wartenden an der Bushaltestelle und jeder vorbeifahrende Autofahrer es wusste, einfach wusste: dass sie der Skandal in der Welt der professionellen Partnervermittlung war.
Irgendwann kam der Bus. Dankbar stieg Audrey ein, ging bis ganz nach hinten durch, nahm ihr Buch heraus und tat, als sei sie völlig versunken in die mehr als fadenscheinige Handlung der Geschichte.
Sie versuchte, das aufsteigende Panikgefühl zu unterdrücken, das ihr die Kehle zuzuschnüren drohte. Jetzt, während der Fahrt, kam sie ihrem Arbeitsplatz immer näher … und damit auch Alice. Eigentlich hatte sie vorgehabt, ganz früh im Büro zu sein und sofort in ihrem gläsernen Kubus zu verschwinden (warum nur hatte sie damals keine massive Backsteinmauer einbauen lassen?). Wenn die anderen dann kamen, wäre sie längst in den Papierkram vertieft oder gerade mitten in einem wichtigen Telefongespräch.
Aber mittlerweile war sie sich nicht mehr so sicher, ob das die beste Vorgehensweise war. Warum nicht gleich mit Alice reden und die ganze Sache hinter sich bringen? Wobei sie natürlich mit keiner Silbe die Szene vom Vorabend erwähnen oder gar zulassen würde, dass Alice sie darauf ansprach. Aber womöglich könnte sie das Mädchen bitten, ihr einen Kaffee zu holen oder sie einen Klienten betreffend auf den neuesten Stand zu bringen: irgendeine unbedeutende Kleinigkeit, um ihr zu zeigen, dass sie sich nicht versteckte.
Natürlich würde sie niemandem erklären, was es mit der Bombe auf sich hatte, die beim gestrigen Treffen des Berufsverbands der Partnervermittler geplatzt war. Dazu brauchte sie noch Zeit – sehr viel mehr Zeit. Denn obwohl sie sich die ganze Nacht den Kopf zermartert hatte, waren ihre Gedanken immer nur um einige wenige Dinge gekreist: ihr unverzeihliches Verbrechen gegen den armen Pickles, den Schmerz ihres gebrochenen Herzens und die erniedrigende Einsicht, wer an alledem schuld war. Der Scherbenhaufen, in dem ihr Berufsleben lag, musste vorerst noch warten. Fürs Erste lautete die Devise, die Mädchen anzuweisen, sämtlichen Anrufern zu erklären, sie sei nicht zu sprechen, um so ein bisschen Zeit zu gewinnen und die Kollegen aus der Branche noch ein paar Tage hinzuhalten. Und wenn sie es schaffte, für zwei Tage nicht ans Telefon zu gehen, dann wäre schon Wochenende, und sie hätte genügend Zeit, sich in Ruhe eine Lösung auszudenken. Wenn sie doch nur schon so weit wäre …
»Audrey?«
Erschrocken zuckte Audrey zusammen und schaute von ihrem Buch auf.
»Dachte ich mir doch, dass Sie es sind! Darf ich?«
Ein Mann stand vor ihr und schwankte im Takt mit dem ruckelnden Bus. Es war Maurice Lazenby. Wenn es überhaupt möglich war, dass Audreys Stimmung sich noch mehr verdüsterte, dann geschah es just in diesem Moment. Maurice wies auf den freien Sitz neben ihr, und sie nickte matt und fügte sich in ihr unabwendbares Schicksal. Vielleicht hatte sie es nicht anders verdient, als einen ordentlichen Maurice verpasst zu bekommen.
»Ich freue mich sehr, dass ich Sie hier treffe«, erklärte er, nahm Platz und strich sich pedantisch den Wachsmantel glatt. »Eigentlich wollte ich Sie anrufen und um einen Termin bitten. Ich kann es nämlich kaum erwarten zu hören, welche Fortschritte Sie bei der Suche nach der richtigen Partnerin für mich gemacht haben. Ich hoffe, Sie finden es nicht allzu forsch von mir, wenn ich Ihnen sage, wie sehr ich mich freue – und wie aufgeregt ich bin –, dass Sie sich nun persönlich meines Falls annehmen. Wie ich schon die ganze Zeit gesagt habe, sind Sie genau die Richtige für diese Aufgabe. Nicht, dass Ihre Mitarbeiterinnen nicht ebenfalls exzellent wären, aber mit Ihrer Fachkenntnis ist das natürlich überhaupt nicht zu vergleichen.«
Den vielen Menschen um sich herum zum Trotz stiegen Audrey Tränen in die Augen. Obwohl Maurice der letzte Mensch war, den sie heute Morgen sehen wollte – wobei sie eigentlich überhaupt niemanden sehen wollte –, hatte er es mit seinem blinden Vertrauen in ihre Fähigkeiten als Partnervermittlerin geschafft, ihren Schutzpanzer zu durchdringen. Er glaubte an sie. Er hielt sie für eine fähige Geschäftsfrau. Er, wenn schon niemand sonst, wusste nichts von den Niederlagen, die sie am gestrigen Tag erlitten, und der Schande, die sie auf sich geladen hatte. Unvermittelt liefen ihr Tränen über das Gesicht.
