Alice
Vom anderen Ende der Leitung kam nur ein missmutiges Seufzen.
»Ich finde es sinnlos, alles im Nachhinein zu sezieren«, moserte Maurice. »Entweder es hat gefunkt oder nicht, und diesmal hat es – wie all die anderen Male auch – überhaupt nicht gefunkt.«
Langsam wurde er wütend.
»Und selbst wenn ich Ihre albernen Fragen beantworte, Sie bringen mich ja doch wieder nur mit demselben Typ Frau zusammen; das tun Sie doch immer. Haben Sie eigentlich keinen Funken Fantasie? Ich bin zu Table For Two gekommen, weil ich unterschiedliche Frauen kennenlernen möchte – nicht die immergleichen todlangweiligen, platinblonden Scheidungswitwen.«
Alice klappte den Mund auf, um etwas zu erwidern. Normalerweise waren die Klienten mit ihrer Arbeit sehr zufrieden, weshalb sie nicht so recht wusste, wie sie damit umgehen sollte, wenn einer von ihnen es ausnahmsweise nicht war; und Maurice war ganz offensichtlich alles andere als zufrieden. Sämtliche Mitarbeiterinnen von Table For Two hatten sich im Laufe der Zeit bereits seiner angenommen, und jede hatte ihn schließlich entnervt an die nächste weitergereicht. Seine Schimpftiraden waren legendär. Audrey, die sonst eigentlich keine Auseinandersetzung scheute, hatte ihn nur aus einem Grund noch nicht aus ihrer Kartei gestrichen: Er war einer der raren männlichen Klienten. Außerdem hatte Alice versprochen, sich ab jetzt um ihn zu kümmern. Und die konnte den Gedanken nicht ertragen, dass Table For Two ihn einfach fallen ließ wie eine heiße Kartoffel. Jeder Mensch hatte es verdient, die große Liebe zu finden – selbst ein Stinkstiefel wie Maurice.
»Dann«, versuchte sie vorsichtig zusammenzufassen, »suchen Sie also eine außergewöhnliche Frau … mit einer starken Meinung oder einem ungewöhnlichen Hobby … jemand, der keine Auseinandersetzungen scheut?«
»Tja, dann hätte ich zumindest das Gefühl, die exorbitanten Beiträge, die ich in den vergangenen vier Jahren bezahlt habe, nicht einfach zum Fenster hinausgeworfen zu haben!«
»Entschuldigen Sie die vielen Fragen, aber ich habe Sie gerade erst übernommen, und ich möchte ganz sichergehen, dass ich verstehe, was für eine Partnerin Sie eigentlich suchen.«
»Das mag ja sein, aber ich habe es mittlerweile schon so vielen Ihrer Kolleginnen erzählt, dass ich mir langsam vorkomme wie ein Papagei. Können Sie denn nicht mit denen reden? Ein bisschen bürointerne Kommunikation vielleicht?«
Es schien nicht unbedingt ein aussichtsreiches Unterfangen, ihm erklären zu wollen, dass es sicher nicht besonders sinnvoll wäre, sich von Kolleginnen Informationen geben zu lassen, die allesamt grandios daran gescheitert waren, die richtige Frau für ihn zu finden.
»Ich verstehe nicht, warum Ms Cracknell sich nicht persönlich um mich kümmert«, lamentierte Maurice. »Wenn ihre Angestellten nicht in der Lage sind, eine passende Frau für mich zu finden, dann sollte sie das selbst übernehmen.«
»Das würde sie auch nur zu gerne«, entgegnete Alice taktvoll. »Aber Audreys Kartei ist derzeit leider voll.«
»Na, einen Maurice verpasst bekommen?«, fragte Hilary mitfühlend, als Alice endlich den Hörer auflegte.
Sie nickte matt. Nach diesem anstrengenden Gespräch war ihr Mund staubtrocken. Rasch trank sie ein Schlückchen Wasser und suchte in der Jackentasche nach ihrem Lippenbalsam. Der lag gut geschützt in einer warmen, gemütlichen Kuhle: mitten in Johns Taschentuch. Als Alice mit den Fingern darüberstrich, kribbelte plötzlich ihr ganzer Körper.
Nachdem sie vom Gartencenter nach Hause gekommen war, hatte sie sich gefragt, ob sie möglicherweise völlig überreagiert hatte. Schließlich hatte er sie bloß zu einem Kaffee einladen wollen und nicht zu einem lasterhaften Lustwochenende in Amsterdam. Und vermutlich hatte er tatsächlich mit ihr über Blumen und Pflanzen fachsimpeln wollen: Man lernte eben nicht alle Tage einen Gärtnerkollegen kennen. Davon abgesehen war er ein glücklich verheirateter Mann!
