John

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John schaute Alice zu, wie sie an ihrem Cappuccino nippte. Ihre Augen strahlten, und ihre Wangen glühten von der Fahrradfahrt hierher. Sie hatte darauf bestanden, dass sie sich am anderen Ende der Stadt trafen, so weit von Table For Two entfernt wie nur irgend möglich. Punkt sechs war sie zur Tür hereingeflitzt, den Fahrradhelm in der Hand und mit widerspenstig in alle Richtungen abstehenden Haaren. Die Frauen, mit denen John sich sonst verabredete, waren immer tadellos für irgendeine offizielle Veranstaltung gekleidet. Alice dagegen sah vollkommen natürlich aus, verwildert und voller überschäumender Lebensfreude. Es hatte ihm fast den Atem verschlagen.

Er räusperte sich. Zwar hatte er gerade erst einen Schluck Kaffee getrunken, aber sein Mund war staubtrocken. Es wunderte ihn, wie nervös er war. Eigentlich war es doch sein Job, sich mit Frauen zu unterhalten. Das sollte eine seiner leichtesten Übungen sein.

»Und wie bist du dazu gekommen, bei einer Partnervermittlung zu arbeiten?«, erkundigte er sich etwas linkisch.

Lächelnd rührte Alice in ihrer Tasse. »Das wollte ich schon immer machen. Für mich ist das kein Job, es ist ein Privileg.«

»Klingt spannend.« Er beugte sich nach vorne, merkte dann aber, dass seine Knie die von Alice berührten, und lehnte sich schnell wieder zurück.

»Nach welchen Kriterien wählst du die Leute aus? Woher weißt du, ob es nachher funkt?«

Alice lachte. »Das klingt jetzt sicher ziemlich verrückt …«

»Verrückt ist immer gut.«

Und dann erzählte sie ihm, wie sie bei Table For Two aus dem Fenster starrte und in ihre Traumwelt versank.

»Hast du je zwei Leute zusammengebracht, die sich auf den Tod nicht ausstehen konnten?«

»Ein paar schon«, gestand sie im Vertrauen. »Aber das war Absicht.«

»Absicht? Ich dachte, Menschen zusammenzubringen sei deine Leidenschaft!«

»Ist es auch!«, entgegnete sie ganz ernst. »Darum habe ich das ja gemacht. Manchmal muss man dem Klienten zu seinem eigenen Besten eine Verabredung mit dem Falschen vermitteln. Das ist zum Beispiel bei einer Klientin, um die ich mich gerade kümmere, so.« Sie rückte Richtung Stuhlkante. »Sie ist großartig; hübsch, erfolgreich, nett und sehr humorvoll. Eigentlich sollte sie überhaupt keine Probleme haben, den Richtigen zu finden. Aber ihr ist nicht klar, dass sie sich dabei selbst im Weg steht. Es gibt zwei große Hindernisse, und beide hat sie sich selbst geschaffen!«

»Und die wären?«

»Na ja, zum einen wäre da ihr Job. Sie ist ein echtes Arbeitstier«, erklärte Alice, und ihre Augen leuchteten vor Begeisterung über ihr Herzensthema. »Sie versteckt sich hinter ihren Überstunden und benutzt sie als Entschuldigung, nicht ausgehen und Männer kennenlernen zu können. Ehrlich gesagt vermute ich, sie hat große Angst davor, es zu versuchen und zu scheitern. Sie ist es gewohnt, mit harter Arbeit Erfolg zu haben, aber so funktioniert die Partnersuche nicht.«

»Und das zweite?«

»Sie hat vollkommen unrealistische Erwartungen an ihren Traummann. Das ist übrigens bei vielen Frauen so. Man könnte meinen, sie hätte sich mit dreizehn ausgemalt, wie ihr Zukünftiger einmal sein soll, und diese Idealvorstellung seitdem nie wieder überdacht. Sie will alles: blendendes Aussehen, Geld, ein schickes Auto, einen perfekter Körper, Familiensinn. Ein Hollywood-Traumtyp ohne den kleinsten Makel. Aber diesen Mann gibt es nicht, nicht mal in Hollywood!«

»Und du hast sie absichtlich mit dem falschen Mann zusammengebracht?«, wollte John ganz gefesselt wissen.

