John

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Irgendwann gelang es John, sich wieder von Alice zu lösen, die Haustür zu öffnen und in die echte Welt hinauszutreten – eine Welt, in der es Termine einzuhalten und Geschäfte abzuwickeln galt. Nachdem er Alice zum Abschied noch einmal umarmt hatte, strich er sich den Smoking glatt, fuhr sich mit den Fingern durch die Haare und machte sich auf schnellstem Weg zu seiner Dinner-Verabredung im Privet mit Lady Denham. Und zum ersten Mal in seiner beruflichen Laufbahn kam er zu spät zu einem Termin mit einer Klientin.

Der Oberkellner führte ihn zu Lady Denham, die schon ungeduldig auf ihn wartete. Vor ihr stand ein großer Champagnercocktail, und ihr Schmuck funkelte im Kerzenlicht.

»Ach, da sind Sie ja endlich!«, rief sie in gespielter Entrüstung. »Sie kommen so spät, dass ich mir sicher war, Sie müssten überfahren worden sein. Ich habe mir schon ausgemalt, eine liebestolle, eifersüchtige Klientin habe Sie kaltblütig niedergemäht und dann Fahrerflucht begangen. Und die letzten Worte, die Ihnen über die Lippen kamen, waren mein Name.«

John lachte, gab ihr zur Begrüßung einen Kuss auf die Wange und setzte sich. Er mochte Lady Denham. So stinkreich und vornehm sie auch war, sie war immer eine angenehme Gesprächspartnerin, und er genoss ihre Gesellschaft. Seit Jahren gehörte sie zum festen Kreis seiner Stammkundinnen, und noch nie hatte er sie ohne mehrere Pfund Geschmeide gesehen, das überall an ihrem Körper baumelte. Einmal hatte er sie sogar gefragt, ob sie keine Angst habe, überfallen und ausgeraubt zu werden.

»Darling!«, hatte sie da übertrieben affektiert geflötet. »Was nützt einem der schönste Pudding, wenn man ihn nicht essen kann?«

Lady Denham war auch deshalb eine eher ungewöhnliche Klientin, weil sie John nicht brauchte. Sie buchte ihn nur zum Vergnügen. Nach ihrer dritten Scheidung mit Ende fünfzig war sie so unfassbar reich, dass sie sich keinen Pfifferling mehr darum scherte, ob jemand wusste, dass sie alleinstehend war. Sie war sehr attraktiv, hatte eine ansprechende Figur und immer noch ein faszinierend schönes Gesicht, und sie war felsenfest davon überzeugt, ein sich stetig drehendes Karussell junger Männer täte ihrem Image ebenso gut wie ihrer Seele. John amüsierte sich stets köstlich bei ihren Verabredungen.

Er nahm Platz, der Kellner brachte ihm ebenfalls einen Champagnercocktail, und dann ließ er Lady Denham für sie beide bestellen. Als der Kellner sich umdrehte, sah John, wie Lady Denhams Blick zu seinem Hintern wanderte.

»Hunger?«, fragte er neckisch.

»Wie ein Wolf!«, erklärte sie schelmisch und riss den Blick widerstrebend vom Knackpo des Kellners los. »Tja, auch wenn Sie schrecklich unpünktlich waren, was ich Ihnen dieses eine Mal großzügig verzeihen werde, stelle ich doch mit Entzücken fest, dass Sie wie immer zum Anbeißen aussehen. Wobei ich das eigentlich voraussetze, sonst würde ich auf der Stelle Geraldine anrufen und Sie durch ein jüngeres Modell ersetzen lassen!«

»Ach, da sind wir auch schon gleich beim Thema«, warf John ein. »Eigentlich wollte ich das erst viel später ansprechen, aber ich habe ein Geständnis zu machen. Womöglich müssen Sie Geraldine schneller um Ersatz bitten, als Ihnen lieb ist.«

»Wie das?« Lady Denham setzte sich kerzengerade hin. »Nein, lassen Sie mich raten … Die Geschäfte laufen schlecht, also hat Geraldine Ihnen eine kleine chirurgische Rundumerneuerung verschrieben.«

John schüttelte den Kopf und musste lachen. Lady Denham versuchte es noch mal.