Nein, je länger Alice darüber nachdachte, desto sicherer war sie sich, dass sie das alles völlig falsch verstanden hatte. Was musste er sich bloß gedacht haben, als sie Hals über Kopf abgerauscht war? Schon wieder! Allein beim Gedanken daran schämte sie sich in Grund und Boden.
Alice schüttelte den Kopf. Sie musste sich darauf konzentrieren, eine Frau – die richtige Frau – für Maurice zu finden. Also machte sie es sich gemütlich, schaute zum Fenster hinaus und ließ die Gedanken schweifen …
Als Alice wieder in die reale Welt zurückgekehrt war, hatte sie mehrere Namen auf ihren Notizblock gekritzelt: Felicity Dingle, Abigail Brookes und Rita Harrington.
Felicity war Taxifahrerin, ausgesprochen temperamentvoll und hatte rabenschwarze Haare. Ihr Beruf ließ ihr wenig Freizeit, darum hatte sie kaum Gelegenheit, Männer kennenzulernen. Dafür konnte sie zu beinahe jedem nur erdenklichen Thema etwas Sinnvolles beitragen, sei es nun Sport, Politik oder Astronomie. Alice war sich ganz sicher, hätte sie abends mehr Zeit auszugehen, dann hätte sich binnen einer Woche ein glücklicher Verehrer dieses Juwel geschnappt.
Abigail war Künstlerin und eher unkonventionell. Alice hatte sie immer für ihren etwas zerzausten, lässigen Look bewundert. Sie war zwar platinblond, ließ den Ansatz aber absichtlich ungefärbt. Abigail war eine ironische Blondine mit einer starken eigenen Meinung.
Rita war Schulleiterin und früher einmal die Vorsitzende des Debattierklubs ihrer Universität gewesen. Wenn Rita es nicht schaffte, mit einer beherzt vorgetragenen intellektuellen Anekdote Staub und Spinnweben wegzupusten, dann schaffte das niemand. Die würde Maurice sicher auf Trab bringen.
Keine der drei war geschieden, und keine von ihnen konnte man als fade bezeichnen.
Alice griff schon zum Telefon, um Maurice anzurufen, doch dann hielt sie plötzlich inne, weil sie aus den Augenwinkeln etwas sah. Ein übergroßes Blumenarrangement kam zur Tür hereinspaziert. Jetzt, wo Alice wusste, wie sehr John seinen Garten liebte, verstand sie auch, warum er seiner Frau ständig Blumen schickte. Aber irgendwas stimmte nicht mit der heutigen Lieferung. Statt der sonst üblichen Rosen und Lilien war es ein exotisches Büschel Paradiesvogelblumen. Es wirkte ungebändigt und strotzte nur so vor Farbenpracht und Lebenslust. Diese Blumen konnte nur jemand ausgewählt haben, der wirklich etwas von Pflanzen verstand. Alice wollte schon aufstehen und den Strauß ganz aus der Nähe bewundern, als sie stutzig wurde. Seltsamerweise schien sich der Bote damit in ihre Richtung zu bewegen. Jeder Schritt der Beine, die unter dem enormen Bouquet hervorlugten, brachte die Blütenpracht näher an ihren Schreibtisch.
»Alice Brown?«, fragten die Beine.
Alice nickte stumm.
»Die sind für Sie.«
»Danke.« Alice war völlig verdattert, doch der Bote drückte ihr ungerührt die Blumen in die Hand.
»Heiliges Kanonenrohr! Von wem sind die denn?« Hilary knallte den Hörer auf und wackelte, so schnell sie es mit ihrem dicken schwangeren Bauch schaffte, zu ihr.
Da merkte Alice plötzlich, wie Audrey sie aus ihrem Büro ganz genau beobachtete. Wie betäubt griff sie nach der Karte.
Liebe Alice – las sie.
Von einem Pflanzenfreund zum anderen, mit den allergrünsten Absichten. Bitte überlegen Sie sich das mit dem Kaffee noch mal.
Darunter keine Unterschrift, nur eine E-Mail-Adresse.
»Ein geheimer Verehrer!«, kreischte Hilary ganz aufgeregt, als sie über Alice’ Schulter auf die Karte gelinst hatte.
Audrey beobachtete sie mit Argusaugen. Geflissentlich vermied Alice, sie anzuschauen. Die Blumen waren ganz eindeutig von John. Was, wenn ihre Chefin etwas ahnte? Sie war auch so schon Furcht einflößend genug, ohne dass man ihr einen Grund gab, wütend zu sein.
