Audrey
Obwohl Bianca ihre Lieblingsmitarbeiterin war, wurmte es Audrey doch, dass sie jeden Tag auf die Minute genau um 17.26 Uhr den Rechner ausschaltete und selbst das läutende Telefon dickfellig ignorierte. Man konnte die Uhr nach ihr stellen – was Audrey normalerweise sehr an anderen Menschen schätzte, aber wenn das von ihrer Arbeitszeit abging und auf Audreys Kosten geschah, dann kam ihr allein bei dem Gedanken die Galle hoch. Die Bürozeiten gingen, wie ganz klar im Arbeitsvertrag festgehalten, von neun bis siebzehn Uhr dreißig, mit einer Stunde Mittagspause. Dass sie jeden Tag ein paar Minuten zu früh das Büro verließ, war nicht bloß ärgerlich, sondern streng genommen eine Dienstpflichtverletzung. Und was immer Bianca tat, Cassandra nahm sich ein Beispiel an ihr. Audrey hatte mehrfach versucht, Bianca wegen ihrer fragwürdigen Arbeitsmoral zur Rede zu stellen und ihr zu erklären, dass sie ein schlechtes Vorbild für die anderen Mitarbeiter abgab, aber jedes Mal hatte Bianca sie so zuckersüß und verdutzt angeschaut, dass Audrey sich vorgekommen war wie ein Unmensch. Und natürlich wollte sie es sich auch nicht mit ihr verscherzen (schließlich sollten sich die Angestellten bei Table For Two wohlfühlen), also hatte sie sich im Laufe der Jahre zähneknirschend damit abgefunden, dass Bianca sich jeden Abend ein paar Minuten vor der Zeit verabschiedete.
Und so kam es, dass Bianca um 17.27 Uhr kaltblütig das klingelnde Telefon ignorierte, derweil Audrey tief durchatmete und versuchte, nicht die Contenance zu verlieren, bis Alice sich schließlich von ihren Unterlagen losgerissen hatte, nach dem Hörer griff und Audrey von ihrem Ungemach erlöste.
»Bye, zusammen«, rief Bianca fröhlich, und war auch schon in einer Parfumwolke aus dem Büro gerauscht.
Was augenblicklich vom harschen Scharren eines Stuhls gefolgt wurde, den jemand unsanft und lautstark zurückschob.
»Ja, schönen Abend allerseits«, trompetete Cassandra.
Vorsichtig löste Audrey ihr eingefrorenes Lächeln, als sie Cassandra geräuschvoll den Flur entlangstapfen hörte. Kurz darauf war das Gepolter verhallt, und im Büro war nichts mehr zu hören als das gewohnte sanfte Brummen der Computer. Um sich ein wenig zu beruhigen, warf Audrey einen Blick auf das Foto von John und wandte sich dann wieder ihrem Bildschirm zu.
So, wo war sie stehen geblieben? Ach ja. Max Higgert. Max war Architekt, ein gut aussehender, bescheidener Kerl, zweifellos mit sechsstelligem Einkommen. Ein echter Gewinn für die Agentur! Männer wie Max fielen einem nicht jeden Tag in den Schoß beziehungsweise in die Kartei. Ein Glück, dass er ständig Überstunden machte und generell eher schüchtern war, sonst wäre er längst vom Markt. Ein Mann mit Bildung und Geschmack, der sich den ganzen Tag mit nichts als klaren Linien und Ästhetik befasste. Audrey hatte ihn gesehen, als er gerade bei seinem Aufnahmegespräch mit Hilary war, nicht lange gefackelt und ihn auf der Stelle mit in ihr Büro genommen (das ihn mit seinen edlen Glaswänden fraglos beeindruckt hatte). Max Higgert verdiente den perfekten Service bei Table For Two und sollte sich nicht mit dem zweitklassigen Anblick einer hochschwangeren Angestellten namens Hilary Goggin herumschlagen müssen.
Audrey öffnete eine Datei und überflog die Profile der exklusivsten Damen in ihrer Kundenkartei.
Serena Benchley? Nein, zu alt.
Lorraine Hendy? Zu aufdringlich. Wenn sie etwas von Männern verstand – und dessen war Audrey sich sicher –, dann wünschte Max sich eine diskrete Partnerin; eine Dame – im wahrsten Sinne des Wortes.
Rasch überflog sie einige weitere Profile. Dann erschien das von Kate Biggs auf ihrem Bildschirm.
Wie wäre es mit ihr, der Neuen, die Alice gerade aufgenommen hatte? Nachdenklich betrachtete Audrey das Foto von Kate. Sie war im richtigen Alter und eigentlich ganz hübsch. Keine grässliche künstliche Sonnenbankbräune, wie sie viele junge Frauen heutzutage so schick fanden. Gebildet und mit Uni-Abschluss. Audrey überflog Kates Steckbrief. Dann klickte sie die Datei an. Oha, eins von diesen PR-Mädels. Audrey hielt diese ganzen Werbeleute für einen schamlos selbstverliebten Haufen. Nicht das Richtige für Max. Sie klickte weiter.
