Alice

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Es war Viertel nach zwei am Nachmittag. Alice fuhr ihren Rechner herunter, nahm ihre Handtasche und folgte Bianca und Cassandra, die hinter Audrey zur Tür hinausgingen, um sich gemeinsam auf den Weg zum Treffen des Berufsverbands der Partnervermittler zu machen. Endlich wurde es Frühling. Alice seufzte wohlig, als die warme, milde Luft sanft ihre winterblasse Haut kitzelte.

»Klingt, als wäre da jemand sehr glücklich!«

Bianca lächelte sie an.

»Lass dich lieber nicht von Madam Schabracknell erwischen!«, warnte Cassandra sie. »Fürs Glücklichsein wirst du nicht bezahlt!«

Erstaunt lächelte Alice sie an. Solche vertrauten Momente kollegialer Solidarität waren eher selten. Normalerweise marschierten Bianca und Cassandra stramm voraus, Audrey dicht auf den Fersen, während Alice und Hilary die Nachhut bildeten.

»Du siehst irgendwie verändert aus«, stellte Bianca fest, die sie nachdenklich musterte. »Du bist richtig aufgeblüht.«

Alice wurde rot.

»Wüsste ich es nicht besser, würde ich glatt behaupten, du hast einen neuen Freund!«, ergänzte Bianca, nur um sich gleich wieder abzuwenden. Der Gedanke, Alice könne sich einen Mann geangelt haben, schien offenbar so abwegig, dass es sich nicht lohnte, ihn auch nur für ein paar Sekunden zu verfolgen.

»Einen Freund!«, murmelte Alice schamrot, während ihr tausend Gedanken durch den Kopf schwirrten, wie sie die Sache am besten abstritt, ohne ihren Kolleginnen dreist ins Gesicht zu lügen. Sie zwang sich zu einem gepressten Kichern. »Sehr komisch!«

Aber da waren Bianca und Cassandra schon etliche Schritte vorgegangen. Erleichtert nahm Alice ihren angestammten Platz am Ende der Truppe ein.

Zügig hakte Ernie die Punkte auf der Tagesordnung ab. Während er vorne redete, schweiften Alice’ Gedanken immer wieder ab. Das passierte ihr in letzter Zeit häufiger. Sie konnte an nichts anderes mehr denken als an John: sein Gesicht, seine Küsse oder irgendetwas, das er gesagt hatte. Es war fast, als habe er alle anderen Gedanken aus ihrem Gehirn vertrieben.

Alice schüttelte den Kopf und mahnte sich zur Disziplin, dann versuchte sie, sich auf das Geschehen vorne zu konzentrieren. Die Treffen des BdP waren eine wahre Fundgrube für praktische Tricks und Kniffe im Partnervermittlungsgewerbe. Außerdem würde sie John ohnehin bald wiedersehen – heute Abend führte er sie nämlich ins Beckwith’s aus, das romantischste Restaurant der ganzen Stadt. Alice konnte es kaum erwarten! Zur Feier dieser besonderen Gelegenheit hatte sie das rückenfreie Kleid und die High Heels sorgfältig in der Sporttasche zu ihren Füßen verstaut.

»Gibt es sonst noch Fragen oder Themen?«, hörte sie plötzlich Ernies Stimme und schreckte hoch. Hatte sie tatsächlich die gesamte Sitzung mit ihren Tagträumen vertrödelt? Selbst unter größten Anstrengungen konnte sie sich an keinen einzigen Tagesordnungspunkt erinnern, und in ihrem Notizbuch – sonst stets randvoll gekritzelt mit Neuigkeiten und Ideen – herrschte gähnende Leere.

Alle schwiegen. Niemand, so schien es, hatte noch etwas zu sagen.

»Tja, in dem Fall können wir für heute Schluss ma …«, hob Ernie an, als er plötzlich unterbrochen wurde.

»Eine Sache hätte ich da noch …«, meldete sich Sheryl unvermittelt zu Wort, stellte die Füße, die sie übereinandergeschlagen hatte, wieder auf den Boden und schlüpfte rasch in ihre Pumps.

Dann erhob sie sich gebieterisch. Ernie wusste, was das bedeutete. Gehorsam setzte er sich.

»Es ist wirklich nur eine Kleinigkeit«, fuhr Sheryl fort und zog ein dickes Paket brauner Umschläge aus ihrer falschen Krokoleder-Handtasche. »Aber wichtig ist es trotzdem. Jemand aus unserer Mitte« – sie legte eine dramatische Kunstpause ein – »hat uns alle angelogen.«

Kollektives Nach-Luft-Schnappen wurde hörbar.

