Alice
Und?«
Bianca und Cassandra schauten sie erwartungsvoll an.
»Es ist ein Junge!«, rief Alice triumphierend und ließ die Bürotür hinter sich zufallen. »Ein bildhübscher, strammer, kerngesunder kleiner Junge!«
Die beiden Kolleginnen johlten begeistert, während Audrey ihrerseits missbilligend die Lippen schürzte und sich in ihr gläsernes Büro zurückzog.
»Die gute alte Hilary!«, rief Bianca begeistert. »Endlich bekommt der arme Kevin Verstärkung in seinem Weiberhaushalt! Wie viele Töchter haben die beiden?«
»Zwei!« Alice zog den Mantel aus. »Und nach allem, was sie gestern Abend gesagt hat, wird es keine dritte mehr geben. Sie hat Kevin angeschrien, sie würde ihn verklagen, sollte er ihr noch mal zu nahe kommen!«
»Das sagt sie jetzt …!«, meinte Cassandra lachend.
Alice ließ sich auf ihren Stuhl fallen. Sie war erschöpft, versuchte aber, sich von der ansteckenden Freude über die guten Neuigkeiten mitreißen zu lassen.
»Was ist denn das?«, fragte sie im nächsten Moment, in der Hand Max’ Zettel.
Achselzuckend wandten die beiden anderen sich ab. Vorsichtig faltete sie das Blatt auf.
Liebe Alice,
Sie sind ein Genie! Ich weiß zwar nicht, was Sie Audrey gesagt haben, aber das nächste Date, zu dem sie mich geschickt hat, war einfach perfekt! Ich habe Hayley Clarke kennengelernt und bin völlig hin und weg – Hals über Kopf, vollkommen verliebt! Danke, dass Sie Audrey darauf gebracht haben, was für eine Frau ich mir wirklich gewünscht habe. Hayley und ich werden Ihnen ewig dankbar sein.
Max Higgert
Alice schloss die Augen und drückte den kleinen Zettel an die Brust. Tränen schossen ihr in die Augen. Sie hatte sich nicht geirrt. Sie hatte nicht den Verstand verloren. Es war richtig gewesen, sich so weit aus dem Fenster zu lehnen. Sie hatte zwei Menschen zusammengebracht, die füreinander geschaffen waren, und ihnen geholfen, die Liebe fürs Leben zu finden. Ihr wurden die Knie weich vor Erleichterung.
»Ähm, hallo?«, rief da eine Stimme quer durch das Büro.
Alice machte die Augen auf. Eine junge Frau – eine bildhübsche junge Frau – stand in der Tür. »Table For Two, richtig?«, fragte sie an den ganzen Raum gerichtet.
Aus den Augenwinkeln sah Alice, wie Audrey in ihrem Büro aufschaute. Was nicht weiter verwunderlich war, denn die Frau war wirklich ein Hingucker. Klassisch schön wie ein prä-raphaelitisches Gemälde und doch sehr modern in Trenchcoat und glitzernden Turnschuhen. Ihr Gesicht mit dem zarten englischen Teint zierte eine Handvoll für diese Jahreszeit eher ungewöhnliche Sommersprossen, und sie hatte eine wilde kastanienbraune Mähne. Alle im Büro setzten sich kerzengerade hin und schauten sie an. Wenn sie eine neue Klientin war, wollte jede sie für ihre Kartei haben.
Audrey stürzte sich als Erste auf sie; wie ein geölter Kugelblitz schoss sie aus ihrem Büro.
»Ja, ja, hier sind Sie richtig. Wir sind Table For Two. Bitte, kommen Sie doch herein. Gehen wir in mein Büro. Ich nehme an, Sie sind hier, um die große Liebe zu finden? Ich bin die Inhaberin der Agentur; sehr erfreut, Sie kennenzulernen. Möchten Sie vielleicht einen Kaffee? Cassandra … Wasserkocher!«
Doch die junge Frau rührte sich nicht vom Fleck. Stattdessen musterte sie Audrey von Kopf bis Fuß.
»Sie …«, sagte sie mit einer Stimme, die nur so triefte vor Verachtung, »… müssen Audrey sein.«
Audrey blieb wie angewurzelt stehen.
»Ähm, ja. Ja, die bin ich.«
Sie wirkte wie vor den Kopf geschlagen. Verdattert beobachtete das ganze Büro die Szene.
Die junge Frau nickte nur kurz, als bestätige sich damit etwas.
»Das habe ich mir gedacht«, sagte sie knapp. »Nein, Sie nicht.«
Woraufhin alle entsetzt nach Luft schnappten. So redete man doch nicht mit Audrey. Die Wangen der Agenturleiterin färbten sich so rot, als hätte sie eine Ohrfeige bekommen.