Helen Oxford? Nein, schlechte Zähne. So lang, irgendwie. An denen blieb doch sicher ständig Lippenstift kleben.
Abigail Brookes? Nicht mit diesem grauenhaften, schlecht gefärbten Haaransatz.
Lia Jenkins? Zu stämmig.
Catherine Huntley?
Della Bosworth?
Audrey seufzte. Es gab einfach viel zu viele nichtssagende Durchschnittsfrauen. Niemand im Partnervermittlungsgeschäft würde das je offen sagen, aber es stimmte. Die Frauen jammerten ununterbrochen, dass es einfach keine netten, alleinstehenden Männer gab, dabei hatten sie das nur sich selbst zuzuschreiben. Warum nur fanden es so viele Frauen vollkommen okay, in Jeans und Turnschuhen herumzulaufen? Audrey war fest davon überzeugt, die wachsende Zahl alleinstehender Frauen stand in direktem Zusammenhang mit der allgemein sinkenden Kleidungsmoral. In den fünfziger Jahren, als die Frauen immer tadellos gekleidet waren, hatte man sie fast nie über ihre unaufhaltsam tickende Uhr lamentieren gehört. Heutzutage gaben sie sich einfach nicht mehr genug Mühe. Wollte man sich als Dame einen Herrn angeln, musste man die richtigen Signale aussenden: gepflegtes Äußeres, hübsch frisierte Haare, hohe Absätze, nicht zu viel trinken, in der Öffentlichkeit nicht rauchen. Die Frauen heutzutage dachten nur an ihre »Selbstverwirklichung«. Oder sie hatten nichts als ihre Karriere im Kopf. Und was waren das für Frauen, die als Hobby »Fitnessstudio« angaben? Audrey wollte jedes Mal schier verzweifeln, wenn sie sah, wie eine ihrer Klientinnen das in den Fragebogen eintrug. Also wirklich! Glaubten Frauen ernsthaft, das sei das, was Männer wollten? Eine schnaufende, sehnige, muskulöse Serena Williams, mit einer steileren Karriere als ihre eigene?
Audrey trank ihre Teetasse aus und stellte sie wieder auf die Untertasse. Sie wusste jedenfalls genau, was Max wollte. Sie wusste es sogar besser als er selbst. Er war da ein wenig vage geblieben, »nett« war das einzige Kriterium, das ihm eingefallen war. Aber Max brauchte eine diskrete, gepflegte Partnerin, gertenschlank und anmutig. Eine, die das Richtige sagte, wenn sie ihn zu wichtigen Anlässen begleitete. Audrey kannte diese Frau – sie hatte sie genau vor Augen. Das Problem war nur, dass diese Frau nicht in der Table For Two-Kartei zu finden war. Da drinnen gab es entschieden zu viele Tattoos und Scheidungsopfer.
Es war wohl besser, eine Nacht darüber zu schlafen, überlegte sie. Gleich am nächsten Morgen würde sie Max anrufen und ihm einige ihrer sorgsam ausgewählten Vorschläge unterbreiten. Sie wollte ihn mit den Damen vom Hocker hauen – komme, was da wolle. Einen Klienten wie Max Higgert konnte man nicht mit irgendwem abspeisen.
Audrey schaute auf. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass Hilary auch schon gegangen war. Nur Alice saß noch an ihrem Platz, geschäftig über ihren Papierkram gebeugt, die Haare auf dem Kopf aufgetürmt und mit einem zerkauten Kuli zusammengehalten. Audrey fuhr ihren Rechner herunter, quetschte sich in den etwas zu engen Mantel und ging zur Tür.
»Schönen Abend, Alice«, rief sie kühl.
Sie bekam keine Antwort. Mal wieder völlig in Gedanken, dachte Audrey. Die ganze Welt könnte um sie herum zusammenbrechen, das Mädel würde es nicht mal merken.
Schwungvoll marschierte Audrey aus dem Gebäude und fand sich unversehens – wie jeden Abend – mit einem visuellen Schandfleck konfrontiert: Alice’ Fahrrad. Wenn es eins gab, das ihre Vorfreude auf zu Hause – auf einen Abend ungestörten BBC-Sehens ganz allein – trüben konnte, dann war es der Anblick von Alice’ Fahrrad, das wie eine rostige Suffragette an das Geländer gekettet war. Audrey hatte noch nie etwas gesehen, das so laut »Mein Liebesleben ist ein Witz« schrie wie dieser erbärmliche Drahtesel. Warum konnte sie nicht einfach mit dem Bus zur Arbeit fahren wie jeder normale Mensch? Nein, die vernünftige, patente Alice kam mit einem klapprigen Fahrrad zur Arbeit, das sie dann genau vor der Tür stehen ließ. Und zu allem Überfluss hing auch noch ein Fahrradkörbchen vorne dran. Ein Fahrradkörbchen! Wenn das nicht das geheime Erkennungszeichen aller altjüngferlichen Fräuleins weltweit war, dann wusste sie es auch nicht. Was sollten denn ihre Klienten denken?
Audrey strich sich den Regenmantel glatt und stapfte in Richtung Bushaltestelle. Im Geiste goss sie sich schon mal den ersten Sherry des Abends ein.