Alice
Es ging schon auf Mittag zu, und von einer flüchtigen Begrüßung und einem Dankeswort für den Tee abgesehen hatte Audrey Alice bisher links liegen gelassen. Und alle anderen ebenso. Keinen Fuß hatte sie vor die Tür ihres gläsernen Büros gesetzt. Entweder war sie in Papierkram vertieft oder mit einem ihrer wichtigen Telefonate beschäftigt. Fast schien es, als gebe es die Welt auf der anderen Seite der Glaswand nicht.
Emsig über den Computer gebeugt und, wie sie hoffte, ebenso arbeitsam wirkend wie Audrey, wartete Alice auf eine Gelegenheit, rasch in das Büro ihrer Chefin zu schlüpfen und sie um Entschuldigung zu bitten. Audrey wirkte müde. Aber abgesehen davon merkte man ihr die Strapazen des vergangenen Tages nicht an.
Die Einzelheiten von Audreys kuriosem Liebesleben waren heute Biancas und Cassandras einziges Gesprächsthema. Mehrmals hatte Alice versucht, den Tratsch zu unterbinden, aber die Mädels hatten sie nur böse angeguckt und sie angefaucht, sie sei hier nicht der Chef, und irgendwann hatte sie es aufgegeben. Zusammen kauften die beiden sicher ein Dutzend Klatschzeitschriften in der Woche; sie also daran hindern zu wollen, sich über eine echte Skandalgeschichte zu ereifern, die sich genau vor ihrer Nase abspielte, war wohl ein Ding der Unmöglichkeit. Außerdem begutachteten sicher landauf, landab sämtliche Partnervermittler heute Morgen ausgiebig Audreys in aller Öffentlichkeit ausgebreitete schmutzige Wäsche. Beim Gedanken daran wäre Alice am liebsten in das Büro ihrer Chefin gerannt und hätte ihr die Ohren zugehalten.
Bedrückt widmete sie sich wieder ihrem halb fertigen Kündigungsschreiben.
Zweifellos würde Audrey ihre Kündigung akzeptieren. Schließlich hatte sie Alice quasi seit dem Moment, als sie sie eingestellt hatte, wieder loswerden wollen. Vielleicht tat sie auch deshalb heute so geschäftig, dachte Alice plötzlich. Vielleicht sammelte sie eifrig Gründe für ihre Entlassung. Warum sonst sollte Maurice Lazenby am frühen Morgen hier auftauchen? Alice hatte nicht viele unzufriedene Klienten, aber Maurice gehörte zweifellos dazu. Bestimmt sollte er die Munition für ihr Erschießungskommando liefern, dachte sie niedergeschlagen.
In ihrem Posteingang tauchte eine E-Mail auf und riss sie aus den traurigen Gedanken an ihr berufliches Scheitern. Sie war von John.
Liebes, stand da.
Ich hoffe, es ist alles in Ordnung. Zumindest, soweit man das erwarten kann. Wenn sie dich rauswirft, keine Angst! Ich habe schon einen Plan für unsere berufliche Zukunft. Abendessen bei mir, damit ich dir alles in Ruhe erklären kann? Ich hole dich gegen acht im Krankenhaus ab (ich nehme an, du möchtest Hilary und das Baby besuchen – nicht, dass du wegen Audrey dort gelandet bist!).
J x
Allen Widrigkeiten zum Trotz musste Alice lächeln. Himmel, es war so schön, endlich einen Freund zu haben. Bisher hatte sie gar nicht gewusst, wie sehr ihr das all die Jahre gefehlt hatte. Das war den ganzen Ärger wert, sagte sie sich. Sie konnte sich einen anderen Job suchen, weit weg vom Einzugsgebiet von Table For Two. Denn Audrey nicht nur den Mann, sondern auch noch die Klienten abspenstig zu machen wäre ihr wie Hochverrat vorgekommen. Und außerdem, für wen sollte sie hier in der Gegend schon arbeiten? Für Sheryl? Bestimmt nicht. Und auch für keines der anderen Mitglieder des Verbandes. Nicht, nachdem keiner von ihnen den Anstand gehabt hatte, Audrey beim letzten Treffen beizustehen.
Nein, sie musste in eine andere Stadt ziehen. Was allerdings bedeuten würde, dass sie ihre Klienten zurücklassen musste. Der Gedanke versetzte ihr einen schmerzhaften Stich. Aber ihr würde nichts anderes übrig bleiben. Sie und John mussten irgendwo ganz von vorne anfangen, wo niemand sie aus ihren alten Jobs kannte. Und wenn sie erst mal fort waren, würde Audreys gebrochenes Herz hoffentlich langsam, aber sicher wieder heilen. In ein paar Jahren würde sie gar nicht mehr an John und Alice denken; sie wären nur noch ein böser Traum, an den Audrey sich kaum noch erinnerte.
Sie straffte die Schultern und konzentrierte sich darauf, die Kündigung fertig zu schreiben.