John

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Viel gab es nicht, worauf John wirklich stolz war: seine Arbeit, durch die er den Frauen, denen er dort begegnete, wieder zu mehr Selbstbewusstsein und Lebensfreude verhalf, seinen Garten und seine Tochter Emily, die gerade mit ihm am Abendbrottisch saß.

Emily, so dachte er oft, war einfach das Beste, was ihm im Leben passiert war. Selbst jetzt, da sie das beachtliche Alter von dreiundzwanzig Jahren erreicht hatte, konnte er einfach nicht anders, als jedes Mal, wenn er sie anschaute, vor Stolz fast zu platzen. Sie war wirklich eine erstaunliche junge Frau: klug, feinfühlig und bildhübsch, genau wie ihre Mutter. Jahrelang hatte er die Ähnlichkeit zwischen den beiden als sehr verstörend empfunden. Doch wenn er sie heute anschaute und in ihren Zügen Eves Gesicht gespiegelt sah, war er einfach nur stolz. Er hatte die wunderbarste Tochter der Welt großgezogen.

Liebevoll schaute er sie an, während er den Braten anschnitt, den er eben aus dem Ofen geholt hatte. Emily arbeitete bei einer humanitären Hilfsorganisation und war gerade von einem Afrikaaufenthalt zurückgekommen. Sie hatte das ganze Gesicht voller Sommersprossen, die einen schönen Kontrast zu den langen kastanienbraunen Locken bildeten.

»Dünn siehst du aus«, stellte er freundlich fest.

»Das sagst du doch immer«, gab sie lachend zurück.

»Ich mache mir ein bisschen Sorgen, wenn du so viel unterwegs bist. Du arbeitest zu viel und vergisst darüber zu essen.«

»Ja, Mum!«, kicherte sie und salutierte.

John lächelte und legte ihr eine besonders große Portion auf den Teller.

»Und, was gibt’s bei dir Neues?«, fragte sie und machte sich hungrig über das Essen her.

»Nicht viel«, entgegnete John ganz beiläufig. »Ich hatte bloß ein paar Verabredungen.«

»Du hast doch immer ein paar Verabredungen, Dad«, erwiderte Emily spitz. Aber ein Blick in das Gesicht ihres Vaters ließ sie verstummen.

»Ach so, du meinst Verabredungen, im Sinne von Verabredungen? Dates, die nicht Tante Geraldine für dich arrangiert hat?«

John konnte nicht anders; er grinste übers ganze Gesicht.

»Ich fasse es nicht! Ehrlich! Warum hast du mir denn nichts davon erzählt?«

»Du warst doch in Afrika!«

»Ja, aber das sind doch unglaubliche Neuigkeiten. Das ist wie damals, als die Berliner Mauer fiel oder als der erste Mann auf dem Mond gelandet ist. Du hast dich also wirklich mit einer Frau verabredet?«

John nickte fröhlich.

»Und? Erzähl! Wie heißt sie?«

»Sie heißt Alice.«

»Und?«

»Und was?«

In gespielter Verzweiflung schlug Emily die Hände über dem Kopf zusammen. »Was macht sie? Wie ist sie? Und weiß sie, dass man dich mieten kann?«

»Hey!«

»Diese Frage muss ich stellen«, erklärte Emily grinsend. »Wir brauchen nicht um den heißen Brei herumzureden.«

John legte Messer und Gabel beiseite und erzählte ihr alles.

»Dann hat sie wirklich keine Ahnung?«

»Was ich beruflich mache? Nein.«

»Aber du wirst es ihr doch sagen, nicht wahr?«

John seufzte. »Das muss ich wohl.«

»Natürlich musst du das!«, rief Emily ganz außer sich. »Ich meine, du magst diese Frau, du möchtest mit ihr zusammen sein. Dann musst du ihr auch die Wahrheit sagen!«

»Ich weiß«, entgegnete John widerstrebend.