»Das musste ich!«, entgegnete Alice mit Nachdruck. Doch dann stockte sie kurz und verzog das Gesicht. Fasziniert beobachtete er, wie sie mit sich zu ringen schien.

»Aber deswegen bin ich bestimmt nicht wie sie!«, rief sie unvermittelt.

»Wie wer?«, fragte er verwirrt.

Worauf sie ihn ganz seltsam anschaute, als sei ihr gerade wieder eingefallen, dass er auch noch da war. »Wie … egal.« Dann war sie wieder ganz die Alte. »Damit wir uns nicht falsch verstehen – ich habe sie nur mit dem Falschen verkuppelt, um ihr zu helfen«, erklärte sie ernst. »Damit sie einsieht, dass das, was sie sucht, nicht das Richtige für sie ist, habe ich sie mit den wohlhabendsten, bestaussehenden Männern aus meiner Kartei zusammengebracht. Aber nur, weil sie reich und schön sind, heißt das noch lange nicht, dass sie interessant oder nett oder witzig sind! Versteh mich nicht falsch; für eine andere Frau mögen diese Männer perfekt sein. Aber nicht für sie.«

»Wie kannst du dir da so sicher sein?«, fragte er. »Ich meine, wenn sie dir sagt, dass sie etwas ganz Bestimmtes sucht, wieso bist du dann überzeugt, dass sie etwas ganz anderes braucht?«

»Wären Geld und Aussehen ihr das Wichtigste, dann würde man das auf den ersten Blick erkennen.«

»Woran?«

»An allem! An ihrer Garderobe, ihrer Frisur, ihrer Haltung, ihrer Art zu reden …«

»Du merkst an der Garderobe eines Menschen, was für einen Partner er sucht?«

»Natürlich!«, entgegnete Alice und nickte vehement. »Geld zieht Geld an, und Frauen, die sich einen reichen Mann angeln wollen, wissen das. Also ziehen sie sich dementsprechend an. Sie tragen Designerklamotten, ihre Frisur sitzt perfekt, sie haben makellos manikürte Fingernägel …«

»Und wie kleidet sich deine Klientin?«, fragte John neugierig.

Alice dachte kurz nach.

»Perfekt. Kleidung ist ihr sehr wichtig. Aber ihre Garderobe ist wie ein Schutzschild – eine Art Rüstung. Ich glaube, hinter ihrer Fassade ist sie sehr unsicher. Ein schickes Kostüm und elegante High Heels eignen sich prima, um das eigene Selbstwertgefühl ein bisschen aufzupolieren.«

»Sie zieht sich also nicht an, als wollte sie sich einen reichen Mann angeln?«

»Nein; sie zieht sich so an, dass sie sich wohler fühlt in ihrer Haut. Man muss schon extrem selbstbewusst sein, um einen reichen Mann an Land zu ziehen. Und ziemlich dickfellig. Das wäre kein Leben für sie.«

»Und wen willst du dir mit deinen Sachen angeln?«, hörte John sich selbst fragen.

Alice lachte und zupfte an ihrem schlichten Kleid und der langen Strickjacke.

Beide wurden rot.

»Also.« Er versuchte, das Gespräch wieder auf ein unverfänglicheres Thema zu lenken. »Du hast die Dame in die Höhle des Löwen geschickt, wohl wissend, dass die Verabredung in einem Desaster enden würde. Und das tust du, um sie auf den richtigen Weg zum richtigen Mann zu bringen?«

»Ja!«

»Funktioniert es auch?«

»Und wie!«, antwortete Alice mit einem überzeugten Lächeln.

