Alice

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Alice fiel es schwer, positiv zu denken. Mühsam arbeitete sie ihre montägliche Anrufliste ab und hörte sich die detaillierten Schilderungen ihrer Klienten an, die von den wunderbaren Verabredungen berichteten, die sie am Wochenende erlebt hatten. Alice ertappte sich dabei, dass sie irgendwann gar nicht mehr zuhörte.

Es war ein grässliches Wochenende gewesen. Nachdem John die Bombe hatte platzen lassen, hatte sie überhaupt nicht mehr gewusst, was sie denken oder fühlen sollte. Ihr erster Gedanke war gewesen, Ginny anzurufen, aber ihre Freundin war mit Dan übers Wochenende weggefahren, um »an ihrer Beziehung zu arbeiten«. Normalerweise half ihr das Gärtnern, wieder einen klaren Kopf zu bekommen, aber diesmal funktionierte selbst das nicht. Und sie konnte auch nicht wie sonst zu Greenfingers gehen, aus Angst, John über den Weg zu laufen. Und sie hätte ohnehin nicht hinfahren können. Jemand musste versehentlich ihr Fahrrad angefahren haben, denn die Speichen am Vorderrad waren verbogen, und es schlingerte schrecklich.

Stattdessen saß sie wie angewurzelt auf ihrem Sofa und glotzte blöde alte Schwarzweißfilme, ohne irgendwas davon mitzubekommen. Wieder und wieder drehten ihre Gedanken sich im Kreis. Weinen wollte sie nicht, also schluckte sie entschlossen die Tränen herunter. Alle halbe Stunde klingelte ihr Telefon, doch sie rührte sich nicht vom Fleck. Sicher war es John, der alles aufklären wollte. Aber was sollte er ihr schon zu sagen haben?

Der Mann, in den sie sich verliebt hatte, war ein Callboy.

Sie war so dumm gewesen. Noch dümmer als dumm: ein Narr. Sie hatte tatsächlich geglaubt, ein Mann wie John könne sich für eine Frau wie sie interessieren. Was hatte sie sich dabei bloß gedacht? John war gut aussehend, weltgewandt und souverän im Umgang mit allem und jedem. Er war sexy, die Frauen rissen sich um ihn. Sie dagegen war unscheinbar, eine graue Maus, ein Mauerblümchen; das Aufregendste, was sie in ihrem Leben tat, war, abends zu Ginny zu gehen. Sie war so was von unsexy, dass es schon beinahe lachhaft war. Natürlich konnte er sich nicht ernsthaft für sie interessieren. Wie hatte ihre romantische Fantasie nur so mit ihr durchgehen können? War sie so verzweifelt auf der Suche nach ihrem Traumprinzen, dass sie die Wirklichkeit jetzt schon komplett aus den Augen verlor?

Sie hatte sich sogar so weit in ihre Tagträume hineingesteigert, dass sie sich allen Ernstes eingebildet hatte, John wäre in sie verliebt! Dabei war seine Liebe käuflich; jede, die ihre Kreditkarte zückte, konnte seine Umarmungen kaufen. Den Küssen, die ihr so märchenhaft erschienen waren, haftete nun etwas Schmutziges an. Für ihn waren ihre Lippen bloß ein weiterer Mund gewesen, der schmeckte wie der jeder anderen Frau in der Stadt. Warum um alles auf der Welt sollte sie für ihn etwas Besonderes sein, wo er doch so viele andere Frauen hatte – elegante, kultivierte, erfahrene Frauen –, mit denen er sie vergleichen konnte? Wie sollte sie da je mithalten?

Niedergeschlagen zog sie ihre Strickjacke noch fester um sich.

Aber was hatte John dann von ihr gewollt? Worauf hatte er es angelegt? Immer wieder quälte sie sich mit diesen Gedanken, während im Hintergrund die Filmmusik lauter wurde und das Paar sich endlich glücklich in die Arme fiel. Was war sie für ihn gewesen? Eine amüsante Ablenkung? Ein Experiment? Oder gar eine Wette? Hatte jemand – Sheryl vielleicht – ihn dafür bezahlt, dass er die dumme kleine Agentur-Jungfer umgarnte? Für einen Lacher auf ihre Kosten? Oder vielleicht hatte Ginny Recht, und sie hatte doch etwas mit Audrey gemeinsam: die einseitige Verliebtheit in einen Mann, der zu höflich war, klare Grenzen zu setzen.