»Ist alles in Ordnung? Bin ich Ihnen zu nahe getreten?«
Hektisch kramte Audrey in ihrer Handtasche nach einem Taschentuch.
»Nein, ganz und gar nicht, es geht mir gut. Ich habe nur …«
»Bitte, nehmen Sie das.« Ein großes, tadellos gebügeltes weißes Taschentuch erschien plötzlich vor ihrer Nase.
»Danke.« Audrey nahm es und tupfte sich zaghaft die Tränen ab. Und dann brachen plötzlich alle Dämme, und sie vergrub das Gesicht in den tröstlichen Falten des weichen Stoffs.
»Ich habe nur …«, schluchzte sie so, dass sie kaum atmen konnte, »schlechte Nachrichten erhalten. Eine ganze Menge schlechter Nachrichten. Ich bin so ein Dummkopf gewesen.«
»Das wage ich zu bezweifeln.«
Audrey schniefte vernehmlich und rieb sich mit dem Taschentuch im Gesicht herum.
»Ich habe die ganze Nacht kein Auge zugetan.«
»Aha!«
»Und es ist mir so unangenehm, heute ins Büro zu gehen.« Kaum hatte sie das ausgesprochen, spürte sie eine neue Tränenflut aufsteigen. Diesmal machte sie sich gar nicht erst die Mühe, sie wegwischen zu wollen; sie verbarg das Gesicht einfach wieder im Taschentuch. Da merkte sie plötzlich, wie Maurice ihr schützend den Arm um die Schultern legte. Vor Schreck wurde sie stocksteif. Audrey hatte nie Körperkontakt zu anderen Menschen, höchstens mal aus Versehen. Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann sie das letzte Mal ein anderer Mensch so berührt hatte. Jemand hielt sie im Arm, dachte sie unvermittelt … und dann auch noch ausgerechnet Maurice!
Doch dann drang die angenehme Wärme dieser einfachen menschlichen Berührung durch ihren Mantel bis zu ihren müden Knochen, und langsam, ganz langsam löste sich ihre Schreckstarre, bis ihr Kopf schließlich gegen Maurice’ Schulter lehnte und ihre Tränen langsam sein maßgeschneidertes Revers tränkten.
Schweigend fuhren sie weiter. Und auf einmal spürte Audrey all die langen Stunden ihrer schlaflosen Erschöpfung, während sie sich in der Geborgenheit von Maurice’ Beinahe-Umarmung einige kurze, unerwartete Augenblicke gehen ließ.
Ihre Haltestelle näherte sich, und sie suchte hastig nach ein paar gewählten Dankesworten. Was um alles auf der Welt sollte sie zu ihm sagen? Sie war Maurice sehr dankbar für seine Freundlichkeit – und dafür, dass sie sein Taschentuch benutzen durfte –, aber wie peinlich war es doch, dass er sie so gesehen hatte! So schwach. Ein schrecklicher Zufall, bedachte man die geringe Wahrscheinlichkeit, am frühen Morgen einem ihrer Klienten zu begegnen, und dann auch noch ausgerechnet Maurice, dem ewig nörgelnden alten Jammerlappen. Wie um alles auf der Welt sollte sie ihre Beziehung nach einem solchen Schnitzer nun wieder auf eine sachliche Geschäftsebene bringen?
Dann kam die Haltestelle in Sicht, und es half alles nichts mehr. Sie stand auf. Zu ihrer Überraschung erhob auch Maurice sich von seinem Platz.
»Ich bringe Sie an Ihren Schreibtisch«, erklärte er ritterlich.