»Wenn Alice wirklich so toll ist, wie du behauptest, wird sie Verständnis dafür haben.«

»Und wenn nicht?« Nervös schaute John sie an. »Was, wenn ich sie damit völlig verschrecke und sie mich nie wiedersehen will?«

»Du musst es ihr einfach behutsam erklären. Wirf ihr nicht bloß ein paar Brocken hin, sondern erzähl ihr alles ganz genau. Warum du das machst. Und was für ein bemitleidenswerter alter Sack du bist.«

»Klar, das hilft bestimmt!«

»Dad! Hör endlich auf, dich hinter deiner Arbeit zu verstecken!«, schimpfte Emily. »Du arbeitest bei einem Escort-Service und bist kein Axtmörder. Und wo wir schon mal dabei sind, mach dich nicht ständig selbst fertig! Vorbei ist vorbei. Wieso machst du nicht gleich Nägel mit Köpfen und packst alles aus? Es wird allmählich Zeit, dass du die Karten auf den Tisch legst!«

»Ich habe ihr schon erzählt, wie klug du bist.«

»Das kannst du laut sagen! Und darum solltest du auch schön brav und artig sein und tun, was ich dir sage!«

John lachte, dann wurde er wieder stumm und guckte bedrückt ins Leere.

»Es gibt noch eine weitere Komplikation.«

Und dann erzählte er ihr von Audrey.

»Himmel, die Audrey?« Wütend stach Emily mit der Gabel auf ihren Teller ein. »Die macht dir seit Jahren nichts als Ärger.«

»Sollte Audrey je erfahren, dass Alice und ich zusammen sind, würde sie Alice das Leben …« – John suchte nach dem richtigen Wort – »… sehr unangenehm machen. Und Alice mag ihre Arbeit sehr. Ich meine, wirklich sehr. Aber die Beziehung zu mir könnte sie den Job kosten.«

»Und du glaubst, das sei ein Grund, ihr nichts davon zu sagen?«

»Vielleicht.«

»Dad, ich bitte dich!«, rügte Emily ihren Vater. »Alice ist eine erwachsene Frau. Wenn du es ihr beichtest und sie sich trotzdem auf dich einlassen will, ist das ihre Entscheidung. Aber wenn du ihr nichts sagst, findet sie es früher oder später selbst heraus, und dann wird sie zu Recht wütend sein, weil du es ihr verheimlicht hast. Danach ist Schicht im Schacht! Dann hast du es versaut und sitzt die nächsten fünfzehn Jahre wieder als angestaubter Ladenhüter im Regal.«

Unglücklich starrte John auf seinen Teller.

»Und, Dad? Ich will nicht, dass du es versaust!«, fuhr sie mit eindringlicher Stimme fort. »Du hast schon viel zu lange den Märtyrer gespielt und dich hinter Tante Geraldine versteckt. Es wird Zeit, dass du wieder anfängst zu leben. Sag es ihr!«

John schaute in ihre glänzenden Augen, und er wusste, wie Recht sie hatte. Sie hatte immer Recht. Er war ein blutiger Anfänger, was diesen ganzen Beziehungskram anging. Bei arrangierten Verabredungen machte ihm so schnell niemand was vor, darin war er ein Profi! Aber im wahren Leben entpuppten sich Beziehungen als ein einziges Minenfeld.

»Mum hätte gewollt, dass du es Alice sagst«, erklärte Emily unverblümt und punktete so mit dem finalen Totschlagargument. »Sie hätte dir einen Tritt in den Hintern gegeben und dir gesagt, du sollst aufhören, dich zu verstecken, und endlich dein Leben leben. Mum hätte dir gesagt, dass man für sein Glück auch mal ein Risiko eingehen muss.«

John nickte. Seine Tochter hatte Recht.

Dann nahm er seine Gabel und aß weiter. Das Essen war inzwischen kalt geworden.