Alice
Es war halb zwölf, und das Desaster des Balls und die Zwistigkeiten des Tages schienen Alice inzwischen weit weg zu sein. Ein netter Abend mit leckerem Essen und Wein in angenehmer Gesellschaft hatte wahre Wunder gewirkt und sie wieder ein bisschen aufgebaut. Baby Scarlet lag endlich friedlich schlummernd oben im Bett, und Dan saß schnarchend im Sessel, die Bierflasche zwischen die Beine geklemmt.
Wortlos winkte Ginny ihre Freundin Alice, ihr in die Küche zu folgen.
»Lassen wir ihm seinen Frieden«, sagte sie leise und holte eine neue Flasche Wein aus dem Kühlschrank. »Auch noch was?«
Sie schenkte ihnen nach.
»So, und jetzt, wo wir beiden Hübschen unter uns sind, erzählst du mir bitte endlich von diesem John«, sagte sie mit spitzbübischem Grinsen.
Alice’ Wangen färbten sich zartrosa.
»Wie meinst du das?«
»Ach, Alice!«, lachte Ginny leise, um Dan nicht zu wecken. »Mir machst du doch nichts vor. Du magst den Kerl!«
»Ihn mögen?«, wiederholte Alice überrascht, wohl wissend, dass Ginny sie mit Argusaugen beobachtete. »Er ist der Mann meiner Chefin!«
Ginny zog eine Augenbraue hoch.
»Na ja, klar mag ich ihn«, gestand Alice. »Er hat mich verteidigt, und dann ist er mir bis zum Taxistand nachgelaufen, um sich zu vergewissern, dass mit mir alles in Ordnung ist. Er ist ein sehr netter Mensch, den man einfach mögen muss.« Es schien ihr jetzt allerdings nicht der richtige Zeitpunkt zu sein, um Ginny zu erzählen, wie umwerfend gut er noch dazu aussah und wie verdutzt sie gewesen war, dass er deutlich jünger war als Audrey – fünf Jahre mindestens, wenn nicht gar zehn.
Ginny grinste vielsagend.
»Aber er ist ein verheirateter Mann«, erklärte Alice entschieden. »Ich meine damit nicht, dass ich ihn mag, wenn du darauf hinauswillst.«
»Ach nein?«
»Nein!« Alice musste sich abwenden; Ginny machte sie ganz nervös. »Und außerdem«, fügte sie entrüstet hinzu, »bin ich keines dieser skrupellosen Weiber, die anderen Frauen ihre Männer ausspannen.«
»Nicht mal, wenn die andere Frau Audrey Cracknell ist und bisher noch nicht mal zweifelsfrei bewiesen wurde, dass sie tatsächlich seine Frau ist?«
»Ganz besonders dann nicht, wenn diese Frau Audrey Cracknell ist! Sie macht mir ja so schon genug Angst, auch ohne dass ich versuche, ihr den Mann abspenstig zu machen. Und sie ist meine Chefin, verflixt noch mal. Beruflich wäre das glatter Selbstmord.«
Alice dachte einen Augenblick ganz nüchtern darüber nach.
»Außerdem wäre es äußerst unwahrscheinlich, dass wir zusammenpassen«, argumentierte sie. »Audrey und ich sind so unterschiedlich wie Tag und Nacht. Was immer er also an ihr findet, ich kann es ihm ganz sicher nicht bieten. Wir sind einfach zu verschieden.«
»Tatsächlich?«, fragte Ginny neckisch.
»Himmel, und wie! Audrey und ich haben überhaupt nichts gemeinsam. Gar nichts!«
»Außer John.«
»Gin! Hör auf damit! Wie kannst du nur so was sagen? Und ich dachte, ich hätte eine überbordende Fantasie!«
»Dann gibst du Audrey also sein Taschentuch zurück?«
»Ähm, na ja. Das ist nicht so einfach.«
»Meine Rede!«, meinte Ginny grinsend und schenkte sich noch mal nach. »Ach, wenn ich ganz ehrlich bin: Ich bin bloß neidisch.«
»Neidisch?« Erstaunt stellte Alice ihr Glas ab.
