Alice

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Am Samstagmorgen schob Alice das Fahrrad durch ihren Vorgarten und machte sich auf den Weg in die Stadt, wo sie mit Ginny verabredet war. Sie hatte ein schrecklich flaues Gefühl im Magen. Normalerweise wäre sie ganz aus dem Häuschen, den ganzen Tag mit ihrer besten Freundin verbringen zu können, aber heute hatte sie einen unliebsamen Begleiter: die Angst vor der drohenden Shoppingtour.

Alice war nicht unbedingt eine leidenschaftliche Shopperin. Wenn sie einen Laden betrat, dann nur, weil es gar nicht anders ging. Wenn im Kühlschrank gähnende Leere herrschte, zum Beispiel. Und heute stand ihr noch viel Schlimmeres bevor: Kleider kaufen. Kleider zu kaufen bedeutete, in den Spiegel zu schauen, und Alice konnte es nicht ausstehen, sich selbst im Spiegel zu sehen, weshalb sie zu Hause gar keinen hatte. Auf die inneren Werte kommt es an, dachte sie trotzig, während sie die Straße entlangstrampelte. Wenn der Richtige irgendwann vor mir steht, wird er sicher nicht gleich die Flucht ergreifen, nur weil ich morgens vergessen habe, mir die Haare zu kämmen, oder es nicht geschafft habe, meinen Rock zu bügeln. Die Liebe verzeiht alles, selbst nachlässig zusammengewürfelte Garderobe und sackartige Strickjacken.

Allzu bald kamen die ersten Läden in Sicht. Alice schloss ihr Fahrrad ab und ging zu der Boutique, in der sie mit Ginny verabredet war.

»Morgen!«, zwitscherte Ginny gut gelaunt. Sie hatte bereits beide Arme voller Kleider. »Schau mal, was ich alles für dich gefunden habe! Das musst du unbedingt anprobieren. Das hier ist ein apricotfarbenes Taftkleid mit großer Schleife, dann noch ein transparentes zitronengelbes Minikleid mit passendem Höschen und als Krönung ein tief ausgeschnittenes Satinkleid in Knallrot. Einen BH kannst du bei dem vergessen.«

Alles Blut war aus Alice’ Gesicht gewichen.

»Dieser Blick!«, gluckste Ginny lachend. »Ich glaube, ein schlichtes schwarzes Kleid passt am besten zu dir.«

Vor Erleichterung kriegte Alice ganz weiche Knie.

Doch das sollte nicht lange anhalten.

»Hast du nicht gesagt, Frauen gehen shoppen, weil es ihnen Spaß macht?«, knurrte sie etliche Stunden später, nachdem sie das x-te Kleid beiseitegelegt hatte und sich matt ihre Jeans angelte.

»Die waren offensichtlich noch nie mit dir unterwegs.« Erschöpft ließ Ginny sich in der Umkleidekabine auf den Boden sinken. »Also zum Fazit: Bisher fandest du eigentlich alles scheußlich.« Sie betrachtete Alice mit Mordlust in den Augen. »Aber am schlimmsten hast du dich in engen, femininen Kleidern gefühlt oder in solchen, bei denen auch nur ein Millimeter nackte Haut zu sehen war. Und gefallen haben dir …?«

Lange sagte keine von beiden ein Wort.

»Na ja, viel bleibt da nicht übrig …«, durchbrach Ginny schließlich die Stille und wies mit einem Nicken auf Alice’ Brust, »… aber du bist schlank, sportlich und hast tolle Beine. Weißt du was, vielleicht wäre ein rückenfreies Kleid das Richtige für dich.« Zum ersten Mal seit Stunden klang sie wieder vage optimistisch.

»Ein rückenfreies Kleid?«, wiederholte Alice beunruhigt. »Ist das nicht viel zu gefährlich?«

»Wir reden hier von einem Kleid, nicht von einer Handgranate!«

»Na ja, ein bisschen zu gewagt, meine ich.«

»Nein, darum geht es ja gerade. Du zeigst weder Bein noch Busen, nur deinen Rücken. Und was ist schon ein bisschen Rücken?« Energisch sprang Ginny auf. »Bleib hier! Ich finde was für dich.« Und damit flitzte sie nach draußen in den Laden.

Und Alice öffnete langsam wieder den Reißverschluss ihrer Jeans.