Doch die junge Frau sah sich unbeirrt um und nahm die anderen Mitarbeiterinnen ins Visier. »Ich möchte zu Alice«, verkündete sie laut. »Man sagt, sie sei die Beste.«
Mit einem Schlag wurde es totenstill. Cassandras Augenbrauen schossen hoch bis zum Haaransatz, und Biancas Mund war zu einem tonlosen »Oh« gefroren. Audrey stand da, starr und stumm wie ein Grabmal. Langsam, zögerlich, schob Alice ihren Stuhl zurück und stand auf.
»Ich bin Alice«, sagte sie leise und zog wie zum Schutz ihre Strickjacke fester um sich. Doch plötzlich breitete sich auf dem Gesicht der jungen Frau ein entzücktes Lächeln aus.
»Großartig! Dürfte ich Sie wohl kurz sprechen?«
Im ersten Moment war Alice so verdattert, dass sie nichts darauf zu erwidern wusste. Wer war diese Frau, und warum hatte sie Audrey so rigoros abgekanzelt? Und wichtiger noch – woher nahm sie den Mumm dazu? Doch dann hüstelte Bianca diskret, und Alice kam stolpernd in Bewegung. Audreys gekränkten Blick geflissentlich übersehend führte sie die junge Dame ins Besprechungszimmer und schloss dann bedächtig die Tür hinter ihnen.
Die junge Frau schaute sich in dem Raum um.
»Hier geht es also ans Eingemachte, hm?« Grinsend deutete sie auf die Schachtel mit den Papiertaschentüchern, die auf dem Tischchen zwischen den beiden Korbstühlen stand.
»Manchen Menschen fällt es nicht leicht, darüber zu reden, was für einen Partner sie sich wirklich wünschen, vor allem dann nicht, wenn sie schon lange auf der Suche sind«, erklärte Alice ohne nachzudenken und verstummte dann nervös. Die Frau ließ sie nicht aus den Augen.
»Ja«, bestätigte die junge Frau, offensichtlich angetan von dem, was sie sah. »Sie sind genau so, wie er Sie mir beschrieben hat.« Und damit setzte sie sich.
Alice wurde rot. Wer hatte sie so beschrieben? Und warum hatte diese Frau ausgerechnet nach ihr gefragt?
»Hören Sie, es tut mir leid«, sagte sie und setzte sich ihr gegenüber. »Aber ich bin etwas verwirrt. Möchten Sie Mitglied werden bei Table For Two?«
»Himmel, nein!«, rief die junge Frau lachend. »Ich bin nicht hier, um mich verkuppeln zu lassen … Nein, ich möchte Sie verkuppeln!«
»Wie bitte?« Alice verschluckte sich fast vor Schreck.
Die Frau seufzte.
»Männer … können manchmal echte Stoffel sein, stimmt’s? Wenn es um Keilriemen und Kabellegen geht, dann sind sie ganz groß. Aber die einfachen Sachen – wie reden beispielsweise – kriegen sie einfach nicht auf die Reihe! Jahrtausende der Evolution sind vergangen, und sie schaffen es immer noch nicht, einfach mal den Mund aufzumachen und die richtigen Worte zu finden.«
In Alice’ Kopf drehte sich alles. Was redete sie denn da?
»Vor allem mein Dad«, fuhr die junge Frau fort.
»Ihr Dad?«
»Ja, Sie kennen ihn. Blaue Augen, grau meliertes Haar; netter Kerl. Ziemlich gut aussehend, glaube ich, jetzt wo ich so drüber nachdenke.«
»John …« Das Wort entschlüpfte Alice’ Mund wie ein Flüstern. Konnte sie tatsächlich John meinen? War das … war das Johns Tochter? Vom Alter her könnte es passen, und so hübsch, wie sie war, könnte es durchaus möglich sein. »Emily?«, fragte sie.
»Genau die!«, antwortete Emily grinsend. Sie rutschte auf dem Stuhl nach vorne, und ihre Stimme wurde sanfter. »Hören Sie, Alice, es tut mir leid, Sie hier bei der Arbeit zu überfallen, aber ich musste einfach etwas unternehmen. Mein Dad würde vollkommen ausflippen, wenn er wüsste, dass ich hier bin, aber hey, ich bin dreiundzwanzig; Hausarrest bekomme ich dafür wohl nicht mehr! Und wenn einer weiß, dass man der Liebe manchmal ein bisschen auf die Sprünge helfen muss, dann wohl Sie. Die Sache ist die, ich habe meinen Dad sehr gern, und ich möchte, dass er glücklich ist. Er glaubt, Sie sind die Frau, mit der er das werden könnte. Und es ist einfach zu frustrierend, sich zurückzulehnen und ihm dabei zuzusehen, wie er aus Dusseligkeit den Karren vor die Wand fährt. Er kann nichts dafür; er ist ein bisschen … aus der Übung.«
»Aus der Übung?«
Alice konnte sich ein mattes Lächeln nicht verkneifen.