»Diese Person hat unser Vertrauen missbraucht und uns böswillig getäuscht …«

Alice schlug das Herz plötzlich bis zum Hals. Ihr ganzer Körper kribbelte vor Aufregung. Sheryl musste das mit ihr und John irgendwie herausgefunden haben. Aber wie? Sie waren doch so diskret vorgegangen!

»… eine romantische Täuschung«, endete Sheryl vielsagend.

Eine Schockwelle durchlief den ganzen Raum. Eine romantische Täuschung war für eine Gruppe professioneller Partnervermittler sozusagen ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Alice bekam einen ganz trockenen Mund. Sie hatte nicht gewollt, dass die anderen es so erfuhren – vor allem Audrey. Ihr wurde übel.

»Nehmen Sie sich doch bitte jeder einen davon.« Sheryl reichte Matteus die Umschläge. Begierig nahm er einen und gab den Stapel dann weiter.

»Ich sollte Sie allerdings warnen«, setzte Sheryl genüsslich hinzu, »der Inhalt könnte Sie schockieren.«

Langsam wurden die Umschläge ausgeteilt, während sich ringsum angespannte Empörung breitmachte. Alice saß ziemlich weit hinten, sie würde als eine der Letzten einen Umschlag bekommen. Ängstlich schaute sie zu den anderen Mitgliedern, die ihren Umschlag schon in den Händen hielten. Die meisten drehten und wendeten ihn ehrfürchtig hin und her, genossen die Aussicht auf einen handfesten Skandal und drückten sich andererseits doch darum, den Umschlag als Erster aufzureißen, um nicht den Anschein zu erwecken, einer hemmungslosen Sensationslust verfallen zu sein. Alice zermarterte sich schier das Hirn. Was konnte da wohl drin sein? Was mochte Sheryl herausgefunden haben? War es ein Foto von ihr und John? Aber das war eigentlich unmöglich, denn sie waren überaus vorsichtig und immer sehr diskret gewesen. Mit voller Absicht hatten sie nur kleine, abgelegene Restaurants gewählt und sich nie in der Öffentlichkeit geküsst. Wie konnte es da sein, dass man sie trotzdem ertappt hatte? Panisch wanderte ihr Blick zu Audreys Platz hinüber. Auch sie würde ihren Umschlag ganz am Ende bekommen, und ihr Kopf ging hin und her, während sie nervös von Sheryl zu Matteus, dann zu Ernie und wieder zu den Umschlägen schaute. Dunkelrote hektische Flecken breiteten sich auf ihren Wangen aus, und trotz Herzrasens und vor Nervosität verschwitzter Hände überkam Alice eine Welle des Mitgefühls für sie. Audrey konnte es nicht ausstehen, Neuigkeiten als Letzte zu erfahren, geschweige denn eine Täuschung, die ausgerechnet Sheryl Toogood aufgedeckt hatte. Am liebsten hätte Alice sie davor beschützt. Sie wollte Audrey um Verzeihung bitten, ihr sagen, dass sie ihr nicht wehtun wollte und dass es ihr leidtat, sich in John verliebt zu haben, aber dass sie dagegen völlig machtlos war.

Sekunden später lag der Umschlag gewichtig in ihren Händen.

»Ach du lieber Himmel! Das kann doch wohl nicht wahr sein!«, empörte sich eine helle Stimme in der Nähe.

Fassungslos starrte Bianca auf den Inhalt ihres Umschlags. Sie hatte die Augen weit aufgerissen, und vor Entgeisterung war ihr die Kinnlade heruntergeklappt. Und dann schaute sie auf. Aber nicht zu Alice. Sondern zu Audrey.

Rasch riss Alice ihren Umschlag auf. Darin befand sich ein Bild. Ein Bild von John.

Ringsherum schnappten die Leute empört nach Luft und schnalzten missbilligend mit der Zunge.

Aber es war kein Foto von Alice und John. Nein, es schien von einer Webseite zu stammen. In der Mitte prangte ein Foto von John, während sich darunter eine katalogartige Auflistung seiner Hobbys befand – neben der Markierung »Preiskategorie A*«. Diagonal über das Bild stand in dicken roten Lettern »John Marlowe, alias John Cracknell« gekritzelt und darunter in Großbuchstaben das Wort »CALLBOY«.

Verdattert starrte Alice auf das Bild, und allmählich dämmerte es ihr. Die Informationen stammten von Geraldines Webseite, wo Besucher sich die verschiedenen Miet-Männer anschauen und ihre Begleitung für den Abend auswählen konnten. Für Alice war das alles vollkommen neu – ihr war nie in den Sinn gekommen, Geraldine könne eine Webseite betreiben, auf der John vermarktet wurde. Aber Sheryl musste irgendwie darauf gestoßen sein.