Zwei Minuten später kam Ginny mit einem rückenfreien Satinkleid hereingewuselt. »Weißt du, das Kleid sähe besser aus, wenn du wenigstens die Socken ausziehen würdest«, brummte sie sarkastisch.

Widerstrebend bückte sich Alice und zog sie aus.

»Schon besser!« Ginny klang plötzlich quietschvergnügt. »Schau mal!«

Alice drehte sich um und betrachtete sich im Spiegel. Und zu ihrer großen Überraschung fand sie das, was sie da sah, gar nicht mal so übel. Von vorne betrachtet war das Kleid hochgeschlossen. Es setzte am Schlüsselbein an, und obwohl es keine Ärmel hatte, lag es an den Achseln eng an, sodass ihre Brüste vollkommen bedeckt waren. Der Saum endete knapp unterhalb der Knie. Wäre es hinten ebenso hochgeschlossen, es wäre absolut perfekt gewesen.

»Und wenn du kurz da reinschlüpfen möchtest« – Ginny griff hinter sich und holte ein Paar Pumps mit hohen Absätzen hervor –, »dann sähe es gleich noch mal so toll aus!«

Misstrauisch beäugte Alice die Schuhe. Sie waren schwindelerregend hoch. Sicher konnte man sich in diesen Dingern die Knöchel brechen. Doch dann fiel ihr Blick auf Ginnys Gesicht.Mit diesem Blick war nicht zu spaßen. Gehorsam trat sie rückwärts in die Umkleidekabine, setzte sich und schlüpfte in die hohen Hacken.

Und mit einem Mal wirkten ihre Füße ganz damenhaft und gar nicht mehr wie ihre eigenen. Sie machten plötzlich einen elegant geschwungenen Bogen und schienen regelrecht zierlich, und vorne blitzten kokett die Zehen heraus. Zaghaft stand sie auf. Zuerst wackelte sie ein wenig auf den bleistiftdünnen Stilettoabsätzen, dann fing sie sich schnell. Nicht unbedingt bequem, aber auch nicht, als würde man auf Rasierklingen laufen. Mehr wie eine Baby-Giraffe, die ihre ersten unsicheren Schritte machte.

»Heiliges Kanonenrohr!«, rief Ginny, und eine Spur Verwunderung schwang in ihrer Stimme mit. »Ich glaube, wir haben es geschafft!«

Sie trat zu Alice, nahm ihre Haare und fasste sie locker im Nacken zusammen.

»Schau selbst!«, kommandierte sie.

Alice blinzelte. Sie konnte es kaum fassen, aber die Person, die ihr da aus dem Spiegel entgegenblickte, war eine Frau: Eine richtige, sehr weibliche Frau! Die entblößte Partie den Rücken entlang wirkte straff, strahlend und – Alice erblasste schon beim Gedanken daran – sinnlich. Das Kleid wurde zum Saum hin schmaler und enthüllte den Blick auf wohlgeformte, vom Radfahren durchtrainierte Unterschenkel und darunter die sexiesten Füße, die Alice je gesehen hatte. Die Schuhe waren einfach unglaublich. Ihre Füße hatten sich wie aus dem Nichts in Filmstarfüße verwandelt. Es war unfassbar!

Die Blicke der Freundinnen trafen sich.

»Ich nehm es«, hörte sich Alice sagen. »Alles.«

Vier Stunden, fünfhundert Pfund und zwei Flaschen Sauvignon Blanc später standen Ginny und Alice mit vom Alkohol hochroten Wangen vor dem Fahrradständer, während sich um sie herum die späten Einkäufer drängelten. Normalerweise trank Alice kaum etwas, aber in dem Kleid und den Schuhen hatte sie sich wie ein ganz anderer Mensch gefühlt, und dieser neue Mensch begoss unverschämt teure Einkäufe, deren Preis einem die Tränen in die Augen trieb, mit großzügigen Alkoholmengen. Nachdem sie Schuhe und Kleid erstanden hatte, war Ginny mit Alice in einigen weiteren Läden gewesen, um andere »lebenswichtige« Dinge zu besorgen, wie beispielsweise tiefroten Nagellack, lange, klimpernde Ohrringe und eine kleine schwarze Handtasche. Und am Ende war Ginny sogar mit ihr in einen Dessousladen marschiert.

