Alice
Wissen Sie, es ist genau, wie Sie bei unserem ersten Treffen gesagt haben«, erklärte Kate grinsend am Tisch des kleinen Cafés. »Man muss aufgeschlossen sein. Das Leben ist wirklich viel spannender, wenn man sich überraschen lässt!«
Mit leuchtenden Augen pickte sie die letzten Reste des Schokoladenkuchens mit der Gabel auf.
»Dann gehe ich mal davon aus, dass ich vorerst keine weiteren Verabredungen für Sie arrangieren soll?«, erkundigte sich Alice lächelnd.
»Nein, herzlichen Dank!«, gab Kate strahlend zurück. »Ich möchte erst mal sehen, wie sich die Dinge mit Tommy weiter entwickeln. Ich weiß, er entspricht überhaupt nicht meinen blöden Suchkriterien, aber mit ihm haben Sie wirklich ins Schwarze getroffen!«
»Das hört man gerne«, entgegnete Alice und musste sich zusammenreißen, um nicht vor Freude aufzuspringen, herumzutanzen und das ganze Café zu umarmen. Es gab doch nichts Schöneres als eine erfolgreiche Vermittlung. »Manchmal ist es ganz gut, ein kleines Wagnis einzugehen, nicht wahr?«
Worauf Kate nur heftig nickte.
»Aber denken Sie daran: Kein Wort zu meinen Kollegen von Table For Two.« Alice versuchte, diese Ermahnung sehr ernsthaft auszusprechen, aber es war schwer, ein strenges Gesicht zu machen, wenn man grinste wie ein Honigkuchenpferd.
Ein paar Stunden später, als sie bei Kerzenschein mit John in einem romantischen Restaurant saß, strahlte Alice vor Glück immer noch über das ganze Gesicht.
Es war ein wunderbarer Abend gewesen. Noch nie hatte Alice jemanden kennengelernt, bei dem sie sich so begehrenswert fühlte wie bei John und gleichzeitig so wohl und entspannt. Sie hatte das Gefühl, alles sagen, alles essen – und alles anziehen zu dürfen, von ihrer ausgebeultesten Strickjacke bis zu ihren abgewetztesten Gartenklamotten. Dennoch wollte sie für John hübsch aussehen, ein Kleid anziehen und Lippenstift benutzen. Bei ihm fühlte sie sich wie eine Frau. Dabei hatten sie noch nicht einmal miteinander geschlafen!
Immer, wenn Alice daran dachte, mit ihm ins Bett zu gehen, wurde ihr ganz schummerig vor Aufregung. Sex war für sie, zumindest soweit sie sich daran erinnern konnte, immer ein notwendiges Übel gewesen, frei nach dem Motto »Augen zu und durch«. Sie hatte nie so recht gewusst, was sie da eigentlich tat, weshalb sie sich immer zurückgehalten und dem Mann die Führung überlassen hatte. Aber bei John konnte sie es gar nicht erwarten, um danach in seinen Armen einzuschlafen und morgens beim Aufwachen als Erstes diese Augen und dieses Lächeln zu sehen. Hoffentlich würde es bald passieren; womöglich schon heute Nacht!
»Du hast es geschafft«, sagte er mit warmer Stimme, griff auf dem Tisch nach ihrer Hand und schob seine Finger zwischen ihre. »Du hast den perfekten Mann für die ehrgeizige Karrierefrau gefunden.«
»Noch ist es ein bisschen zu früh, um das zu sagen, aber ich glaube, du hast Recht.« Sie konnte einfach nicht aufhören zu lächeln. »Jedenfalls hatte sie diesen Blick. Sie sah aus wie eine Frau, die gerade dabei ist, sich zu verlieben.«
»Und das alles nur, weil du ein Wagnis eingegangen bist«, erklärte John nachdrücklich.
Alice schaute ihm in die Augen. Sie hatten die Farbe von Vergissmeinnicht, wie ihr jetzt aufging. Wie wunderbar, dass er das, was sie am anziehendsten an ihm fand, mit einer der hübschesten, unkompliziertesten Blumen der Welt teilte.
