Audrey
Es schien mal wieder einer dieser Tage zu sein. Am Morgen hatte Audrey ihren Wecker überhört und verschlafen. Wie das passiert war, konnte sie sich beim besten Willen nicht erklären; schließlich brüstete sie sich doch immer damit, eine Frühaufsteherin zu sein. Sie hatte sich in fliegender Hast angezogen, und erst als sie zur Haustür hinauswieselte, war ihr aufgefallen, dass ihre Strumpfhose eine Laufmasche hatte. Überstürzt war sie ins Haus zurückgelaufen und hatte es letztendlich gerade noch rechtzeitig ins Büro geschafft, von der ganzen Hektik aber eine Magenverstimmung bekommen, die selbst nach drei Tassen Kamillentee noch nicht besser geworden war.
Die Krönung des Ganzen war, dass sie auch noch das Pech gehabt hatte, Maurice Lazenby am Telefon zu haben, seines Zeichens der älteste Klient von Table For Two und ein Meckerfritze ersten Ranges. Wie jeder Chef einer Dating-Agentur weiß, sind männliche Klienten Mangelware, weswegen man divenhaftes Benehmen und ständige Beschwerden mit zusammengebissenen Zähnen und gezwungenem Lächeln stillschweigend erdulden muss. Die Männer müssen unter allen Umständen bei der Stange gehalten werden. Würden die weiblichen Klienten jemals dahinterkommen, wie ungleich das Verhältnis zwischen Männern und Frauen in Dating-Agenturen tatsächlich ist, dann, dessen war sich Audrey sicher, würden sie sich gar nicht erst anmelden. Also zwang sie sich, tief durchzuatmen und ihn mit Samthandschuhen anzufassen, wie es seit vielen Jahren für sie Routine war.
»Nun, Maurice«, erklärte sie, als er während seiner Gardinenpredigt kurz Luft holte, »die anderen Frauen, denen wir Ihr Profil gezeigt haben, hatten kein Interesse, Sie kennenzulernen. Sie waren nicht ihr Typ.«
»Wie meinen Sie das?«, fragte Maurice gereizt.
Audrey seufzte. Genau genommen war Maurice Alice’ Klient, und diese hätte seine hochfliegenden Erwartungen längst zurechtstutzen müssen.
»Frauen mögen sportliche Männer, Spitzenverdiener; Männer, die tier- und kinderlieb sind und angesagte, gefährliche Hobbys ausüben, mit Fallschirmen und Flugzeugen und Gummiseilen. Sie wollen Männer, die sie spontan zum Ballett entführen …«
Audrey konnte hören, wie Maurice schon wieder Luft holte, um zu widersprechen.
»… nach Paris«, fügte sie schwer atmend hinzu. »Nun, Maurice, irgendwann werden Sie mir dankbar sein, dass ich Ihnen das gesagt habe, denn ich schmiere Ihnen keinen Honig ums Maul. Sie müssen Ihre Ansprüche zurückschrauben. Also, möchten Sie wirklich nicht, dass Alice noch eine Verabredung mit Hayley für Sie arrangiert? Die Tierarzthelferin mit dem krummen Finger. Die wäre sicher für eine weitere Verabredung zu haben.«
Schließlich hatte Audrey Maurice vollkommen erschöpft an Alice weitergereicht, damit die ihn besänftigte. Er wusste, dass er ohnehin mit ihr über seine Dates sprechen musste, also wusste der Himmel, warum er jedes Mal zuerst die Chefin mit seiner Jammerei belästigte.
Um elf hatte Audrey sich dann in ihr verglastes Büro geflüchtet und dort verschanzt. Sie ließ die Tür einen Spaltbreit offen – damit sie ihre Angestellten besser belauschen konnte – und tat, als sei sie am Computer beschäftigt.
»Anruf für Sie, Audrey«, trompetete Hilary quer durchs Büro. »Sheryl Toogood auf Leitung drei.«
»Du liebe Güte, was will die denn jetzt?«, knurrte Audrey, während ihr kleiner friedlicher Moment der Ruhe schon wieder vorbei war. Rasch schloss sie die Bürotür. Mit Sheryl Toogood zu reden war schon unangenehm genug, da brauchten ihre Angestellten nicht auch noch jedes Wort mitzuhören.
»Guten Mooooorrrgen, Audrey«, flötete Sheryl. Niemand konnte Vokale derart auswalzen wie sie. Audrey konnte sich genau vorstellen, wie sie in ihrem Büro saß, aufgerüscht bis zum Geht-nicht-mehr, mit ihrer falschen, aufgesetzt freundlichen Art und dem viel zu tiefen Dekolleté.
»Sheryl«, entgegnete sie spitzzüngig mit zusammengebissenen Zähnen.