»Das ist sehr nett von Ihnen, aber wirklich nicht nötig.«
»Unsinn«, beharrte Maurice. »Ich würde nicht mal im Traum daran denken, Sie in diesem Zustand allein ins Büro gehen zu lassen.«
Audrey folgte ihm und musste zugeben, dass sie seine Sorge zutiefst berührte. Und es war wirklich angenehmer, nicht mutterseelenallein durch die Tür zu Table For Two gehen zu müssen. Vor allem deshalb nicht, weil sie beim Hereinkommen Alice entdeckte, die bereits an ihrem Schreibtisch saß. Maurice führte sie durch das große, offene Büro, und sie zwang sich, Alice’ Blick kurz zu erwidern und ihr zur Begrüßung steif zuzunicken. Alice wirkte beinahe ebenso kaputt und niedergeschlagen wie sie selbst.
»Guten Morgen, Miss Brown«, grüßte Maurice Alice höflich. »Wären Sie so nett und machen Ms Cracknell bitte eine Tasse Tee? Mit besonders viel Zucker.«
»Natürlich!«, entgegnete Alice verdutzt und sprang sofort auf. Audrey glaubte, einen Hauch Enttäuschung in ihrer Stimme zu hören. Was machte sie denn so früh schon im Büro? Hatte sie Audrey etwa allein sprechen wollen?
Aber ihr blieb keine Zeit zum Nachdenken. Maurice rauschte mit ihr durch das Büro und hielt ihr die Tür zu der gläsernen Enklave auf, ehe er sie dann vorsichtig hinter ihr zumachte. Wohl wissend, dass Alice sie womöglich beobachtete, zog Audrey befangen den Mantel aus und verfluchte sich still, als eine ganze Lawine zerknüllter, tränenfeuchter Taschentücher aus dem Ärmel rutschte und zu Boden fiel.
»Lassen Sie, ich mache das schon.« Rasch sammelte Maurice sie ein und warf sie in den Papierkorb. Dann griff er in die Innentasche seines Mantels und zog eine Visitenkarte heraus.
»Ich bin mir sicher, Sie kommen auch allein zurecht«, sagte er freundlich. »Und ich weiß, Sie haben bestimmt Dutzende Freunde, mit denen Sie lieber reden als mit mir. Aber manchmal tut es ganz gut, einem Fremden das Herz auszuschütten. Nun bin ich Ihnen zwar nicht völlig fremd, aber für diesen Zweck dürfte es genügen. Was ich damit sagen möchte, ist, Sie sind herzlich eingeladen, mir Ihr Problem darzulegen. Ehrlich gesagt, würde ich mich freuen. Es wäre mir eine Ehre, Ihnen irgendwie auch einmal von Nutzen sein zu dürfen.«
Zögernd nahm Audrey die Karte entgegen. Sie wusste nicht, was sie dazu sagen sollte.
»Wir kennen uns nicht besonders gut«, fuhr Maurice sehr förmlich fort, »aber ich möchte Ihnen versichern, dass ich Sie als Partnervermittlerin sehr schätze, und als Geschäftsfrau und als Frau, und es schmerzt mich, Sie so unglücklich zu sehen. Ich stehe Ihnen jederzeit zur Verfügung, Tag und Nacht. Sollten Sie irgendetwas brauchen, ganz gleich, was es ist, rufen Sie mich einfach an.«
Bei diesen mitfühlenden Worten stiegen Audrey erneut Tränen in die Augen, und sie musste schlucken. Mit einem schiefen Lächeln sah sie ihn dankbar an.
Maurice machte sich mit einem Nicken und einer leichten Verbeugung rückwärts auf in Richtung Glastür. Gerade, als er im Türrahmen stand, kam Alice mit dem Tee.
»Danke, Alice«, krächzte Audrey und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Aus den Augenwinkeln sah sie Alice unschlüssig in der Tür stehen, schaute sie jedoch nicht an. Stattdessen sah sie Maurice nach, der durch das Büro nach draußen ging. Sein Mantel verschwand durch die Tür, und mit einem Mal fühlte sie sich nicht mehr so sicher wie gerade eben noch.
»Audrey?«, fragte Alice zögerlich.
»Jetzt nicht«, entgegnete sie leise und wandte den Blick nicht von der Stelle, wo sie Maurice’ Mantel zuletzt gesehen hatte.
Dann wurden sie zum Glück abgelenkt, denn Bianca und Cassandra platzten herein. Alice drehte sich zu ihnen um, und Audrey griff rasch nach dem Telefonhörer und tippte blind eine erfundene Nummer ein. Widerstrebend verließ Alice das Glasbüro ihrer Chefin und ging hinaus zu ihren laut plappernden Kolleginnen.
Mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung drehte Audrey sich auf ihrem Stuhl herum und tat, als telefonierte sie.