Alice
Alice gab sich große Mühe, ihr Champagnerglas als halb voll zu betrachten. Wie angewiesen hatte sie darauf geachtet, langsam und nicht zu viel zu trinken, damit Audreys schlimme Vorahnung nicht wahr wurde, sie könne den guten Ruf von Table For Two womöglich mit ihrem unschicklichen Verhalten in den Schmutz ziehen. Eigentlich hätte sie ihr bis zur Mitte gefülltes Champagnerglas ja als halb leer angesehen, aber heute Abend versuchte sie, allen widrigen Umständen zum Trotz positiv zu denken. Ihr Glas war halb voll. Entschlossen setzte sie sich gerade hin und versuchte, den Anschein zu erwecken, als amüsiere sie sich prächtig.
Tatsächlich hatte seit etlichen Minuten niemand mehr mit ihr geredet. Brad zu ihrer Linken war damit beschäftigt, sich von Sheryl begrapschen zu lassen, und Alice fiel es zunehmend schwer, so zu tun, als bekäme sie nicht mit, was unter dem Tisch passierte. Hin und wieder kicherten Brad und Sheryl anzüglich oder unterbrachen ihr angeregtes Gespräch, um Ernie einen Witz zu erzählen, aber dass Brad das letzte Mal etwas zu Alice gesagt hatte, war schon eine ganze Weile her. Was vermutlich auch besser war. Beim letzten Mal hatte er derart zweideutige Bemerkungen gemacht, dass sie gar nicht gewusst hatte, wie sie darauf reagieren sollte. Dementsprechend hatte sie so lange für ihre Antwort gebraucht, dass er das Interesse verloren und sich wieder von ihr abgewandt hatte.
Außerdem war es wohl ohnehin besser, wenn sie für diese Seite des Tisches unsichtbar blieb, sagte sich Alice, während alle um sie herum angeregt miteinander plauderten. Sie hatte Sheryl immer schon einschüchternd gefunden, mit ihrem unerschütterlichen Selbstvertrauen und ihrem übergroßen Ego. Aber nachdem diese sie in das Geheimnis ihrer niederträchtigen Vermittlungspraktiken eingeweiht hatte, hatte sie es womöglich sogar auf Alice abgesehen, und das war eine ziemlich beängstigende Vorstellung. Ob sie nun wollte oder nicht, sie besaß jetzt gewisse Informationen über Sheryl – Informationen, die sie nur bekommen hatte, weil Sheryl darauf vertraut hatte, dass Alice in Zukunft für sie arbeiten würde. Aber Alice hatte sie abgewiesen, und Sheryl gehörte nicht unbedingt zu den Menschen, die lebten und leben ließen. Allein die Aussicht auf die Strafe, die sie unvermeidlich erwarten würde, bereitete ihr Höllenqualen … aber das war noch nichts verglichen mit der Qual, nun entscheiden zu müssen, was sie mit diesem Wissen anfangen sollte.
Einfach nichts zu tun stand außer Frage; schließlich gab es Klienten, die unter Sheryls Praktiken zu leiden hatten. Gut, es waren zwar nicht ihre Klienten, aber die Sorge um diese Menschen machte Alice trotzdem zu schaffen. War sie nicht moralisch dazu verpflichtet, das irgendwie in Ordnung zu bringen …? Aber wie? Wem sollte sie davon erzählen? Audrey? Niemals. Audrey war genauso Furcht einflößend wie Sheryl, und ihr von der Sache zu erzählen würde bedeuten, ihr zu gestehen, dass sie beruflichen Hochverrat begangen und sich hinter ihrem Rücken mit Sheryl auf einen Kaffee getroffen hatte. Und außerdem: Was, wenn Audrey bei ihren Vermittlungen dieselbe Taktik einsetzte? Nein, zuerst musste sie sich von Audreys Unschuld vergewissern. Aber sie war sich nicht sicher, wie lange das dauern würde. Wem konnte sie sich sonst anvertrauen? Ernie? Schließlich war er der Präsident des Berufsverbandes und ein Mann mit untadeligen Grundsätzen. Und was die Partnervermittlung anging, war er einer der Pioniere; ein Mann der ersten Stunde. Aber, dachte Alice und beobachtete, wie Sheryl vertraulich Ernies Arm drückte, während beide über einen Witz lachten, den niemand außer ihnen gehört zu haben schien … aber … dann stünde ihr Wort gegen das von Sheryl. Warum um alles auf der Welt sollte Ernie der unscheinbaren kleinen Angestellten einer mittelmäßigen Agentur mehr Glauben schenken als der hoch angesehenen, erfolgreichen Inhaberin einer der am schnellsten wachsenden Vermittlungsagenturen der ganzen Stadt?