»Wie geeeeeht es dir? Wie läuft das Geschäft?«
»Blendend«, beeilte Audrey sich zu antworten, hocherfreut angesichts der unerwarteten Gelegenheit, ein bisschen mit ihren Erfolgen zu prahlen. »Wir haben gerade erfahren, dass wir mal wieder eine Ehe gestiftet haben.«
»Oh, gut gemacht! Ich weiß doch, wie gerne du dein Hütchen abstaubst und ein bisschen Konfetti wirfst.«
Audrey stockte und wusste nicht recht, ob Sheryl das herablassend meinte oder witzig. »Und wie läuft es bei Love Birds?«, versuchte sie abzulenken.
»Ach, schrecklich viel zu tun, wie immer«, sprudelte es angeberisch aus Sheryl heraus. »Im vergangenen Monat habe ich einen neuen Mitarbeiter an Bord geholt, Matteus. Er ist Spezialist für Internet-Dating und selbst sehr attraktiv. Durch ihn ist unsere Online-Nutzung um zwanzig Prozent gestiegen, und er hat uns Dutzende neuer Klienten eingebracht! Wir wissen kaum, wo uns der Kopf steht. In jedem Restaurant dieser Stadt sitzen heute Abend Paare unserer Agentur beim Essen.«
»Wie schön.« Audrey musste sich die Worte mühsam abringen.
»Ich weiß«, entgegnete Sheryl unbescheiden. Audrey hörte das synthetische Rascheln ihrer Nylonstrumpfhose, als sie die Beine übereinanderschlug.
»Und wie läuft deine kleine Online-Dating-Geschichte so, Audrey? Habt ihr euren Fingerprint inzwischen verbessern können?«
Audrey hörte das verräterische Kieksen eines nur mühsam unterdrückten höhnischen Glucksens. Sie wurde rot vor Wut. Nie würde Sheryl sie ihren kleinem Fauxpas vergessen lassen. Woher hätte sie denn auch wissen sollen, dass Webseiten etwas hatten, das sich »Fingerabdruck« nannte? Mit diesem technischen Fachjargon kannte sie sich nicht aus. Und die verflixte Webseite hatte sie ohnehin bloß einrichten lassen, weil alle anderen Agenturen auch eine hatten.
»Pass auf, ich komme gleich zur Sache, Aud«, fuhr Sheryl fort, ehe Audrey die Gelegenheit hatte, sich eine schneidende Antwort auszudenken. »Bestimmt hast du nicht vergessen, dass nächsten Monat der BdP-Ball stattfindet.«
»Aber natürlich nicht!«, rief Audrey aufgebracht, auch wenn sie selbst grundsätzlich nie diese Abkürzung verwendete; die empfand sie nämlich als Beleidigung für ihre schöne englische Muttersprache.
»Du kommst doch sicher?«
»Aber selbstverständlich komme ich!«
Dieses Datum war seit dem Augenblick, in dem es festgelegt worden war, in Audreys Gedächtnis eingraviert, als sei es in Stein gemeißelt. Seit Monaten war es der einzige Eintrag in ihrem ansonsten gähnend leeren Terminkalender, und jeden Abend dachte sie von dem Moment, wenn sie das Licht im Schlafzimmer ausknipste, bis zu dem Augenblick, wenn sie einschlief, an nichts anderes und kostete den Gedanken bis zum Letzten aus. Schließlich würde sie an diesem Abend John wiedersehen.
»Du weißt ja«, fuhr Sheryl fort, »dass man mir dieses Jahr die Organisation übertragen hat. Was für eine Ehre! Ein ganz großes Kompliment für Love Birds, findest du nicht auch?«
»Nun ja, ich würde nicht unbedingt sagen, dass das eine etwas mit dem anderen …«
»… und als Organisatorin des Balls habe ich mir eben die Um-Antwort-wird-gebeten-Liste angeschaut, und dabei ist mir aufgefallen, dass dein Scheck noch nicht eingegangen ist. Da dachte ich mir, ach, das ist aber merkwürdig! Audrey ist doch sonst immer so gewissenhaft, was die Bezahlung angeht! Ich hoffe doch, Table For Two hat keine Liquiditätsprobleme?«
»Nein, natürlich nicht! Was für eine verrückte Vorstellung! Ha ha ha.« Audrey zwang sich zu einem trillernden Lachen. »Es ist mir entfallen, mehr nicht. Ich schicke den Scheck gleich los.« So eine Unverfrorenheit! Und so ein unverzeihlicher Patzer! Sie konnte sich gar nicht erklären, wie ihr das passiert war. Unfassbar.
»Also habe ich erst mal ein kleines Fragezeichen hinter deinen Namen gesetzt.«
»Der Scheck ist morgen früh in der Post«, erklärte Audrey entschieden.