»Und du weißt nicht, von wem die sein könnten?«, wollte Hilary wissen.
Alice gab sich große Mühe, ganz unbeteiligt zu tun.
»Doch. Von einem Freund, der mich auf den Arm nehmen will.«
Und damit legte sie die Blumen neben ihren Schreibtisch auf den Boden, setzte sich und tat, als sei sie ganz in ihre Arbeit vertieft. Enttäuscht kehrten die anderen Mädels an ihre Plätze zurück. Alles ging wieder seinen gewohnten Gang, und endlich spürte Alice, wie auch Audrey sich abwandte und die Last ihres Blickes von ihren Schultern wich. Insgeheim jedoch schlug ihr das Herz bis zum Hals. John hatte ihr Blumen geschickt! Er hielt sie nicht für eine dumme Ziege, weil sie im Gartencenter vor ihm weggelaufen war. Oder beim Ball in sein Taschentuch geschnieft hatte. Es war ihm egal, dass Sheryl sie niedergemacht hatte, weil ausgerechnet sie als Partnervermittlerin keinen Freund hatte, und dass sie vergessen hatte, sich die Zähne zu putzen, ehe sie ins Gartencenter gefahren war.
John wollte sich mit ihr treffen!
Alice zwang sich, ganz tief durchzuatmen. Sie musste unbedingt die Erinnerung an seine lächelnden Augen und die sonnengebräunte Haut aus ihrem Gedächtnis streichen. Sie musste vernünftig sein.
Nicht John wollte einen Kaffee mit ihr trinken; John Cracknell wollte einen Kaffee mit ihr trinken, Audreys Ehemann – und das war etwas ganz anderes. Entweder war er ein verheirateter Mann, der eine heiße Affäre anfangen wollte, oder er war ein verheirateter Mann, der eine unschuldige Freundschaft mit einem Gärtnerkollegen anfangen wollte, um Bewässerungstechniken für Topfpflanzen zu diskutieren oder wie man Nacktschnecken am besten loswurde. So oder so kein Grund, völlig aus dem Häuschen zu geraten.
Wie gerne hätte Alice sich die Karte noch einmal angeschaut, doch sie wagte es nicht, aus Angst, jemand könne sie beobachten. Also versuchte sie, sich ihren genauen Wortlaut ins Gedächtnis zu rufen und seine Bedeutung zu dechiffrieren. Er hatte geschrieben, er habe die allergrünsten Absichten, aber was genau meinte er damit? Es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden.
Nur, wie um alles auf der Welt sollte sie Audrey erklären, dass sie ein Rendezvous mit ihrem Ehemann plante …?
Oder vielleicht wusste Audrey ja längst davon? Vielleicht hatten sie und John sich am Sonntag beim Mittagessen totgelacht über die Vorstellung, wie Alice kopflos die Flucht ergriffen hatte, weil die Aussicht auf ein koffeinhaltiges Heißgetränk sie in Angst und Schrecken versetzt hatte. Vielleicht hatte Audrey sie deshalb so eigenartig gemustert, als der Blumenstrauß geliefert worden war.
Alice bekam langsam Kopfschmerzen. Und die Zeit lief ihr davon. Sie musste unbedingt noch heute mit Maurice über ihre neuen Vorschläge sprechen. Und dann wartete die übliche Montagmorgentelefonrunde auf sie, um bei ihren Klienten nachzufragen, wie die von ihr arrangierten Verabredungen am Wochenende verlaufen waren. Keine Zeit für Tagträumereien.
Entschlossen griff Alice zum Telefon und wählte Maurice’ Nummer. Sie hatte sich entschieden. Es war nur höflich, sich für ein Geschenk zu bedanken, also würde sie John eine kurze E-Mail schicken. Den Kaffee würde sie dabei nicht erwähnen, aber die automatisch angehängte Signatur, in der ihre Mobilnummer angegeben war, würde sie nicht entfernen. Wenn John sie daraufhin anrief, war das nicht ihre Schuld. Es war alles ganz unschuldig und anständig: durch und durch grün, wenn man so wollte! Außerdem hatte sie noch nie einen gärtnernden Freund gehabt; vielleicht hatte er einen guten Tipp für sie, wie sie ihre Geranien vor den Blattläusen retten konnte.
Maurice’ Telefon klingelte, und er meldete sich. Heute klang er schon viel gefasster. Alice legte gleich los und erklärte ihm ganz souverän und überzeugend, wen sie für ihn ausgesucht hatte.