Audrey
Audrey stolperte durch die Stadt, und die Tränen liefen ihr wie Sturzbäche über das Gesicht. Blind stürzte sie über die Straße, über rote Ampeln und durch gefährlich dunkle Parks. Sie sah nichts, hörte nichts, fühlte nichts, nur das Messer, das John und Alice ihr ins Herz gestoßen hatten.
John und Alice.
Ihr John und ihre Alice.
Wie war Alice bloß über Nacht so bildhübsch geworden? Wann hatte sich das hässliche Entlein in so einen stolzen Schwan verwandelt? Ihre Liaison mit John musste direkt vor Audreys Nase ihren Anfang genommen haben. Alles in ihr zog sich beim Gedanken daran schmerzhaft zusammen. Ob John Alice vorher schon mal geküsst hatte? Hatte er ihr Gesicht berührt, mit der Hand über die samtweiche Haut ihres bloßen Rückens gestrichen, die Finger unter die Träger ihres Kleides geschoben und zugesehen, wie es in fließenden Falten zu Boden gefallen war? Hatte er womöglich sogar …? Mit Alice? Mit der konnte-kein-Wässerchen-trüben, verträumt-aus-dem-Fenster-starrenden Alice? Mit der Alice, die sie eingestellt und der sie vertraut, die sie unterstützt und gefördert hatte? Mit der Alice, die sie – aus der Güte ihres Herzens heraus – zum Ball mitgenommen hatte? Und wie hatte sie es ihr gedankt? Sie hatte sie betrogen und belogen. Hatte sich tags in ihren schlabbrigen Strickjacken versteckt, um sich abends aufzudonnern wie eine männermordende Femme Fatale. Was hatte Audrey ihr denn getan?
Je näher sie ihrer Wohnung kam, desto heftiger pochte der Zorn in ihren Adern. Wie konnte Alice es wagen, ihr das anzutun? Wie konnte sie so dreist sein, ihr John wegzuschnappen! Sicher lachte sie sich schon seit Wochen heimlich ins Fäustchen. Vermutlich war kein Tag vergangen, ohne dass sie sich selbstzufrieden auf die Schulter geklopft hatte. Ihrer Chefin so eins auszuwischen! Und dabei hatte sie Audrey zuckersüß ins Gesicht gelächelt, nur um heimlich schon das Messer zu wetzen, das sie ihr in den Rücken rammen wollte, während sie John mit ihren Hurenfingern über selbigen strich.
Vor Wut noch immer schäumend stapfte Audrey den Pfad durch den Vorgarten zu ihrem Haus entlang. Dort angekommen stieß sie zornig die Tür auf und trampelte durch den Flur. Tja, dieser Alice würde sie es schon zeigen! Sie würde dieser verschlagenen kleinen Dirne ein für alle Mal klarmachen, dass mit ihr nicht zu spaßen war. Auf die Straße setzen würde sie sie. Bloßstellen vor allen Leuten. Sie teeren und federn und auf einem Esel aus der Stadt jagen. Und, und, und …
In ihrer Raserei merkte Audrey kaum, wie Pickles ihr um die Beine strich und nach seinem Futter maunzte.
Zerschmettern würde sie diese hinterhältige Schlampe. Sie vernichten. Dafür sorgen, dass John den Tag verfluchte, an dem sein Blick zum ersten Mal auf dieses heuchlerische, hinterhältige kleine Flittchen gefallen war.
Außer sich vor Wut trat Audrey zu. Ihr Fuß traf etwas Weiches, und sie hörte ein jämmerliches Jaulen – und dann war es still. Wie gelähmt stand Audrey auf einem Bein, das andere noch in der Luft, und hatte plötzlich einen entsetzlichen Geschmack nach Galle im Mund.
Ihr Blick ging nach unten.
Pickles lag auf dem Boden, gleich vor der Fußleiste. Sein Brustkorb hob und senkte sich mühsam unter qualvollen, abgehackten Atemzügen, und eins seiner beiden Hinterbeine stand unnatürlich ab. Das Bein war kaputt. Pickles war kaputt.
Entsetzt schrie Audrey auf, ein lang gezogenes, gequältes Stöhnen, das aus ihrem tiefsten Inneren kam. Verzweifelt fiel sie auf die Knie.
»Pickles!«, schrie sie reumütig. »Mein geliebter Pickles. Es tut mir leid. Es tut mir so leid!«
Sie wollte ihn streicheln, doch Pickles zuckte vor Schmerzen zusammen.
»Es tut mir leid, es tut mir leid, es tut mir leid«, stammelte sie hilflos. Große, schwere Tränen tropften von ihren Wangen auf Pickles’ Fell und versickerten in seinem dichten Fell.
»Es tut mir leid, es tut mir leid, es tut mir leid.«
Die Tränen liefen ihr in Strömen über das Gesicht, und mit einem Schlag war all ihre Wut verraucht, als sie mit ansehen musste, wie ihr einziger Freund unter Schmerzen um Atem rang. Es dauerte einige lange Augenblicke, bis Audrey sich auf die Beine mühte und panisch das Telefonschränkchen durchsuchte, achtlos Werbezettel und alte Broschüren herausreißend auf ihrer verzweifelten Suche nach den Gelben Seiten.
»Es tut mir leid, es tut mir leid«, wiederholte sie immer und immer wieder, während sie versuchte, sich auf die winzige Schrift zu konzentrieren und einen Nottierarzt ausfindig zu machen. Schwer klatschten ihre Tränen auf die Seiten. Das dünne gelbliche Papier saugte sie auf wie Löschpapier, und die Nummern darauf verschwammen vor so viel Nässe.