Alice
Na endlich! Ich habe mir schon Sorgen um dich gemacht!« Schließlich erreichte Alice ihre Freundin Ginny doch noch. Sie drehte sich auf ihrem Schreibtischstuhl herum und versuchte, den Bürolärm auszublenden. »Alles in Ordnung?«
»Nicht unbedingt«, entgegnete Ginny gepresst. Irgendwas war da in ihrer Stimme, das Alice noch mehr beunruhigte als ihr unerfreuliches Gespräch ein paar Tage zuvor. »Kurz nachdem du hier warst, hatten Dan und ich einen sehr schlimmen Streit. Es ist alles rausgekommen; die ganzen hässlichen Dinge, die ich bis dahin nur insgeheim gedacht hatte. Ich kann selbst kaum glauben, was für abscheuliche Sachen ich gesagt habe: Er sei nicht mehr der Mann, in den ich mich mal verliebt habe; dass ich ihn hasse, weil er sich überhaupt keine Mühe mehr gibt, nicht mehr mit mir ausgeht, mir nicht mehr sagt, dass er mich anziehend findet. Ich habe ihm sogar an den Kopf geworfen, ich sei nur noch wegen Scarlet mit ihm zusammen, und bei der ersten sich bietenden Gelegenheit würde ich sofort mit dem Milchmann durchbrennen – oder mit sonst irgendwem, der sich die Mühe macht, mich mal richtig anzugucken.«
»Ach du lieber Himmel, Gin!« Alice war völlig sprachlos. »Ich wusste ja nicht, dass es so schlimm ist.« Aber kaum hatte sie das gesagt, musste sie an all die kleinen versteckten Hinweise denken, die sie geflissentlich übersehen hatte. Jetzt, im Rückblick, schien da nicht alles doch sehr offensichtlich? Ginny hatte sich neulich Abend in der Küche wirklich merkwürdig verhalten. Und schon seit Monaten machte sie eigenartige Andeutungen, denen man entnehmen konnte, dass bei ihr und Dan hinter der schönen Fassade der Haussegen reichlich schiefhing. Schuldbewusst musste Alice sich eingestehen, dass sie die versteckten Hilferufe ihrer Freundin überhört und alles darauf geschoben hatte, dass Ginny wegen Scarlet übermüdet und geschlaucht war. Warum nur hatte sie das nicht gleich kapiert und ein bisschen mehr nachgehakt? Ginny war ihre allerbeste Freundin auf der ganzen weiten Welt, und Alice war einfach nicht für sie dagewesen. Und nun steckte ihre Ehe in der Krise – in einer wirklich ernsten Krise. »Aber das würdest du doch nicht tun, oder?«, fragte sie zaghaft und fürchtete sich fast vor Ginnys Antwort. »Mit einem anderen Mann durchbrennen, meine ich …?«
»Natürlich nicht! Das habe ich doch nur gesagt, um ihm wehzutun. Ich hab mich aufgeführt wie die letzte Zimtzicke.«
Das war immerhin ein kleiner Trost.