Wie die Antwort auch lauten mochte, eins stand fest: Es war aus. Das mit ihr und John war vorbei. Wenn Audrey ihn haben wollte, dann bitte schön.

Aber das hieß auch, dass sie einer weiteren unvermeidlichen Tatsache ins Auge sehen musste: dass das mit John vorbei war, stimmte sie todtraurig. Und besonders nagte an ihr, dass sie es selbst zu verantworten hatte. Sie hatte sich das alles selbst zuzuschreiben, weil ihre zuckerüberzogene Kleinmädchenfantasie mit ihr durchgegangen war, schimpfte sie mit sich selbst, während der Abspann über den Bildschirm flimmerte. Ginny hatte ihr gesagt, es sei dumm und naiv zu glauben, der Prinz auf dem weißen Ross wäre die Lösung all ihrer Probleme. Sie sollte endlich aufhören zu träumen, nicht immer mit dem Kopf in den Wolken herumlaufen und sich der harten Wirklichkeit stellen. Welche erwachsene Frau glaubte denn bitte schön noch an ein Happy End? Dafür war im wahren Leben kein Platz, Ginny hatte sie gewarnt: Wenn Alice einen Frosch küsste, könnte sich womöglich herausstellen, dass er nichts weiter war als das: ein Frosch. Tja, nun hatte sie den Frosch geküsst und hoffentlich ihre Lektion gelernt. Von jetzt an würde sie, Alice Brown, das Leben ganz pragmatisch angehen. Dieses ganze Liebesgetue war für die anderen bestimmt – ihre Klienten –, aber nicht für sie. Denn sie hatte damit offenbar überhaupt kein Glück.

Alice hob den Kopf und versuchte, trotzig das Kinn zu recken, wie sie es so oft bei ihrer Chefin gesehen hatte. Sie musste sich unbedingt ein dickeres Fell zulegen. Vielleicht hatte Sheryl ja doch Recht, und die Liebe war nichts weiter als ein Geschäft. Und sie war nicht mehr als eine Geschäftsfrau. Liebe war nichts, womit man sich in seiner Freizeit beschäftigte, am Abend und am Wochenende. Wenn sie doch nur so denken könnte wie Sheryl, dann wäre alles okay. John, ihr gebrochenes Herz und ihre geplatzten Träume wären unwichtig. Das Leben ginge weiter, und in ein paar Wochen wäre sie wieder ganz die Alte. Schließlich war vorher auch alles okay gewesen – vor dem Ball und den Blumen und dem Kaffee. Sie hatte ihre Freunde, ihren Job und ihren Garten. Mehr brauchte sie nicht. Das Leben wäre wieder ruhig und ereignislos … und sicher. Wobei sie zu verdrängen versuchte, dass die strahlende, leuchtend bunte Welt, die John ihr eröffnet hatte, plötzlich wieder grau und fade geworden war.

Nach einem ganzen Wochenende unerbittlicher Selbstgeißelung war es eine regelrechte Erleichterung gewesen, wieder ins Büro zu gehen. Doch nun saß sie da – umgeben von so viel Hoffnung und Romantik –, und plötzlich erschien ihr die Arbeit nicht mehr wie eine willkommene Ablenkung.

Dann schneite auch noch Maurice Lazenby persönlich ohne Vorankündigung herein.

Obwohl es draußen mild war, hatte sich Maurice dick eingepackt. Er hatte seinen Mantel bis oben hin zugeknöpft und den Schal ordentlich um den Hals geschlungen, als hätte seine Mutter ihm beim Anziehen geholfen. Unter dem tadellos gekämmten Haar und dem weiß schimmernden Mittelscheitel war sein Gesicht ebenso frostig, wie sein Aufzug es von den Temperaturen vermuten ließ.

»Miss Brown«, klagte er, »ich habe meine Vorbehalte beiseitegeschoben und bin zu den drei Verabredungen gegangen, die Sie für mich arrangiert haben. Ich habe mich mit dieser abgerissenen Künstlerin getroffen, die aussah, als sei sie gerade aus dem Bett gefallen. Und mit der ungehobelten Taxifahrerin, die mir eine Unterhaltung über Sport aufnötigen wollte. Die Schulleiterin war ganz passabel, aber auch nicht das, was ich eigentlich suche. Sie haben also auf ganzer Linie versagt.«

Ohnehin schon ziemlich angeschlagen, war dieser Vorwurf ein Schock für Alice. Sie war sich ganz sicher gewesen, mit ihren Vorschlägen für Maurice ins Schwarze zu treffen – aber offensichtlich ließ ihr Urteilsvermögen sie in mehr als nur einer Hinsicht im Stich. Eigentlich hielt sie große Stücke auf ihre Menschenkenntnis, doch langsam musste sie wohl oder übel einsehen, dass sie offenbar überhaupt keine Ahnung davon hatte, das wahre Ich eines Menschen richtig einzuschätzen.