Alice nippte an ihrem Champagner und zwang sich zu einem Lächeln, als sei sie in bester Partylaune, anstatt nur unbeteiligt dazusitzen. Nun ja, was hatte sie auch erwartet?, fragte sie sich streng. Selbstverständlich ignorierten sie die meisten anderen Gäste am Tisch, denn das waren allesamt Vermittlungsschwergewichte. Von Matteus war sie allerdings ziemlich enttäuscht. Er war der einzige andere Mensch in ihrer Nähe, der kein Agenturchef oder Ehepartner eines Verbandsmitglieds war, weshalb sie auf ein bisschen Solidarität zwischen ihnen beiden in ihrer Position als Underdogs gehofft hatte. Doch Matteus war zu spät gekommen, hatte nur ein knappes »Hallo« in ihre Richtung gemurmelt und schleimte sich seitdem entweder mit der Aufzählung seiner herausragenden Berufsqualifikationen bei Audrey ein oder lieferte sich mit Ernie auf der anderen Seite des Tisches aufgesetzt vertrauliche Wortgeplänkel.
Dementsprechend hatte Alice sich beim Essen gefühlt wie eine Mischung aus ungebetenem Partygast und verklemmtem Anstandswauwau. Unauffällig hielt sie nach der Kellnerin Ausschau, um ihr Glas nachfüllen zu lassen. Sie brauchte dringend noch was zu trinken. Aber die Kellnerin war anderweitig beschäftigt. Also wanderte ihr Blick zu Audrey, die Matteus mit glasigen Augen anstierte, während der unüberhörbar eine seiner unzähligen beruflichen Erfolgsgeschichten zum Besten gab. Alice kannte Audreys Grimassen in- und auswendig – vor allem die übellaunigen –, und so, wie sie gerade aus der Wäsche guckte, wusste Alice, dass alles, was Matteus ihr erzählte, zu ihrem einen Ohr hineinging und zum anderen wieder hinaus. Was vermutlich auch daran lag, dass Audrey bereits ziemlich angetrunken war. Ach, welch herrliche Ironie! Alice musste zum ersten Mal an diesem Abend wirklich von Herzen lächeln.
Dann schweiften ihre Gedanken ab zu John. Der schien wirklich nett zu sein, wesentlich netter, als sie es von Audreys Ehemann erwartet hätte. Er war jünger als erwartet und sah ziemlich gut aus. Sie fragte sich, was er wohl an Audrey fand, denn irgendwie passten die beiden überhaupt nicht zusammen. Alice gab sich Mühe, nur nette, positive Gedanken zuzulassen. Die Liebe war nun einmal rätselhaft. Viele Paare verliebten sich Hals über Kopf ineinander, obwohl sie von außen betrachtet überhaupt nicht zusammenpassten. Genauso musste es wohl auch bei Audrey und John gewesen sein. Bestimmt hatte Audrey auch ihre guten Seiten – selbst wenn sie diese geschickt zu verbergen wusste. Vielleicht war sie eine begnadete Köchin oder eine warmherzige Frau, die ihren Partner in allem unterstützte, oder womöglich auch – allein bei dem Gedanken wurde Alice ganz anders – eine atemberaubende Liebhaberin. Vielleicht war es ja genau das, und Audrey war eine Granate im Bett! Wie sonst sollte man sich erklären, dass ein gut aussehender, höflicher Gentleman wie John mit ihrer sturschädeligen, diplomatisch minderbegabten Chefin verheiratet war?
Just in diesem Augenblick schaute John auf und ertappte Alice dabei, wie sie ihn anstarrte. Sofort sah sie betreten weg und blickte mit hochroten Wangen auf ihren Teller. Dann überlegte sie, was für ein Gesicht sie wohl gemacht hatte, als er zu ihr herübersah. Was, wenn sie sich Audrey gerade als zügellose Geliebte vorgestellt und man ihr das an der Nasenspitze angesehen hatte?
Angestrengt tat sie, als sei sie ganz in die eingehende Betrachtung ihres Tellers vertieft. Kurz darauf schrillte Sheryls Stimme durch das allgemeine Geplapper und Geklapper.
»Dabei sind wir doch alle ziemlich nachlässig, was unsere Berufsehre angeht!«, hörte sie Sheryl flöten. »Wir brüsten uns damit, dass wir den Menschen helfen, die wahre Liebe zu treffen, und finden doch gar nichts dabei, dass mitten unter uns ein Single sitzt!«
Alice wurde plötzlich ganz unbehaglich zumute.