»Ich hoffe doch, du bringst deinen knackigen Ehemann mit?«, gurrte Sheryl klebrig-süß.
Sofort schrillten bei Audrey sämtliche Alarmglocken, wie um sie vor einer drohenden Gefahr zu warnen. Ihr wurde die Brust eng, und ihr Nacken war plötzlich ganz heiß.
»So ein charmanter Mann, und so aufmerksam. Den würde ich an deiner Stelle gut im Auge behalten«, plapperte Sheryl weiter. »Kümmere dich ganz besonders gut um ihn. Wie ich meinen Klienten immer sage, man muss sich Mühe geben, einen Mann bei der Stange zu halten. Hin und wieder sollte man etwas tun, das ihn umhaut. Macht man das nämlich nicht, dann gibt es genügend andere, die es stattdessen tun. Hätte ich einen Mann wie John, ich würde ihn an einer sehr …« – ihre Stimme triefte nur so vor Anzüglichkeit – »… kurzen … Leine halten.«
Und dann lachte sie schrill.
Audrey wurde übel.
»Tja, nun …« Sie spürte, wie Cassandra und Bianca sie durch die Scheibe mit Blicken durchbohrten. Also wirklich, hatte man in diesem Büro denn überhaupt keine Privatsphäre? Und worauf wollte Sheryl eigentlich hinaus? Was redete sie da über John, und was meinte sie bitte mit der Leine? Gab es irgendetwas, das sie nicht wusste? »Ich glaube, da brauche ich mir keine Sorgen zu machen«, gab sie schnippisch zurück.
»Ganz bestimmt bist du Frau genug für John«, versicherte Sheryl nicht gerade überzeugend.
»Tja, nun, wenn das alles war … Ich habe heute viel zu tun.«
»Ja, ich glaube, das war’s«, entgegnete Sheryl leichthin. »Dann rechne ich jetzt jeden Tag mit deinem Scheck.«
»Ich kümmere mich sofort darum. Also gut, dann, bye …«
»… Nur eine Sache noch, Audrey«, unterbrach Sheryl sie langsam. »Du hast mir noch nicht gesagt, welches deiner Mädchen du dieses Jahr mitbringen willst. Du weißt doch, dass du ein Gratisticket bekommst für den ›Aufstrebenden Partnervermittler des Jahres‹.«
»Ach herrje, das hätte ich beinahe vergessen.«
»Das hast du also auch vergessen? Nun gut … ich brauche jedenfalls baldmöglichst einen Namen. Schick mir einfach eine Mail, dann sorge ich dafür, dass Sienna derjenigen eine Einladung zuschickt. Sie ist so ein Schatz, meine Sienna! Ich weiß gar nicht, wie ich das früher alles ohne persönliche Assistentin geschafft habe. Du hast immer noch keine, oder? Aber egal, ich muss Schluss machen, Aud. Ciao.«
Audrey legte den Hörer auf und atmete ein paar Mal tief durch. Ihr Nacken brannte immer noch. Sheryl war eine schwarze Gewitterwolke am strahlend blauen Himmel des Balls der Partnervermittler. Am Telefon war sie schon schwer genug zu ertragen, aber im echten Leben war sie noch um einiges schlimmer. Wobei an Sheryl selbst eigentlich kaum etwas echt war – ganz im Gegenteil. Außerdem lief sie meistens halb nackt rum und stellte ihre Brüste in viel zu engen, tief dekolletierten Oberteilen zur Schau, die grundsätzlich knallpink waren. Sie stöckelte auf Stiletto-Absätzen durch die Gegend – manchmal sogar ohne Nylonstrumpfhose! –, und wenn Männer in der Nähe waren, verhielt sie sich unerträglich. Ständig schüttelte sie ihre wasserstoffblonde Wallemähne auf oder beugte sich nach vorn, um ihnen geschmacklose Dummheiten ins Ohr zu flüstern. Und was sollte das Gerede von John? War er Sheryls neuestes Opfer, in das sie ihre lackierten Krallen schlagen wollte? Audreys John? Aber John war viel zu kultiviert für ein billiges Flittchen wie Sheryl. Oder etwa nicht? Bei dem Gedanken bekam Audrey prompt wieder Sodbrennen.
Nach zehn Minuten angestrengtem Wühlen in ihren Unterlagen hatte sie sich endlich etwas beruhigt. Natürlich würde John sich nie auf eine Schlampe wie Sheryl einlassen. Da konnte sie ihn anflirten, so viel sie wollte, John würde Audrey nicht von der Seite weichen. Auf ihn konnte sie sich verlassen, das wusste sie, trotz ihres gegenwärtigen – vorübergehenden – Status. Sie griff sich in den Nacken. Der wurde schon etwas kühler.
