Kate

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Kate stand vor dem Supermarkt und schaute noch mal auf die Uhr. Es war halb acht und damit endlich spät genug. Jetzt konnte sie ins Pub gehen.

Seit zehn Minuten drückte sie sich bereits hier herum, weil sie nicht zu früh zu ihrem Date mit Tommy kommen wollte. Lou hatte ihr geraten, mindestens zwanzig Minuten zu spät zu kommen, aber das wollte sie dann doch nicht. Was, wenn er in der Zwischenzeit die Geduld verlor und einfach aufstand und ging? Und außerdem, seit wann war Lou eine Expertin für romantische Rendezvous? Eine weltweit anerkannte Fachfrau für unverbindlichen Sex, das ja. Aber doch nicht, was ernsthafte Verabredungen anging.

Kate begutachtete sich im Schaufenster des Supermarkts und warf einen letzten Blick auf das schlichte Seidenkleid und die Mary-Jane-Pumps. Dann strich sie sich über die Haare, atmete tief durch, ging die wenigen Schritte bis zum Pub und gab sich große Mühe, möglichst selbstbewusst zu wirken, als sie schwungvoll die Tür öffnete und den Raum betrat.

Ein Mann, der wohl Tommy sein musste, saß in ein Buch vertieft ganz in der Nähe der Tür. Sie nutzte den unbeobachteten Moment, um ihn zu mustern, ehe er auf sie aufmerksam wurde und aufschaute.

Er war überhaupt nicht ihr Typ, aber irgendwie sah er trotzdem gut aus. Das Jackett hatte er über den Stuhl neben sich geworfen, die Krawatte abgelegt und die Hemdsärmel hochgekrempelt, sodass seine muskulösen Unterarme zum Vorschein kamen. Das Hemd saß im bestmöglichen Sinne wie angegossen; der Stoff spannte ein wenig über der breiten, starken Brust, und der offene Kragen gab den Blick auf dichte Brusthaare frei. Von seinem Gesicht sah Kate nicht allzu viel, doch seine Nase sah aus, als sei sie mal gebrochen gewesen, und er hatte ein ausgeprägtes Kinn und einen leichten Bartschatten. Wie ein Model sah er ganz bestimmt nicht aus, nicht annähernd so gut wie Sebastian. Eher könnte man ihn für einen Feuerwehrmann oder einen Rugby-Spieler halten – er war einfach durch und durch ein Alpha-Männchen.

Irgendwas in Kate regte sich. Plötzlich überkam sie das bizarre Verlangen, sich vorzubeugen und seinen rauen Bartschatten zu streicheln. Und dann stellte sie sich vor, wie er sie mit seinen muskulösen Armen umfing und fest an seine breite Brust drückte.

»Kate?«

Tommy lächelte ihr zu, und schuldbewusst zuckte Kate zusammen.

»Wow, hallo!« Er wirkte überrascht. Schnell stand er auf und gab ihr zur Begrüßung einen Kuss auf die Wange. »Jetzt verstehe ich, warum Steve das macht! Ich hätte nicht gedacht … Ich meine, schön und gut, Online-Dating ist eine Sache, das kann man sehen, wie man will. Aber ich dachte eigentlich immer, Frauen, die zu Dating-Agenturen gehen, wären alle ein bisschen … Sie wissen schon, verzweifelt. Aber, wow …!«

Kate wurde knallrot und wusste nicht, was sie sagen sollte.

»Nicht, dass Sie das wären … Verzweifelt, meine ich. Eine Frau wie Sie … ist alles, nur nicht verzweifelt«, schob er etwas verlegen hinterher. »So, jetzt stehe ich also schon mal mit beiden Beinen im Fettnäpfchen. Ich hab Ihnen einen Champagner bestellt.«

Da erst bemerkte Kate das Glas Champagner, das munter perlend neben seinem Bierglas stand.

»Danke schön«, sagte sie erstaunt.

Sie setzten sich.

Kate hatte plötzlich einen trockenen Mund. Sie musste unbedingt irgendwas sagen.

»Sie sind also ein Freund von Steve?«, erkundigte sie sich nervös.

»Leider ja!«, entgegnete Tommy und grinste verschmitzt. »Er war ziemlich angefressen, als Alice ihm sagte, Sie hätten kein Interesse! Und er war auch nicht besonders erfreut darüber, dass wir uns heute Abend treffen. Bestimmt bekomme ich dieses Jahr kein Weihnachtsgeschenk.«

Kate nippte an ihrem Champagner und freute sich insgeheim, der Grund für diese kleine freundschaftliche Rivalität zu sein. Sie konnte Tommys Blicke, mit denen er sie anerkennend musterte, förmlich auf ihrem Körper spüren. Was seltsam erregend war. Sie setzte sich kerzengerade hin und versuchte, den Bauch einzuziehen.