»Aber es war nicht nur das, oder?«, fuhr er fort und drückte ganz leicht ihre Hand. »Es lag auch daran, dass du ihr klargemacht hast, wie wichtig es ist, aufgeschlossener zu sein und anderen Menschen eine Chance zu geben.«
Er beugte sich vor und schaute sie ernst an. Alice spürte, wie sie förmlich unter seinem Blick schmolz, wie Eiscreme, die auf warmem Apfelstrudel zerfließt. Fühlt es sich so an?, fragte sie sich. Fühlt es sich so an, sich zu verlieben? Was es auch war, es gefiel ihr ausgesprochen gut. Besser als alles andere, was sie je erlebt hatte.
»So wie du das sagst, klingt es, als sei ich ungeheuer klug und gewitzt, aber das bin ich gar nicht«, versuchte sie, sein Lob mit einem Achselzucken abzutun. »Ich glaube nur, wir alle haben eine Idealvorstellung davon, wie unser perfekter Partner sein muss. Aber das ist falsch. Den perfekten Partner gibt es in allen Größen und Formen.«
»Man muss offen sein und sich überraschen lassen.«
»Ganz genau!«
Sie fühlte, wie er seine Hand wegzog. Plötzlich schien er nervös zu werden. Er griff zum Dessertlöffel und spielte nachdenklich damit herum.
»John, alles in Ordnung?«, fragte sie zaghaft.
»Ja, ja«, versicherte er, aber sein Gesicht verriet etwas anderes. »Hör zu«, sagte er unvermittelt. »Ich weiß, wir kennen uns noch nicht besonders lange … Aber du weißt hoffentlich, wie sehr ich dich mag.«
Alice bemühte sich um ein Lächeln, wurde aber plötzlich ebenfalls ganz unruhig.
»Ich sehe für uns beide eine Zukunft, wirklich.« Seine vergissmeinnichtblauen Augen suchten ihre. »Ich hatte schon sehr lange keine Beziehung mehr, und jetzt, wo ich dich endlich gefunden habe, möchte ich dich nicht wieder verlieren.«
Alice gefror das Lächeln auf den Lippen. Warum sollte er sie denn verlieren? Was war los?
John seufzte tief. »Es gibt da etwas, das ich dir sagen muss. Du sollst die Wahrheit erfahren, damit wir es hinter uns lassen und nach vorne schauen können … zusammen.«
»Ach du lieber Himmel, du bist doch verheiratet«, platzte Alice panisch heraus.
»Nein.«
»Dann geht es um Audrey. Du hast doch eine Beziehung mit ihr.«
Ihr wurde schlecht.
»Sozusagen«, entgegnete John zögerlich. »Darüber muss ich mit dir reden.«
Etwas Hartes, Kaltes klumpte plötzlich in Alice’ Magen zusammen. Sie hätte sich doch denken können, dass das alles zu schön war, um wahr zu sein. John war zu gut für sie. Frauen wie sie kamen nicht mit Männern wie ihm zusammen.
»Es ist kompliziert«, gestand er.
Stumm starrte er auf den Tisch und schien nicht zu wissen, was er sagen sollte.
»Dann seid ihr beiden, du und Audrey, also doch mehr als nur Freunde?«, hörte Alice sich fragen. Doch eigentlich wollte sie seine Antwort gar nicht hören.
Eine lange Pause entstand.
»Audrey und ich haben eine … Geschäftsbeziehung«, erklärte John leise.
»Was?« Vor lauter Staunen vergaß Alice ihre Nervosität. »Heißt das, du arbeitest auch in der Vermittlungsbranche?«
»Ich arbeite in einer … benachbarten Branche.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Bitte, Alice. Bitte ziehe jetzt keine voreiligen Schlüsse.«
Flehentlich sah er sie an, und sie nickte stumm.
»Audrey und ich haben eine Geschäftsbeziehung … bei der ich sie … zu gewissen gesellschaftlichen Anlässen begleite.«
Er schaute sie an, ob sie verstand, was er damit sagen wollte. Hilflos erwiderte sie seinen Blick.
»Wie an dem Abend, als wir uns kennengelernt haben. Ich war nicht dort, weil ich mit Audrey befreundet bin. Ich war beruflich dort.«
»Wie meinst du das, beruflich? Hast du irgendwas mit dem BdP zu tun?«
»Nein. Frauen – Frauen wie Audrey – können mich engagieren, um sie zu gesellschaftlichen Anlässen zu begleiten. Als Ersatzpartner.«
Immer noch schaute sie ihn verständnislos an. John schickte den Kellner weg, der zwischenzeitlich an den Tisch gekommen war, und nahm ihre Hand wieder in seine.