»Und wie hat Dan reagiert?«
»Gar nicht, zunächst. Und dann ist er wütend geworden. Hat mich angeschrien, ihm ginge es auch schlecht und er liebe Scarlet, und mich liebe er auch, glaubt er zumindest, aber manchmal könne er sich nicht mehr daran erinnern, warum eigentlich.«
»Autsch!«
»Er meinte, das letzte Jahr sei ich wirklich kaum zu ertragen gewesen. Natürlich wüsste er, dass ich immer übermüdet sei und dass Scarlet ganz schön anstrengend sein könne, aber er sei auch müde, und trotzdem würde er das nie an mir auslassen. Und dann meinte er, er fände es ekelhaft, dass ich ihm damit drohe, eine Affäre anzufangen – er hätte nie gedacht, dass ich so tief sinken würde.«
»Ach, Ginny!« Alice krampfte sich der Magen zusammen, bis er sich zu einem harten, fiesen Klumpen zu verknoten schien. Es war nicht das Schlimmste, hilflos mit anzusehen, wie hundeelend es ihrer besten Freundin ging – nein, viel schlimmer war, dass das alles auch noch so schrecklich falsch war. Ginny und Dan waren ein tolles Paar. Bei den beiden war es Liebe auf den ersten Blick gewesen, und seither waren sie unzertrennlich. Ihre Beziehung war etwas Wunderbares, die beiden waren ein echt gutes Team. Sie waren keine Zuckerguss-Romantiker oder überschwänglich gefühlsduselig, und sie waren auch nicht wie an der Hüfte zusammengewachsen; nein, die beiden verband eine lange, geerdete Liebe, die sich auf Freundschaft und Respekt gründete und auf die unumstößliche Tatsache, dass sie einfach vollkommen ineinander vernarrt waren. Alice war stets davon überzeugt gewesen, diese Ehe sei felsenfest und unerschütterlich, und sie war ihr leuchtendes Vorbild gewesen, wann immer sie versucht hatte, zwei ihrer Klienten zusammenzubringen. Ginnys und Dans Beziehung durfte einfach nicht vor die Hunde gehen. Denn wenn die beiden schon ins Schlingern gerieten, dann konnte das überall passieren. Plötzlich war die Welt ein bisschen unsicherer geworden.
»Das macht mich echt fertig«, gestand Ginny leise. »Mir war gar nicht klar, dass er so leidet; ich dachte, ich sei die Einzige. Aber zu wissen, dass auch er an uns zweifelt, macht mir schreckliche Angst, Alice. Ich kann immer noch nicht fassen, dass ich ihm diese furchtbaren Sachen an den Kopf geworfen habe. Das habe ich doch alles nicht so gemeint. Und jetzt ist es zu spät, ich kann es nicht mehr zurücknehmen.«
»Kann ich irgendwas für dich tun? Soll ich rüberkommen?«, bot Alice ihr an.
»Danke, aber ich glaube, Dan, Scarlet und ich müssen einfach ein bisschen Zeit miteinander verbringen. Wir allein – als Familie.«
»Ja, klar. Aber ich denke, du und Dan könntet auch ein bisschen Zeit für euch brauchen, nur ihr beide. Mal wieder zusammen ausgehen und für ein paar Stunden nur Ginny und Dan sein, nicht immer Ginny, Dan und Scarlet. Wenn ihr was unternehmen wollt, sagt einfach Bescheid, ich bin sofort zur Stelle und spiele den Babysitter für Klein-Scarlet.«
»Du würdest freiwillig Zeit mit unserem unablässig schreienden Satansbraten verbringen?«
»Aber klar doch.«
»Alice, du bist eine mutige, unerschrockene Frau und eine verdammt gute Freundin«, erklärte Ginny mit vor Rührung erstickter Stimme. »So.« Sie gab sich Mühe, ganz heiter und gelassen zu klingen. »Jetzt ist es aber genug von mir; ich hab es satt, mich immer nur um mich selbst zu drehen. Erzähl mir lieber von dir. Gibt es Neuigkeiten von deinem Märchenprinzen?«
»Willst du das wirklich wissen?«, fragte Alice skeptisch.
»Natürlich, und ob! Komm schon, raus mit der Sprache. Ich kann eine kleine Aufmunterung gebrauchen.«
»Also …« Mit einem verstohlenen Blick vergewisserte Alice sich, dass Audrey nicht zwischenzeitlich ins Büro gekommen war. Dann erzählte sie Ginny, so diskret es ging, sämtliche Neuigkeiten.
»Wir haben uns gestern zum Mittagessen getroffen«, berichtete sie schließlich mit leiser, aber unüberhörbar aufgeregter Stimme, »und morgen Abend will er mich zum Essen ausführen.«
»Hurra!«, jubelte Ginny und klang zum ersten Mal bei diesem Gespräch wieder fast wie sie selbst. »Drei Verabredungen! Das ist ja schon fast eine Beziehung!«
Alice strahlte glücklich.
»Und, wie ist es, mit einem älteren Mann anzubandeln?«
»Er ist doch nicht alt!«, protestierte Alice empört. »Er ist einundvierzig.«
»Und damit genau zehn Jahre älter als du! Sagtest du nicht, er hat graue Haare?«
»Graue Schläfen. Genau wie George Clooney!«
»Tja, mit einundvierzig kann er wohl von Glück sagen, dass er überhaupt noch Haare hat!«, zog Ginny ihre Freundin auf.