»Und wieso machen Sie das dann? Sich verkuppeln lassen, meine ich?«

»Neulich Abend habe ich Alice kennengelernt, durch Steve. Sie hat sich mit ihm im Pub getroffen, weil sie wissen wollte, wie es mit seinen Verabredungen läuft – wobei ich eher glaube, sie wollte ihm mal etwas genauer auf die Finger schauen …«

Kate konnte einfach nicht anders, sie musste immer wieder zu dem kleinen Fleckchen seiner Brust schauen, das durch den offenen Hemdkragen zu sehen war. Normalerweise stand sie nicht auf Brusthaare, aber Tommy wirkte damit nur umso männlicher.

»… und da hat sie mich gefragt, ob sie eine Verabredung für mich arrangieren darf. Ich habe mir gedacht, warum nicht? Ist ja nur für einen Abend. Und ich war sehr neugierig, was für eine Frau eine sogenannte Expertin für mich aussuchen würde. Mit Bierbrille sieht man nicht unbedingt glasklar.«

»Ach!« Kate hatte auf einmal ein flaues Gefühl im Magen. »Und, ähm, tragen Sie die öfter?«

»Meine Bierbrille? Ich habe vor Kurzem eine neue verordnet bekommen, aber es ist jedes Mal ein echter Schock, wenn es wieder hell wird!«

Er war also ein Weiberheld, dachte Kate angewidert, womit er glatt durch ihr Raster fiel. Und doch wurde sie rot, als er sie anlächelte.

»Tja, jedenfalls wollten Sie mich mit dem Champagner beeindrucken«, hörte sie sich kokett sagen. »Lassen Sie mich raten. Sie sind Aktienbroker. Oder dick im Ölgeschäft.« Und dann bedachte sie ihn mit einem, wie sie hoffte, verführerischen Lächeln.

»Ich arbeite für ein Unternehmen, das Kreditkarteninformationen sammelt.«

Kate musste sich zusammenreißen, um sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen.

»Ach, das ist aber …«

»… der langweiligste Job der Welt?«

Kate bemühte sich um ein Lächeln. Sie wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte.

»Wie ich sehe, sind Sie schwer beeindruckt!«, bemerkte Tommy lachend. »Aber ich bin mir sicher, Sie sind viel zu aufgeschlossen, um einen Menschen nach seinem Beruf zu beurteilen. Das machen nur oberflächliche Dummköpfe und Bussi-Bussi-Werbetussis. Als würde das, was man zwischen neun und fünf tut, bestimmen, ob man ein interessanter Mensch ist oder nicht!«

»Ja, das ist wirklich dumm!«, stimmte Kate ihm hastig zu. Und er hatte ja auch Recht. Wenn er es so sagte, klang es wirklich dämlich. Sie wand sich innerlich ein wenig, als sie an die strikten Vorgaben dachte, die sie Alice genannt hatte. Was hatte sie angegeben, das ihr Traummann beruflich machen sollte? Sollte er nicht zwingend ein Top-Manager mit Vorstandsperspektive sein? Hoffentlich hatte Alice das Tommy gegenüber nicht erwähnt.

»Und macht Ihnen die Arbeit denn Spaß?«, fragte sie höflich nach.

»Ich verdiene damit meine Brötchen, mehr nicht. Und Sie? Was machen Sie beruflich?«

»Ja also, ich bin so eine Bussi-Bussi-Werbetussi«, erklärte Kate lachend. »Ich arbeite im PR-Bereich. Seit Jahren werfe ich professionell Luftküsschen durch die Gegend!«

»Upps!«, meinte Tommy und grinste verlegen. »Und macht Ihnen die Arbeit Spaß?«

»Und wie!«

»Es ist komisch, jemanden kennenzulernen, dem seine Arbeit gefällt. Ich dachte immer, das sei ein Mythos. Ehrlich gesagt befürchte ich, es gibt keine Arbeit, die mir wirklich Spaß machen würde. Mit zehn wurden wir in der Schule gefragt, was wir mal werden wollen, wenn wir groß sind, und ich habe meiner Lehrerin gesagt, ich wolle Playboy werden. Ich hatte keine Ahnung, was das ist. Aber ich fand, das ›Play‹ darin klang sehr verlockend. Mir war immer schon mehr nach Spielen als nach Arbeit.«

Ungebeten drängte sich ein Bild in Kates Kopf: Tommy in einem Whirlpool, umgeben von leicht bekleideten Blondinen. Sie war bestimmt gar nicht sein Typ, schoss es ihr durch den Kopf, und der Gedanke versetzte ihr sogleich einen Stich. Er stand offensichtlich auf Frauen mit großen Brüsten und lockerer Moral; Frauen, die leicht zu haben waren. Auch wenn er bei dieser Aussage erst zehn gewesen war.