»Du gehst zu einem Ball, wo dir ein gut aussehender Mann zu Hilfe eilt und sogar nachläuft, um sich zu vergewissern, dass es dir gut geht – das klingt ziemlich aufregend, wenn du mich fragst. Aufregender als mein Leben jedenfalls.«
»Es war wirklich nicht besonders aufregend, ausgelacht zu werden und sich heulend im Bett zu verkriechen.«
»Ja, aber was er über dich gesagt hat – dass du ein großes Herz hast und dass jeder Mann sich glücklich schätzen würde, dich kennenzulernen –, das ist so romantisch.«
Alice schaute ihre Freundin an. In Ginnys Blick lag ein Hauch Wehmut.
»In deinem Leben gibt es doch Romantik. Du lebst sie jeden Tag. Dan ist einfach toll.«
»Ach ja?«, fragte Ginny.
Das heitere Gespräch nahm plötzlich eine düstere Wendung.
»Wie meinst du das? Dan ist doch großartig. Meine Klientinnen würden alles dafür geben, so einen Mann zu finden.«
»Hmmmm.« Ginny griff nach ihrem Glas und schaute zweifelnd hinein.
»Was ist denn los? Ich verstehe dich nicht.«
»Natürlich verstehst du mich nicht«, gab Ginny unerwartet harsch zurück. »Du glaubst ja auch, Dan sei ein Ritter ohne Fehl und Tadel! Und der perfekte Ehemann und Vater!«
Erschrocken zuckte Alice zusammen.
»Ja. Genau das glaube ich. Dan ist ein feiner Kerl. Und du liebst ihn.«
Es entstand eine lange Pause. Alice spürte Panik in sich hochsteigen. Ginny starrte reglos auf den Tisch, und das, was Alice gesagt hatte, hallte schwer nach.
»Gin, du liebst ihn!«, wiederholte Alice mit etwas mehr Nachdruck.
»Wirklich?«
»Ja!«
»Tue ich das wirklich?«
Das war nicht gut. Das war gar nicht gut.
»Ginny, was ist passiert?«, fragte Alice sanft und verfluchte sich insgeheim selbst. Sie hätte merken müssen, dass etwas nicht stimmte, denn Ginny hatte in der letzten Zeit sehr bedrückt gewirkt. Und nun saß sie vor ihr wie ein Häufchen Elend.
»Bestimmt ist das bloß eine Phase, und es wird bald wieder besser«, versuchte Alice, sie zu trösten, als ihre Freundin stumm blieb. »Du musst mit ihm reden.«
»Muss ich das?« Ginny wirkte plötzlich so fremd. »Nimm’s mir nicht übel, Alice, aber du hast ja keine Ahnung. Du glaubst, dein Traummann wartet hinter der nächsten Ecke – der Ritter auf dem weißen Ross –, und alles wird so sein wie im Märchen: Du triffst ihn, ihr verliebt euch und lebt glücklich bis ans Ende eurer Tage. Aber so läuft das nicht im wahren Leben. Es gibt kein Happy End; irgendwann holt dich die Realität wieder ein. Und dann verwandelt sich der Traumprinz in einen bierbäuchigen, rülpsenden, fernsehguckenden Frosch.«
Alice war vor Schreck wie betäubt. Dan war doch nicht der abstoßende Mensch, als den Ginny ihn jetzt hinstellte. Er war nett und liebenswürdig!
»Bedenke wohl, was du dir wünschst, Alice«, warnte Ginny sie finster. »Sonst küsst du vielleicht eines Tages einen Frosch und stellst später fest, dass er nichts weiter ist als das: ein Frosch.«
»Dan ist kein Frosch«, protestierte Alice matt, noch ganz benommen von Ginnys unerwartetem Ausbruch. Was um alles auf der Welt ging hier vor?
»Nein. Nein, das ist er nicht«, murmelte die Freundin resigniert. Sämtliche Streitlust schien verpufft zu sein, und sie seufzte: »Bestimmt hast du Recht, und es ist nur eine Phase. Ich bin müde; ich glaube, ich gehe wohl besser ins Bett.«
Alice nickte stumm, ehe sie Ginny zum Abschied in den Arm nahm.
»Ich bin immer da, wenn du mich brauchst«, sagte sie und drückte sie ganz fest.
Ginny nickte, lächelte schwach und stieg die Treppe hinauf.
Alice öffnete die Tür. Draußen schloss sie zutiefst besorgt ihr Fahrrad auf und radelte dann wild strampelnd nach Hause.