»Alleinstehende Frauen«, erklärte er sanft. »Normalerweise begleite ich sie zu Veranstaltungen, um die sie nicht herumkommen, wie Unternehmensfeiern oder Hochzeiten; Anlässe, zu denen sie einfach hingehen müssen und wo es ihnen peinlich ist, allein hinzugehen. Viele Frauen möchten vor Freunden und Kollegen nicht preisgeben, dass sie Singles sind. Also engagieren sie mich als Begleitung.«
Wieder entstand eine längere Pause.
»Das verstehe ich nicht.« Alice’ Stimme klang dünn, sie war fast ein Flüstern.
John drückte ihre Hand noch fester.
»Alice, diese Frauen zu Veranstaltungen zu begleiten, nun ja, das ist mein Job. Ich bin ihr bezahlter Begleiter.«
»Bezahlter Begleiter?«, wiederholte sie hohl. Ihr Verstand raste in einem verzweifelten Versuch, der Wahrheit näherzukommen, während ihr Herz ihn anflehte, anzuhalten und es gar nicht erst zu versuchen.
»Ja. Sie buchen mich über meine Agentin, und ich begleite sie dann, wo immer sie hingehen.«
Ihr Blick ging zu seiner Hand, die ihre festhielt.
»Alice, ich arbeite bei einem …« Er holte tief Luft. »Einem professionellen Escort-Service.«
Es wurde still. Die Worte trafen Alice tief. Langsam begann sich ihr die Bedeutung dessen zu erschließen, was er da gesagt hatte. Ein kaltes, alles betäubendes Gefühl kroch in ihren Körper und lähmte sie.
»Diese Frauen bezahlen dich also für deine Gesellschaft?« Ihre Stimme klang angespannt und fremd.
»Ja.«
»Und du tust, was sie von dir verlangen.«
»Na ja, nicht alles. Sie bezahlen für meine Begleitung, weiter nichts.«
»Aber du gibst dich als ihr Freund aus? Und für die Nacht gehörst du ihnen?«
»So könnte man das wohl sagen.«
»Und das machst du beruflich? Du lässt dich dafür bezahlen, mit Frauen auszugehen?«
»Ja.«
»Und Audrey begleitest du auch? Das steckt also hinter eurer ›besonderen Beziehung‹? Du gibst dich als ihr Ehemann aus, und sie bezahlt dich dafür?«
Er nickte stumm mit gesenktem Kopf.
Ganz sanft entzog Alice ihm ihre Hand.
»Alice, bitte … Lass es mich doch erklären. Es ist nicht halb so schlimm, wie es sich anhört.«
»Ich bin nicht dumm«, sagte sie leise mit zitternder Stimme. »Vielleicht bin ich ein leichtes Opfer für Scherze, weil ich Single bin, gerne gärtnere und mich nicht nach der neuesten Mode richte. Aber ich bin nicht blöd. Ich weiß, was das bedeutet.«
»Aber es bedeutet nicht das, was du denkst!« John wollte wieder ihre Hand nehmen.
»Ich lebe auch in der echten Welt da draußen, weißt du.«
»Natürlich, das weiß ich. Aber ich schwöre dir, Hand aufs Herz, ich begleite die Frauen, mehr nicht.«
Alice rang um Atem und wich zurück, damit John sie nicht anfasste. Sie fürchtete, wenn er sie berührte, würde sie zusammenbrechen, und das durfte sie auf keinen Fall zulassen. Denn wie sie so mitten in diesem verwirrenden, schrecklichen Trümmerfeld eines romantischen Abends stand, war ihr eins ganz klar: Sie durfte auf gar keinen Fall weinen. Und ihm nicht in die Augen sehen. Sogar das Atmen fiel ihr schwer. »Ich muss nach Hause …«, presste sie schließlich mühsam hervor, »… und in Ruhe nachdenken.«
»Ja, natürlich«, entgegnete John widerstrebend. »Aber bitte, denk nicht zu viel darüber nach. Es ist nicht das, was du glaubst. Ich bin immer noch derselbe Mensch.«
Alice stand auf.
»Denk dran, wie wichtig es ist, aufgeschlossen zu sein«, flehte er sie an. »Wie du es deinen Klienten immer sagst. Bitte, Alice! Beherzige deinen eigenen Rat.«
Alice drehte sich um und ging zur Tür.