»Ich meine, wir sitzen hier – noch dazu bei einem Ball – und haben ein waschechtes Aschenputtel an unserem Tisch.« Sheryl stieß ein Lachen aus, das Glas zum Bersten bringen konnte. »Ist es nicht ironisch, dass unsere liebe kleine Alice Brown für jeden anderen die große Liebe findet, nur für sich selbst nicht? Wir alle sollten es uns zur Aufgabe machen, Alice’ Liebesleben ein bisschen aufzumöbeln und einen Mann für sie zu suchen. Es geht schließlich um unsere Berufsehre! Wir können doch nicht zulassen, dass eine von uns ein Ladenhüter ist!« Und damit gluckste sie hämisch, und etliche andere stimmten mit ein.
Alice spürte die flammende Röte vom Kopf bis in die Fingerspitzen. Sie konnte einfach nicht fassen, was Sheryl da sagte! Woher wusste sie überhaupt, dass Alice Single war? Ob Audrey ihr das verraten hatte? Alice war so entsetzt, dass es ihr fast den Atem verschlug. Sie hörte ihren Herzschlag vor Scham laut in den Ohren pochen.
»Audrey!«, rief Sheryl. »Ja, Erde an Audrey! Findest du es nicht ein wenig geschäftsschädigend, eine alte Jungfer unter deinen Mitarbeiterinnen zu haben? Was sollen denn deine Klienten denken?«
Was bezweckte Sheryl bloß damit? Warum war sie so gemein? Wollte sie sich etwa so an Alice rächen … indem sie sie runtermachte und als unvermittelbar hinstellte? Sie führte sich auf wie eine hundsgemeine Zimtzicke. Warum nur unternahm niemand etwas dagegen? Zaghaft schaute Alice zu Ernie. Der war sonst immer ausgesprochen nett zu ihr und machte ihr überschwängliche Komplimente wegen ihrer vielen erfolgreichen Vermittlungen. Heute Abend allerdings war sein Gesicht vom Alkohol hochrot, und er schien zu sehr damit beschäftigt, Sheryl in den überdimensionierten Ausschnitt zu starren, wo ihr wogender Busen das glitzernde Kleidchen zu sprengen drohte, um Alice zur Seite zu stehen. Nicht mal Audrey machte den Mund auf. Dabei hatte diese, was Sheryl anging, sonst eigentlich immer ein paar spitze Bemerkungen in petto. Aber das war mal wieder typisch; jetzt, wo Alice ihre Hilfe brauchte, saß Audrey bloß stocksteif da, mit puterrotem Gesicht und fest zusammengekniffenen Lippen.
»Aber immerhin wissen wir, was für eine loyale Mitarbeiterin sie ist«, fuhr Sheryl in bissigem Tonfall fort. »Bei Table For Two gehört sie ja schon beinahe zum Inventar, stimmt’s, Alice? Wobei, wisst ihr, eigentlich ist Alice nur der Liebe wegen in diesem Geschäft. Sie glaubt tatsächlich daran, für ihre Klienten Amor spielen zu müssen, nicht wahr, Herzchen? Sie glaubt, das sei ihre Berufung, ihr Daseinszweck! Jeden Morgen steht sie auf und strampelt sich auf ihrem klapprigen alten Fahrrad das kleine Herz aus dem Leib, im festen Glauben, ihre Aufgabe im Leben bestünde darin, Amors Pfeile zu verschießen und dafür zu sorgen, dass die Menschen sich ineinander verlieben!«
Alice wurde schlecht, und sie schaute angestrengt in ihren Schoß. Der knallrote Nagellack an ihren Fingern erschien ihr nun völlig lächerlich. Was hatte sie sich bloß dabei gedacht, sich so herauszuputzen? Was hatte sie sich bloß dabei gedacht, sich als verführerische Frau auszugeben; als professionelle, angesehene Partnervermittlerin? Wo doch jeder wusste, dass sie bloß die kleine, unscheinbare Alice Brown war. Die kleine, unscheinbare, alleinstehende Alice Brown. So armselig, dass sie nicht mal einen Mann abbekam.
Dann erst merkte sie, dass jemand anderer das Wort ergriffen hatte – und zwar John.
»Also, ich finde, das sind die besten Voraussetzungen für eine Partnervermittlerin«, erklärte er ganz ruhig, die blauen Augen fest auf Sheryl gerichtet. »Würde ich je zu einer Vermittlungsagentur gehen, wäre Alice als Beraterin meine erste Wahl. Ich kenne sie zwar nicht wirklich gut, genau genommen sehe ich sie heute Abend zum ersten Mal, aber man merkt sofort, dass sie ein ehrlicher, aufrichtiger Mensch mit einem großen Herzen ist. Und das ist meiner Meinung nach die denkbar beste Qualifikation für eine Partnervermittlerin.«
Am Tisch war es totenstill geworden. Selbst Sheryl sagte keinen Ton mehr.
John fegte ganz beiläufig ein paar Krümel vom Tischtuch und redete vollkommen ungerührt weiter.