Rot glühende Wut stieg in Alice auf. Wie konnte Sheryl es wagen, John derart bloßzustellen? Woher glaubte sie das Recht zu nehmen, ihn wie einen Verbrecher vorführen und als Callboy brandmarken zu dürfen? Das stimmte doch alles nicht – er war ganz anders. Und außerdem, was ging das Sheryl überhaupt an?

Alice sprang auf. Und noch ehe sie überhaupt wusste, was sie eigentlich sagen wollte, hörte sie ihre Stimme schon das allgegenwärtige Flüstern und Tuscheln übertönen.

»Das ist alles ganz anders!«, rief sie empört. Sämtliche Anwesende drehten sich zu ihr um, und sie spürte, wie alle sie anstarrten.

»Alice«, schnurrte Sheryl bösartig. »Die liebe kleine Alice. Vertrauensselig wie immer.«

Alice schluckte schwer und machte sich darauf gefasst, von Sheryls manikürten Klauen in aller Öffentlichkeit zerfleischt zu werden.

»Was für ein loyales Mädchen«, zischte Sheryl giftig, »sogar ihrer hinterlistigen Arbeitgeberin gegenüber, die uns alle jahrelang nach Strich und Faden belogen hat.«

Und damit richtete sich Sheryls Aufmerksamkeit unvermittelt auf eine neue Zielscheibe: Audreys scharlachrotes Gesicht. Einen winzig kleinen Augenblick lang war Alice regelrecht erleichtert, doch dann fiel ihr Blick auf ihre Chefin. Sie hatte den Kopf gesenkt, und ihr Kinn zitterte bedenklich.

»Meine Damen und Herren«, verkündete Sheryl hämisch, »ich präsentiere Ihnen den unumstößlichen Beweis, dass der Mann, den unsere liebe Audrey Cracknell seit Jahren als ihren Ehemann vorführt, in Wahrheit nicht ihr Ehemann ist. Er ist ein Hochstapler. Nein, er ist noch schlimmer als ein Hochstapler, denn er arbeitet für einen Escort-Service; er ist ein Callboy

Entsetzt griff man sich kollektiv mit der Hand an die Brust und schnappte schockiert nach Luft.

»Er ist nichts weiter als ein bezahlter Begleiter, den Audrey engagiert, um uns eine Beziehung vorzutäuschen. Das ist nicht Mr John Cracknell. Er heißt Mr John Marlowe, und man kann ihn stundenweise mieten.«

Pikiertes Schweigen stand im Raum.

»Das glaube ich einfach nicht, Sheryl«, mischte Ernie sich ein, wie immer ganz die Stimme der Vernunft. »Bestimmt ist es nur ein Missverständnis. Ich kenne diesen Mann, und er wirkt grundanständig. Audrey und John lieben sich!«

»Das ist kein Missverständnis, Ernie«, wischte Sheryl seine Einwände verächtlich beiseite. »Und natürlich wirkt er anständig. Wenn man ihn bezahlt, ist er alles, was man möchte! Audrey lieben? Pah!« Mit einem grausamen Funkeln in den Augen lachte sie auf. »Vermutlich liebt er die Hälfte der weiblichen Stadtbevölkerung. Und wer weiß? Vielleicht auch die Hälfte der männlichen.«

Bei dieser Unterstellung hörte man ein entgeistertes Raunen. David Bennett von Perfect Partners starrte sie ungläubig an. Wendy Arthur von Loving Liaisons schüttete sich vor Schreck Tee in den Schoß.

»Ja, ganz recht«, fuhr Sheryl unerbittlich fort. »Unsere vorbildliche Audrey Cracknell nutzte die Dienste eines Strichjungen

Und dann brach die Hölle los, als alle begannen, wild durcheinanderzureden und entrüstet loszuplärren.