»Ich weiß wirklich nicht, was ich sagen soll. Ihnen hat tatsächlich keine der drei gefallen?«

»Nein.«

»Aber waren sie nicht ganz anders als die Frauen, die Sie bisher kennengelernt haben? Individueller, einzigartiger?«

»Nun ja, das schon. Aber trotzdem waren es nicht die Richtigen, und darum geht es schließlich.«

»Selbstverständlich. Ich dachte nur … Ich war mir so sicher … Es ist bloß so, es …«

»Falsch! Schon wieder!«

»… tut mir so leid«, vollendete Alice kaum hörbar ihren Satz und schaute ihn verzweifelt an.

»Hören Sie«, lenkte Maurice ein, »Sie scheinen mir ein wirklich nettes Mädchen zu sein, und ich erkenne durchaus an, dass Sie sich wesentlich mehr Gedanken gemacht haben als alle anderen vor Ihnen.« Mit kritischem Blick schaute er sich im Büro um. »Aber dennoch ist es doch so: Es ist Ihnen nicht gelungen, die Frau zu finden, die ich suche, also lassen Sie mir keine andere Wahl.«

»Ach, Maurice …«

»Ich muss wirklich darauf bestehen, dass Ms Cracknell sich meiner persönlich annimmt. Sie ist die Expertin. Ich hoffe, mit ihrer Hilfe mehr Erfolg zu haben.«

»Aber ich bitte Sie …«

»Nein, wirklich, Miss Brown. Ohne Wenn und Aber. Aha, wie ich sehe, ist Ms Cracknell in ihrem Büro. Tja, wenn das so ist, dann wollen wir keine weitere Zeit verschwenden …«

Alice’ armes, geschundenes Herz rutschte ihr noch tiefer in die Kniekehlen. Audrey konnte Störungen selbst unter normalen Umständen nicht ausstehen. Doch nun schlug ihre gewohnte verärgerte Grundstimmung regelrecht in übellaunige Alarmbereitschaft um, kaum dass sie sah, wie Maurice in ihr Büro marschierte. Sie bedachte Alice durch die Glaswand mit einem mörderischen Blick. Dann jedoch riss sie sich zusammen, um die Contenance zu wahren, und Alice hörte sie zirpen: »Maurice! Wie entzückend, Sie zu sehen!« – und das in einem wirklich überzeugenden Tonfall. Der Besucher schloss die Glastür hinter sich.

Alice senkte den Kopf und beobachtete die beiden unter ihren Wimpern hervor. Das war eine Katastrophe. Ja, ihr ganzes Leben war eine einzige Katastrophe. Alles, was sie je geglaubt hatte, war falsch gewesen, und nun beschwerte sich Maurice auch noch bei Audrey und ließ seinen ganzen Ärger an ihr aus. Unter anderen Umständen hätte sie sich vielleicht insgeheim ein bisschen amüsiert bei dem Gedanken, dass Audrey einen dicken Rüffel einstecken musste – noch nie zuvor hatte sie es erlebt, dass Audrey nicht mal ansatzweise zu Wort kam. Aber die Lage war ernst. Sehr ernst. Audrey mochte zwar die Gardinenpredigt über sich ergehen lassen, kaum aber dass Maurice aus dem Büro war, würde sie ihren Ärger an Alice auslassen. Und sie würde stinksauer darüber sein, dass sie derart zusammengestaucht worden war. Alice wusste nicht, ob sie – ausgerechnet heute – stark genug wäre, eine Standpauke zu ertragen.

Mit zittrigen Händen schrieb sie Ginny eine SMS.

Wieder da? Muss unbedingt mit dir reden …

In dem Moment flog Audreys Glastür auf.

Alice setzte sich binnen Sekunden kerzengerade hin, zwang sich, ein strahlendes, professionelles Lächeln aufzusetzen, und versuchte, das flaue Gefühl im Magen zu ignorieren.