»Ein wutentbrannter Ehemann hat Sie zu einem Duell bei Sonnenaufgang gefordert. Und das ist Ihr sicheres Ende!«

»Nichts derart Aufregendes, leider«, entgegnete John lächelnd. »Ich gehe einfach nur in Rente. Heute ist mein letzter Arbeitstag. Und da finde ich es ganz passend, dass meine Lieblingsklientin auch mein Schwanengesang wird.«

»Ach!«, rief Lady Denham und schaute ihn pikiert an. Sie nippte am Champagnercocktail, dann riss sie sich zusammen und entgegnete trocken: »Tja, das ist wohl auch besser so. Im Grunde sind Sie nämlich sterbenslangweilig, und ich habe mir schon den Kopf zerbrochen, wie ich Sie schonend wieder loswerde. Ich hatte gehofft, Geraldine würde mir einen knackigen Ersatz mit etwas weniger Doppelkinn besorgen.«

»Das tut sie sicher mit dem größten Vergnügen. Soweit ich weiß, hat sie bereits eine kleine Auswahl doppelkinnfreier, knackärschiger Ersatzkandidaten zur Hand«, erklärte John spitzbübisch.

Lady Denham lächelte zustimmend.

»Ich bin Ihnen jedenfalls sehr dankbar, dass Sie mich so lange klaglos ertragen haben«, fügte John vielsagend hinzu.

»Schon gut, Darling!«, erwiderte sie naserümpfend. »Man tut, was man kann.« Und dann fingerte sie fahrig an ihrem Schmuck herum und wirkte plötzlich ganz verloren.

»Und was wollen Sie nach dem Escort-Service mit Ihrem Leben anfangen?«, fragte sie unvermittelt. »Wird es Ihnen nicht ein bisschen langweilig werden nach dem süßen Leben im Privet?«

John lächelte.

»Das weiß ich ehrlich gesagt noch nicht so recht. In erster Linie werde ich mich meinem persönlichen Happy End widmen, würde ich mal sagen.«

»Ach, wie herzig«, bemerkte Lady Denham ungerührt. »Dann werde ich an Sie denken, wenn Sie auf dem Sofa vor dem Fernseher hocken und Ihren Fertigfraß aus dem Alutablett kratzen, während ich mit meinem neuen Begleiter foie gras speise. Ich habe Sie sicher längst vergessen, noch ehe die Saison zu Ende ist.«

Drückende Stille machte sich breit.

»Sie werden mir fehlen«, sagte John ehrlich und ließ den spielerisch neckischen Tonfall ihrer Unterhaltung kurz beiseite.

»Sie mir auch«, entgegnete Lady Denham genauso aufrichtig, und einen Moment lang schauten sie sich schweigend an. Dann wandte sie den Blick ab und tat, als würde sie sich ganz unbeschwert und heiter im Restaurant umsehen. »Sie kleiner Deserteur«, zischte sie ihm zu und lächelte unbeweglich weiter.

John schaute sie an. Humor war Lady Denhams engster Verbündeter und dazu ihre schärfste Waffe. Mit ihrem Humor hatte sie drei Scheidungen im Fokus der Öffentlichkeit überstanden. All ihren spitzzüngigen Seitenhieben zum Trotz wusste er, dass sie es ernst gemeint hatte, als sie ihm sagte, er werde ihr fehlen. Auf ihrer Wange sah er das verräterische Glitzern einer Träne, während sie tat, als sei sie ganz vertieft in die Beobachtung der anderen Gäste. Er beugte sich vor, legte behutsam die Hand an ihre Wange und wischte die Träne mit dem Daumen fort.

»Nur ein kleiner Champagnerspritzer«, erklärte er leichthin und lächelte. Sie würde ihm wirklich fehlen. Sie war eine treue Klientin und immer für einen Spaß zu haben. Beinahe war sie ihm so etwas wie eine Freundin geworden.

In Gedanken beim bevorstehenden Abschied bemerkte John die Gestalt gar nicht, die auf der anderen Seite des Restaurants gerade vom Tisch aufstand. Mit offenem, lipglossglänzendem Mund beobachtete sie die zärtliche Szene, die sich da direkt vor ihren Augen abspielte, und sie ließ John auch nicht aus den Augen, als sie am Tisch der beiden vorbei und zur Tür hinausging, ihren sonnenbankgebräunten Begleiter mit dem dümmlichen Gesicht im Schlepptau.