»Und warum machen Sie es dann?«, überlegte sie laut.

»Maximale Bezahlung für minimalen Einsatz. Ich geh rein, mach meinen Kram und gehe wieder nach Hause! Reich werde ich damit nicht, aber lieber bin ich glücklich … Sie wissen schon: Arbeiten, um zu leben, nicht leben, um zu arbeiten.«

Kate erstarrte. Mit einem Schlag waren ein Dutzend Häkchen, die sie auf ihrer Liste gesetzt hatte, ausradiert. Der Kerl war ein Faulpelz.

»Faul bin ich nicht«, meinte er lachend, als könne er ihre Gedanken lesen. »Ich sehe es bloß nicht ein, unbezahlte Überstunden zu machen, wo es so viele schönere Dinge gibt, die man stattdessen tun kann!«

Kate war sich da nicht so sicher. Was denn für schöne Dinge? Sie lebte in erster Linie, um zu arbeiten. Doch noch während sie darüber nachdachte, ging ihr auf, dass ihr diese Beschreibung von sich selbst ganz und gar nicht gefiel. Wer behauptete schon gern von sich, er lebe, um zu arbeiten? Bestimmt keine Frau, die Tommy gefiel. Wenn sie ihn sich so anschaute, mit den kräftigen Armen, den lachenden Augen und seiner unbeschwerten Art, ging ihr plötzlich auf, dass sie sich das – all ihren Vorbehalten zum Trotz – wünschte. Ihm zu gefallen.

Aber möchte ich wirklich einen frauenvernaschenden Versager als Freund?

Andererseits, welcher Versager hatte schon so einen Körper? Er sah aus, als könne er sie mit einer Hand hochheben – und in der anderen noch ganz entspannt ein Bierglas halten. Kate fühlte sich eigentlich immer ein bisschen zu mollig. Aber jetzt, wo sie mit Tommy hier saß, kam sie sich plötzlich klein und zierlich und sehr weiblich vor.

Gott, war sie durcheinander. Sie musste die ganze Zeit grinsen, und ihr Körper kribbelte von oben bis unten, als hätte sie die Finger in eine Steckdose gesteckt.

Nachdem sie ausgetrunken hatten, schlug Tommy vor, gemeinsam essen zu gehen, und als sie die Bar verließen, nahm er ihre Hand. Seine Hand, die sich um ihre legte, fühlte sich warm an, stark und groß.

Im Restaurant angekommen, setzten sie sich an einen Tisch am Fenster. Zwischen ihnen flackerte eine Kerze. Beim Blick auf die Speisekarte sortierte Kate im Geiste rasch alle Gerichte aus, die sie auf keinen Fall bestellen durfte. Spaghetti gingen gar nicht; viel zu viel Schweinerei. Pilze in Knoblauchsauce genauso wenig; schlecht für den Atem. Hummer war ebenfalls gestrichen. Und ein Salat war zu leicht nach dem Champagner. Also bestellte sie einfach ein Steak mit Pommes frites und Sauce Béarnaise.

»Gute Wahl!«, bemerkte Tommy zustimmend. »Ich mag Frauen, die gern essen. Für magere Hungerhaken hatte ich noch nie was übrig. Ich kann es nicht ausstehen, wenn Frauen irgendwas Tolles bestellen, ein Gäbelchen davon essen und dann so tun, als seien sie satt.«

»Oh ja! Ich könnte auch immer ausflippen, wenn dünne Frauen sagen, huch, ich hab doch glatt vergessen, zu Mittag zu essen«, pflichtete sie ihm hitzig bei. »Dann würde ich ihnen am liebsten ein dickes fettes KitKat Chunky um die Ohren hauen. In meinem ganzen Leben habe ich noch keine einzige Mahlzeit ›vergessen‹!«

»Das hört man gerne«, sagte Tommy. »Und es steht Ihnen nicht schlecht. Sie haben eine tolle Figur.«

»Finden Sie wirklich?«, fragte Kate verdutzt. Noch nie hatte ihr ein Mann ein Kompliment über ihre Figur gemacht.

»Aber klar doch! Schöne Kurven an genau den richtigen Stellen. Auf so eine Figur stehen doch alle Männer.«

Und dann plauderten sie ganz entspannt weiter. Kate erzählte Tommy von ihrem Job und dass sie gerade damit beauftragt war, Hundefutter sexy wirken zu lassen. Dann kam sie auf Lou zu sprechen und dass sie sich wünschte, sie selbst wäre ein bisschen mehr wie ihre Freundin; dass Lou der Spitzentanga-Typ war, während Kate im Grund ihres Herzens mehr ein Pyjama-Mädchen war.