»Ich finde es eigentlich ganz gut, dass er älter ist als ich.« Alice brachte die Worte kaum heraus, so strahlte sie über das ganze Gesicht. »Das macht ihn umso interessanter. Er nimmt sich nicht übertrieben wichtig und muss nichts beweisen. Er ist souverän, kann sich gut ausdrücken, ist intelligent und ein aufmerksamer Zuhörer.«
»Dann machst du dir wegen Audrey keine Sorgen mehr?«
»Wie meinst du das?« Alice gefror das Lächeln im Gesicht.
»Du glaubst ihm also, dass die beiden nicht verheiratet sind?«
Es entstand eine kurze Pause. Alice hörte förmlich, wie gespannt Ginny auf ihre Antwort wartete.
»Ja, das tue ich«, wisperte Alice. »Ich glaube ihm. Aber ich mache mir trotzdem Sorgen um Audrey. Ich habe ein schrecklich schlechtes Gewissen ihretwegen.«
»Wegen Kaffee und Sandwiches!«, prustete Ginny. »Das kann man ja wohl kaum als Sodom und Gomorrha bezeichnen!«
»Du weißt, was ich meine.«
»Aber warum denn? Wenn sie nicht verheiratet sind, tust du doch nichts Verwerfliches!«
»Außer sie zu hintergehen und ihr das Herz zu brechen, meinst du?«
Ginny schnaubte verächtlich.
»Was nicht da ist, kann man nicht brechen.«
»Das ist nicht nett«, protestierte Alice leise.
»Audrey war auch nie nett zu dir.«
Wenig später legte Alice den Hörer auf. All ihren Sorgen zum Trotz und obwohl Ginny ihr aufrichtig leidtat, konnte sie nicht anders – sie freute sich so sehr auf das Essen mit John, dass sie sich kaum auf ihre Arbeit konzentrieren konnte. Aber sie durfte doch nicht das Liebesleben ihrer Klienten auf Sparflamme schalten, bloß weil sie heute Abend ausnahmsweise selbst mal eine Verabredung hatte. Sie musste sich zusammenreißen und brav ihre Pflicht tun. Ihr Blick fiel auf den riesigen Papierberg auf ihrem Schreibtisch. Das war jetzt genau das Richtige, dachte sie entschlossen. Zu mehr war sie vermutlich ohnehin nicht in der Lage.
Gewissenhaft machte sie sich daran, den Papierstapel zu sortieren, wobei sie die Rechnungen sorgfältig beiseitelegte, um sie direkt zu Audrey in das verglaste Büro zu bringen und dort in das Eingangsfach zu legen. Als sie sich dort wieder umdrehte und hinausgehen wollte, sah sie aus dem Augenwinkel das gerahmte Bild gleich neben dem Computer. Sie hatte es schon tausend Mal gesehen, doch es war trotzdem ein kleiner Schock, es dort stehen zu sehen. Das Foto zeigte John im Smoking, schick in Schale geworfen. Er sah aus wie an dem Abend des BdP-Balls. Alice blieb stehen. Er war einfach umwerfend, und wie ein kleiner Geysir brodelte die Vorfreude auf das nächste Date in ihr hoch. Aber was um alles auf der Welt hatte dieses Bild auf Audreys Schreibtisch verloren? Warum stellte sie ein gerahmtes Foto von ihm dorthin, wo sie es jeden Tag ein Dutzend Mal ansehen musste? Kein Zweifel, sie war in ihn verliebt. John behauptete zwar, keine Gefühle für sie zu hegen, aber warum begleitete er sie dann Jahr für Jahr zum Ball? Warum ließ er alle in dem Glauben, die beiden seien ein Paar?
Gedankenverloren ging Alice zurück zu ihrem Schreibtisch, die Stirn in nachdenkliche Falten gelegt. Was lief wirklich ab zwischen den beiden?, fragte sie sich. Was verheimlichte er ihr?