Nun musste sie sich nur noch überlegen, wen sie als »aufstrebende Partnervermittlerin« mit zum Ball nehmen wollte. Es war Tradition beim Berufsverband der Partnervermittler, dass jede größere Agentur einen jungen, aufstrebenden Nachwuchsvermittler mitbrachte und dort vorstellte. An diesem Abend lernte er oder sie alle maßgebenden Leute kennen – die oberste Liga der Partnervermittlungsbranche, sozusagen – als Ansporn, dass man es mit viel Arbeit ganz nach oben schaffen konnte. Eine dumme alte Tradition eigentlich, denn ein Abend ohne die Mädels und ihre Albernheiten wäre ihr lieber. Aber Traditionen gehörten nun einmal gewahrt und respektiert. Verstohlen ließ Audrey den Blick über ihre Angestellten schweifen und fragte sich, wen sie mitnehmen sollte.
Ihr Blick fiel auf Bianca. Dürfte sie irgendeine aussuchen, würde ihre Wahl zweifellos auf sie fallen. Dieses Mädchen brauchte sich bloß eine Paschmina überzuwerfen und sah blendend aus. Zwar war sie nicht unbedingt die hellste Birne im Lüster, aber sie kam aus einer guten Familie, hatte ein ausgezeichnetes Internat besucht und saß immer hübsch artig mit geschlossenen Knien da.
Ihr Blick wanderte weiter zu Cassandra. Cassandra war ebenfalls recht wohlerzogen und eine begeisterte Reiterin, hatte aber einen Ansatz von O-Beinen. Etwas zu viel Zara Phillips und nicht genug Kate Middleton. Aber alles in allem gar nicht so schlecht.
Und dann Hilary. Hilary war ihre erste Angestellte gewesen und wusste beinahe genauso viel über Table For Two wie sie selbst. Sie hatte Audrey schon etliche Male zum Ball begleitet, aber das war, bevor sie Kinder bekommen und ihre Figur verloren hatte. Und wieder einmal war sie im achten Monat schwanger und vollkommen unansehnlich. Unmöglich, sie in diesem Zustand mitzunehmen.
Alice starrte mal wieder verträumt aus dem Fenster. Sie war schon seit Ewigkeiten bei Table For Two und bisher kein einziges Mal beim Ball dabei gewesen. Bianca und Cassandra hatten beide schon teilgenommen – Bianca sogar zweimal –, obwohl sie nicht annähernd so lange bei Table For Two arbeiteten. Audrey seufzte. Es hatte alles keinen Zweck; sie wusste, diesmal würde sie um Alice nicht herumkommen. Sie hoffte bloß inständig, das Mädchen würde sie nicht blamieren. Bestimmt würde sie absolut unpassende Klamotten wählen und auffallen wie ein bunter Hund. Audrey sah im Geiste schon, wie Sheryl kritisch die Augenbrauen hochzog. Und Barry Chambers würde ihre Witzchen über sie reißen. Sie war ein nervtötender Klotz am Bein, dachte Audrey verbittert.
Gottergeben öffnete sie die Bürotür und rief Alice zu sich. Die sprang so überrascht auf, dass sie dabei einen Papierstapel mitriss. Audrey sah zu, wie sie sich hektisch daranmachte, alles wieder einzusammeln, und ihr Blick fiel auf Alice’ Füße. Was hatte sie denn da für hässliche Klumpschuhe an? Waren das etwa … waren das tatsächlich Clogs? In ungläubigem Entsetzen beäugte Audrey das klobige Schuhwerk ihrer Angestellten. Ihr fehlten die Worte. Schnell ging sie zurück in ihr Büro und ließ sich auf ihren Schreibtischstuhl fallen.
Nun, Alice würde ihr Erscheinungsbild und ihr Auftreten ganz schön aufpolieren müssen, wenn sie zum alljährlichen Herbstball des Berufsverbands der Partnervermittler mitkommen wollte, dachte Audrey beunruhigt. Dann kramte sie in ihrer Handtasche nach dem Scheckheft. Zum Teufel mit der Post; Alice konnte den Scheck auch gleich persönlich zu Love Birds bringen. Wobei, wenn sie so darüber nachdachte … Vielleicht blieben Alice und ihre Schuhe doch besser im Büro, wo sie niemand sah; das Letzte, was sie wollte, war, Sheryl weitere Munition zu liefern. Wie albern, diese ganze Aufregung, nur weil Sheryl dieses Jahr den Ball organisierte und ihr die Verantwortung ganz offensichtlich zu Kopf gestiegen war. Audrey pochte ebenfalls der Schädel. Sie griff sich an die Stirn und zuckte zusammen.
Ja, es war zweifellos mal wieder einer dieser Tage.