»Diese Lous kenne ich«, stellte Tommy fest. »Die kommen immer so selbstbewusst daher und schleppen die Kerle gleich reihenweise ab, aber eigentlich ist das bloß Kompensation. Ich wette, im tiefsten Inneren ist sie eine heillose Romantikerin und wünscht sich nichts sehnlicher als einen Freund. Sie sagen, Sie wären gerne mehr wie Ihre Freundin, aber ich wette, Ihre Freundin wäre gerne wie Sie!«

»Nein, Lou nicht«, entgegnete Kate entschieden. »Ich bin der letzte Mensch auf Erden, dem sie ähnlich sein möchte. Wir sind wie Feuer und Wasser. Sie würde sich zu Tode langweilen, wenn sie wie ich wäre. Und sie findet, ich bin ein armes Würstchen, weil ich zu Table For Two gegangen bin.«

»Tja, als Würstchen würde ich Sie nicht unbedingt bezeichnen«, widersprach Tommy lächelnd, »aber ich habe mich auch schon gefragt, warum Sie das getan haben.«

Und dann schaute er ihr tief in die Augen. Kates Atem ging schneller.

»Ich kapiere es einfach nicht, Kate. Sie sind bildhübsch! Sie haben eine Hammerfigur, sind witzig und unterhaltsam, und Sie essen gerne. Sie könnten jeden Mann haben, den Sie wollen. Wieso ist eine Frau wie Sie Single?«

»Ich, ähm … ich weiß nicht. Ich habe wohl noch nicht den Richtigen gefunden.«

»Oder Lou hat ihn in die Flucht geschlagen.«

»Nein, daran liegt es bestimmt nicht.«

»Nicht?«

»Vermutlich arbeite ich zu viel. Ich komme zu selten unter Leute.«

»Ach!«, rief Tommy fröhlich und schenkte ihr nach. »Das lässt sich ändern.«

Später, als Kate zu Hause in ihrem Bett lag, war sie so aufgeregt, dass sie kaum einschlafen konnte. Ihr Kinn kribbelte noch von Tommys rauen Bartstoppeln, und ihre Lippen waren herrlich wund. Sie setzte sich auf, schlang die Arme um die Knie und grinste.

Die Zeit war wie im Flug vergangen. Sie hatten zusammen gegessen, und er hatte ihr Komplimente gemacht. Irgendwann, nachdem sie das köstliche, kalorienreiche Dessert verputzt hatten, war Tommy mit ihr aus dem Restaurant zu einem Taxi gegangen. Es war sonst gar nicht ihre Art, aber sie hatte widerstandslos zugelassen, dass er sie auf seinen Schoß zog, und sich seinen starken, muskulösen Armen hingegeben. Ausnahmsweise hatte sie keinen Gedanken daran verschwendet, ob sie zu schwer für ihn war und ihm womöglich die Beine zerquetschte. Tommy hatte Oberschenkel wie Baumstämme.

Sie hatten hingebungsvoll geknutscht, während sie im Taxi durch die Stadt fuhren. Kates Brustwarzen kribbelten vor Erregung, und sie war so heiß, dass sie den Taxifahrer am liebsten ignoriert, alle Warnungen in den Wind geschlagen und sich die Kleider vom Leib gerissen hätte, damit er sie auf der Stelle nahm.

Als das Taxi dann vor ihrer Haustür anhielt, hatte Tommy ihr tief in die Augen geschaut und gesagt: »Du wirst meine Freundin, Kate. Widerstand ist zwecklos.«

Ihr ganzer Körper hatte geglüht, und ein warmes Gefühl von Geborgenheit hatte sie überkommen. Er wollte sie als seine Freundin! Und er hatte es einfach geradeheraus gesagt!

»Ich ruf dich an«, hatte er bedeutungsvoll hinzugefügt, und dann war das Taxi auch schon wieder weg gewesen, während sie auf dem Bürgersteig gestanden und gegrinst hatte wie ein Honigkuchenpferd.

Eins musste man Alice lassen, dachte sie, als sie sich glücklich in die Kissen kuschelte, ohne sich darum zu scheren, dass ihr Seidenkleid zusammengeknüllt auf dem Boden vor dem Bett lag, sie sich die Zähne nicht geputzt und sich zum ersten Mal seit zehn Jahren nicht abgeschminkt, gewaschen und eingecremt hatte. Sie verstand ihr Handwerk wirklich ausgezeichnet. Kate schaltete das Licht aus und fiel schon Sekunden später zufrieden in einen Schlaf voll wonniger Träume.