»Und wenn sie Single ist, dann geht das niemand anderen etwas an als sie selbst. Irgendjemand da draußen wird sich eines Tages sehr glücklich schätzen, Alice an seiner Seite zu wissen.«
Und damit drehte John sich zu Alice um und lächelte ihr aufmunternd zu.
»Danke«, flüsterte sie tonlos, schob dann geräuschvoll ihren Stuhl zurück und entschuldigte sich. Wie blind lief sie zur Damentoilette, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, wie ungelenk sie auf ihren hohen Absätzen herumstöckelte. Ihr war vollkommen egal, wenn sie hinfiel und sich den Knöchel brach, Hauptsache, sie war weit weg von ihrem Tisch, wenn es passierte. Während sie wie besinnungslos durch den Speisesaal hastete, lief ihr eine einzelne Träne über die Wange.
Mit einem erleichterten Aufschluchzen stürzte sie schließlich aus der großen Halle. Die Damentoilette lag direkt vor ihr, gleich hinter der Garderobe. Ohne zu zögern, ließ Alice sich ihren Mantel geben und flüchtete Hals über Kopf aus dem Gebäude.
Gleich am Fuß der Eingangstreppe war ein Taxistand, und Alice schnappte heftig nach Luft, während sie darauf wartete, dass ein freies Taxi anfuhr. Ihr unterdrücktes Schluchzen hing in kleinen weißen Wölkchen in der kalten Abendluft. Hinter ihr war der Trubel der Ballnacht zu hören, dessen ausgelassene Fröhlichkeit nun einen grässlichen Beigeschmack bekommen hatte.
»Alice, warten Sie!«, rief da plötzlich eine Stimme hinter ihr.
Erstaunt drehte sie sich um. Es war John, der da mit wehenden Frackschößen die Treppe hinunterhastete. Hektisch wischte sie sich eine wimperntuscheverschmierte Träne weg.
»Ich möchte mich dafür entschuldigen, wie sich diese Leute da drinnen aufgeführt haben«, beeilte er sich zu sagen. »Ich schäme mich dafür, mit ihnen an einem Tisch zu sitzen – mit ihnen allen.«
Alice wollte seinen Blick erwidern, aber Scham und Tränen ließen nicht zu, dass sie ihm in die Augen sah, also starrte sie stattdessen auf seine Füße. Entsetzt musste sie mit ansehen, wie ihr eine dicke Träne übers Gesicht kullerte und ihm auf die Schuhe klatschte. »Danke für … Sie wissen schon …«, stammelte sie, zeigte vage in Richtung Ballsaal und hoffte, ihn damit von ihrer zitternden Stimme und dem nassen Fleck auf seinem Schuh abzulenken.
Ein kleines unbehagliches Schweigen entstand, dann reichte er ihr sein Taschentuch. Ohne ihn anzusehen, nahm sie es. Obwohl sie sich Mühe gab, die Tränen runterzuschlucken, liefen ihr immer mehr davon übers Gesicht; eine besonders große hing bedrohlich wabernd an ihrer Nasenspitze.
»Sagen Sie, ist alles okay?«, fragte er mitfühlend. »Soll ich Sie vielleicht nach Hause bringen? Mein Auto steht gleich da drüben.«
»Nein!«, platzte sie entsetzt heraus. »Ich meine, ja! Ja, es ist alles in bester Ordnung. Und nein, vielen Dank; ich komme schon allein zurecht.« Das hätte Audrey dann wohl endgültig die Laune verhagelt: Ihr Ehemann bringt ihre meistgehasste Angestellte nach Hause. »Sollten Sie nicht lieber wieder nach drinnen gehen, zurück zu Audrey?«, fragte sie und schaute kurz auf, um ihm zu beweisen, dass alles okay war, wobei sie heftig blinzeln musste, um die Tränen in Schach zu halten. Ihr Taxi war inzwischen vorgefahren. Sie reichte ihm das Taschentuch zurück.
»Ja, das sollte ich wohl«, entgegnete er und schob ihre Hand mit dem Taschentuch sanft weg. »Bitte, behalten Sie das doch.«
»Danke«, schniefte sie. Und dann drehte sie sich auf dem Absatz um und sprang in den Wagen. Johns Stimme und der Trubel des Balls verhallten hinter ihr, als das Taxi losfuhr, und sie sank erleichtert auf den Sitz und ließ ihren Tränen freien Lauf. Langsam, während sie heftig nach Luft schnappte, wischte sie sich mit Johns Taschentuch das Make-up aus dem Gesicht. Auf dem reinweißen Leinen wirkte die Schminke giftig grell. Mehr als alles andere auf der Welt sehnte sie sich ein Stück Seife herbei, einen Waschlappen und ihren Pyjama. Und dann wollte sie nie wieder irgendwen vom Berufsverband sehen.