»Das ist er nicht! Das ist alles gar nicht wahr! Es ist ganz anders, als Sie denken!«, schrie Alice so laut, dass sie den Aufruhr damit wieder zum Schweigen brachte. Alle schauten sie erwartungsvoll an. Da erst merkte sie, dass sie aufgesprungen war. »Und das mit Audrey ist auch ganz anders!«, fügte sie nachdrücklich hinzu. »Sie verstehen das völlig falsch!«

»Es wird Zeit, dass Sie Ihre zuckersüßen Märchengeschichten hinter sich lassen, Alice, und endlich in der Realität ankommen.« Sheryls Stimme triefte vor Gift und Häme. »Sehen Sie den Tatsachen ins Gesicht, Miss Brown. Wir alle haben uns von einem angesehenen Mitglied unseres eigenen Berufsverbands zum Narren halten lassen.«

Und dann folgten alle mit ihrem Blick Sheryls manikürtem Zeigefinger, der anklagend auf die bebende, rotfleckige Audrey Cracknell deutete. Diese hatte die Augen starr auf ihren Schoß gerichtet. Alice sah, wie ihre Wangen zitterten und ihr Busen vor unterdrückten Gefühlsaufwallungen wogte.

»Meine Damen und Herren«, fuhr Sheryl unbarmherzig fort, wobei sie an eine große Katze erinnerte, die zum Biss in die Kehle einer Maus ansetzt. »Ich muss Ihnen mitteilen, dass Audrey Cracknell überhaupt nicht verheiratet ist. In Wahrheit ist Audrey Cracknell Single.«

Irgendeiner der Anwesenden stöhnte gequält auf. »Single« war ein Wort, das man unter Partnervermittlern nur ungern benutzt. »Single« war ein Verbrechen gegen ihren ganzen Berufsstand. Wendy Arthur gab die Versuche auf, ihren Rock trocken zu tupfen, und schlug entsetzt die Hand vor den Mund.

Alice schlängelte sich durch die Stühle und ging zu ihrer Chefin.

»Sie hat keinen Lebensgefährten«, spottete Sheryl. »Das macht sie zu einer vollkommen unqualifizierten Partnervermittlerin! Audrey Cracknell, die seit Jahren mit ihren angeblich ›professionellen‹ Tipps zur Partnersuche ihr Geld verdient, ist nichts weiter als …« – Sheryl legte eine Pause ein, ehe sie zum letzten Dolchstoß ansetzte – »… eine vertrocknete alte Jungfer

»Grundgütiger!«, rief Ernie.

»Heiliger Strohsack!«, tönte es von Barry Chambers.

»Himmel, Arsch und Zwirn!«, schimpfte Cassandra.

Alice trat zu Audrey. Sie legte ihr die Hand auf die Schulter und spürte sie beben, wie ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch.

»Ich habe Ihnen allen das heute mitgeteilt, damit wir gemeinsam – als Gruppe – entscheiden können, wie wir weiter vorgehen wollen«, erklärte Sheryl großkotzig. »Würde dieser Fall an die Öffentlichkeit gelangen, unser aller Ruf würde darunter leiden. Man würde uns als Betrüger beschimpfen und als Versager in Sachen Liebe. Wir könnten alle einpacken. Deshalb bleibt mir keine andere Wahl, als einen Misstrauensantrag einzubringen, um Miss Cracknell mit sofortiger Wirkung von unserem Berufsverband auszuschließen.«

Ohrenbetäubender Lärm brach aus.

In diesem Moment wurde Alice’ Hand von Audreys Schulter geschleudert und schlagartig nach oben katapultiert. Audrey war endgültig der Kragen geplatzt. Mit einem wütenden, gekränkten Kreischen schrappte ihr Stuhl über den Boden, und Audrey sprang auf, mit rot unterlaufenen Augen, die ihr vor Wut fast aus dem Kopf fallen wollten.

»Das geht euch alle doch überhaupt nichts an! Mein Leben hat niemanden von euch zu interessieren«, brüllte sie wie ein verwundetes Raubtier, das wutverzerrte Gesicht gerahmt von ihren lodernd feuerroten Haaren. Alice hatte sie noch nie so Furcht einflößend erlebt. »John und ich lieben uns. Wir lieben uns

Einige der Verbandsmitglieder besaßen genug Taktgefühl, um sich nervös zu räuspern. Eine dicke Träne kullerte Audrey über die Wange und klatschte auf ihren Busen. Hektisch griff sie nach ihrer Handtasche und hätte Alice beinahe über den Haufen gerannt in ihrem Bestreben, den Raum schnellstmöglich zu verlassen. Sheryls flatterndes Pamphlet hielt sie noch in der Hand.

Krachend fiel die Tür hinter ihr zu und ließ eine unheimliche Stille zurück. Alice schaute reihum in die empörten Gesichter der anderen BdP-Mitglieder mit ihren vor kribbelnder Erregung geröteten Wangen. Und dann fiel ihr Blick auf Sheryl und den unverwechselbaren Ausdruck des Triumphs in ihrem Gesicht.

Alice drehte sich auf dem Absatz um und folgte Audrey nach draußen.