»Das stimmt wohl nicht ganz.«
»Na ja … hören Sie, das mit den anderen Frauen … Er hat mir von neulich Abend erzählt, und was er Ihnen gesagt hat …«
Errötend senkte Alice den Blick und schaute angestrengt in ihren Schoß.
»… hörte sich nach einem echten Totalausfall an«, erklärte Emily unverblümt. »Aber eigentlich ist das, was er Ihnen nicht erzählt hat, viel wichtiger. Ich kann es gut nachvollziehen, dass Sie lieber die Beine in die Hand genommen und zugesehen haben, dass Sie da wegkommen. Himmel, das hätte ich sicher auch getan! Ich hätte mir alles Mögliche ausgemalt, und darunter einige wirklich widerliche Sachen. Aber glauben Sie mir: Sie haben eine ganz falsche Vorstellung von meinem Dad.«
»Aber er ist …«, setzte Alice an und unterbrach sich dann rasch. Was sollte sie sagen? Vor seiner Tochter wollte sie bestimmt keine taktlosen Bemerkungen über seinen Beruf machen.
»… bei einem Escort-Service beschäftigt, ja, ich weiß«, nahm Emily ihr die Entscheidung ab. »Und ich weiß, dass Sie vermutlich annehmen, ›Begleitservice‹ sei eine nette, unverfängliche Umschreibung für ›Callboy‹.«
Wieder wurde Alice rot. Es war, als könne Emily in ihren Kopf schauen und ihre Gedanken lesen. John hatte Recht, sie war nicht auf den Kopf gefallen. Ein wirklich kluges Kind.
»Tja, ich nehme an, er hat sich nicht unbedingt klar ausgedrückt«, fuhr Emily fort. »Glauben Sie mir, wäre mein Dad ein Callboy, er wäre innerhalb von einer Woche arbeitslos. Sexuelle Enthaltsamkeit ist in diesem Beruf eher von Nachteil.«
»Enthaltsamkeit?« Einen Moment vergaß Alice alle Peinlichkeit und starrte Emily nur verdattert an.
»Hören Sie, ich weiß, ich bin eine Wildfremde, die hier einfach reinplatzt, aber würden Sie mir einen großen Gefallen tun?« Emily schaute sie sehr ernst an. »Wenn er versucht, Ihnen alles zu erklären, würden Sie ihm dann zuhören? Bitte? Und wenn Sie dann immer noch die Beine in die Hand nehmen wollen, ist das Ihr gutes Recht. Aber – weibliche Solidarität und so – ich würde Sie nicht darum bitten, ihm eine zweite Chance zu geben, wenn ich nicht wüsste, dass er einer von den Guten ist. Da draußen laufen genug Mistkerle rum, aber ich verspreche Ihnen, mein Dad ist keiner.«
Alice kämpfte mit sich. Normalerweise war sie darauf gepolt, andere glücklich zu machen, und eigentlich sagte sie lieber »Ja« als »Nein«. Und der Himmel wusste, wie gerne sie Emily jetzt Ja sagen würde. Aber sie bremste sich und dachte an ihren Entschluss vom Wochenende. Sie musste endlich damit Schluss machen, auf ihr dummes Herz zu hören; das brachte sie nur in Schwierigkeiten. Sie durfte nicht wieder den Kopf ausschalten.
»Ich würde Ihnen gerne glauben, wirklich«, sagte sie befangen. »Aber er ist Ihr Vater; natürlich haben Sie nur Gutes über ihn zu sagen. Dennoch muss ich auf mich aufpassen. Ich will mich nicht wieder zum Narren halten lassen.«
»Hören Sie, Alice« – Emily schaute sie freundlich an –, »ich weiß, dass Sie nicht verletzt werden möchten … noch mehr verletzt werden möchten«, korrigierte sie sich. »Aber ich frage Sie eins: Tief drinnen – im Grunde Ihres Herzens – wissen Sie, dass mein Dad niemanden zum Narren halten würde, nicht wahr? Und Sie am allerwenigsten.«
Alice wand sich unbehaglich. Sie konnte Emily nicht anschauen. Stattdessen versuchte sie, sich auf den stechenden, bohrenden Schmerz der vergangenen Tage zu konzentrieren, die erdrückende Enttäuschung in ihrer Brust, die ihr fast die Luft abgeschnürt hatte, und den entsetzlichen Geschmack im Mund, immer wenn sie an Johns Job dachte.
Emily stand auf und schickte sich an zu gehen.
»Er ist vollkommen verrückt nach Ihnen, wissen Sie«, sagte sie leise. Und dann schloss sie behutsam die Tür hinter sich.