»Und hast du schon jemanden auf dem Schirm, der der Richtige für sie wäre?«

»Ja, ich glaube, ich habe die Lösung. Sie hat ihn zwar noch nicht kennengelernt, und er ist weder reich noch im herkömmlichen Sinne gut aussehend. Aber mit ihm wird sie sich bereichert fühlen.«

»Wobei das eine wirklich riskante Strategie ist; sie könnte auch gewaltig in die Hose gehen.«

»Ich weiß.« Alice lächelte. »Aber ist die Liebe es nicht wert, dafür ein paar Risiken einzugehen?«

John sah sie an. Sie verströmte so viel Wärme und Herzlichkeit, dass es ihm schwerfiel, sie in derselben Branche wie Audrey und Sheryl anzusiedeln. Alice war wie ein funkelnder Stern, rein, ehrlich und voller Lebensfreude. Sie trug kaum Make-up, sah dadurch aber nicht fade aus, sondern eher im Gegenteil; sie strahlte von innen heraus. Sie wirkte natürlich und quicklebendig. Und sie hatte die Angewohnheit, die Ärmel ihrer Strickjacke lang zu ziehen und sich förmlich in die Jacke hineinzukuscheln. Wie gerne wollte er sie in die Arme nehmen, damit sie sich stattdessen an ihn kuschelte.

»Also gut«, sagte sie gerade. »Jetzt, wo wir festgestellt haben, dass du nicht mit Audrey verheiratet bist – warst du überhaupt schon mal verheiratet?«

»Einmal«, entgegnete John wahrheitsgemäß. »Ich war sehr jung – zu jung. Es hat nicht gehalten.«

»Das tut mir leid.«

»Mir tat es auch leid. Aber das ist lange her.«

»Hast du Kinder?«

»Ja, eine Tochter.« John strahlte über das ganze Gesicht. »Emily. Sie ist dreiundzwanzig und unglaublich klug. In der Hinsicht ist sie genau wie ihre Mutter.«

»Hängt sie sehr an ihrer Mutter?«

»Nein. Ihre Mutter ist tot – ein Autounfall. Da war Emily erst acht.«

»Oh, das ist ja furchtbar. Es tut mir schrecklich leid. Ich wollte nicht in deiner Vergangenheit kramen.«

»Ist nicht schlimm. Als meine Frau – sie hieß Eve – gestorben ist, habe ich Emily allein großgezogen.«

Normalerweise erzählte er niemandem von Eve, aber sonst verabredete er sich auch nicht aus freien Stücken mit Frauen. Und es tat plötzlich richtig gut, darüber zu reden.

»Es war eine schwere Zeit. Manchmal kam es mir fast vor, als ginge Emily erwachsener damit um als ich. Aber wir haben es zusammen durchgestanden. Darum hängen wir auch sehr aneinander.«

»Das ist schön«, entgegnete Alice.

»Ja, das ist es.«

Sie lächelten einander zu.

»Und du?«, gab John die Frage zurück. »Warst du schon mal verheiratet?«

»Ähm, nein!«, erwiderte sie lachend.

John schaute sie an. Wie konnte es sein, dass sich noch kein Kerl diese wunderbare Frau geschnappt hatte? Sie war einfach entzückend – das Bilderbuch-Mädchen von nebenan. Wünschte sich das nicht jeder Mann? Klar gab es dieses ganze Macho-Gehabe, von wegen Blondinen und große Brüste, aber war es nicht eigentlich so, dass sich die meisten doch eher für eine normale Frau interessierten als für die Sheryl Toogoods dieser Welt? Suchten sie im Grunde genommen nicht alle ihre Alice?

Es war Zeit zu gehen, und ganz Gentleman half John ihr in den Mantel. Er wollte nicht, dass sie ging, aber auf einmal brachte er kein Wort mehr heraus. Das war ihm bei seinen beruflichen Verabredungen noch nie passiert. Doch hier im Café, als er Alice dabei zusah, wie sie an ihrem Fahrradhelm herumfingerte, wurde er plötzlich ganz unsicher. Es war aufregend, ein ungewohntes, neues Gefühl.

»Ich war richtig unhöflich«, sagte Alice da unvermittelt. »Ich habe dich gar nicht gefragt, was du beruflich machst!«

»Ach, das ist eine lange Geschichte«, erklärte John ausweichend. »Ein andermal … hoffentlich.«

»Sehr gerne.« Alice lächelte nervös und schaute ihm in die Augen.

»Das wäre schön«, entgegnete John, erwiderte ihren Blick und sah sie lange an. »Das wäre wirklich sehr schön.«