»Ich weiß zwar nicht, wie es in deiner Unterwäscheschublade aussieht, aber ich würde wetten, da ist nichts drin, was auch nur ansatzweise zu diesem atemberaubenden Kleid passt.«

Und so hatte Alice die Boutique als stolze, wenn auch etwas beschämte Besitzerin eines lächerlich überteuerten und hauchdünnen, aber irgendwie auch sehr aufreizenden schwarzen Höschens wieder verlassen.

»Ist mir ein Rätsel, wie du wieder nach Hause kommen willst«, meinte Ginny lachend, als sie Alice mit ihrem Berg von Einkaufstüten sah. »Ich glaube, normalerweise reisen shoppingsüchtige Sexgöttinnen nicht mit dem Fahrrad.«

Alice schwankte ganz leicht.

»Die paar Tüten hänge ich einfach an den Lenker«, nuschelte sie. »Wobei es die Sache natürlich erheblich erleichtern würde, wenn der nicht jetzt schon schwanken würde.«

Ginny kicherte.

»Aber egal«, fuhr Alice fort, »musst du nicht heim zu Dan?«

Sie glaubte zu sehen, wie Ginny das Gesicht verzog, war sich aber nicht ganz sicher. Denn eigentlich sah sie drei Ginnys, weshalb das schwer zu sagen war. Sie drehte sich zu ihrem Fahrrad um und gab sich große Mühe, ohne Wackeln auf den Sattel zu steigen.

»Alissssssss, Darrrrrrrrling!«, tirilierte da eine Stimme aus dem Gedränge auf dem Bürgersteig. Das Bein noch in der Luft, versteinerte Alice förmlich.

Dann tauchten zwei Brüste in einem tief ausgeschnittenen smaragdgrünen Kleid aus der Menschenmenge auf.

»Alissssss Brown, wie schön, Sie zu sehen!«, flöteten die Brüste, die von einer Pelzjacke gerahmt und von in Lockenwicklerwellen gelegten langen blonden Haaren gekrönt wurden. »Dachte ich es mir doch, dass Sie das sind hinter all den vielen Einkaufstüten, Sie unartiges Mädchen. Audrey bezahlt Sie wohl zu gut!«

»Ähm … hallo … Ms Toogood.«

»Sheryl, bitte!« Sheryl Toogood fasste Alice verschwörerisch am Arm. »Und was hecken Sie da aus?«, fragte sie anzüglich. »Haben Sie gerade ein schickes neues Kleidchen für den BdP-Ball erstanden?«

»Meine Freundin Ginny hat mich beraten«, murmelte Alice etwas betreten. Ginny beäugte Sheryl derweil mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Entsetzen.

»Wie süß.« Sheryl bedachte Ginny mit einem flüchtigen schiefen Lächeln. Dann machte sie noch einen Schritt auf Alice zu und senkte vertraulich die Stimme. »Ich muss Ihnen einfach sagen, wie sehr ich mich gefreut habe, als Audrey mir sagte, dass Sie dieses Jahr mit zum Ball kommen. Wurde ja auch langsam Zeit! Wie oft habe ich schon zu Audrey gesagt: ›Aud, wieso hast du denn schon wieder diese todlangweilige Bianca mitgebracht? Sicher ist sie eine ganz passable Partnervermittlerin, aber mehr als ein paar mickrige kleine Amorpfeile wird sie nie im Leben verschießen. Warum bringst du nicht die wunderbare Allisssss mit? Die schießt die Pfeile bestimmt köcherweise ab.‹«

»Nun, das ist wirklich sehr nett von Ihnen, Ms Toogood. Aber Bianca ist eine großartige Partnervermittlerin.« Alice wollte sich ihrem Griff entziehen, doch Sheryl hielt ihren Arm eisern umklammert.

»Sheryl, bitte. So ein Unsinn! Ehre, wem Ehre gebührt. Ich habe in der ganzen Stadt meine Spione, und ich höre Großes über Sie! Wie mir scheint, sind Sie der Motor, der Table For Two über Wasser hält. Ohne Sie wären alle längst panisch in die Rettungsboote gesprungen.«

»Ich glaube nicht, dass das so stimmt …«

»Wissen Sie was, Alissssss, wir müssen unbedingt zusammen einen Kaffee trinken. Ich wollte mich schon längst mal unter vier Augen mit Ihnen unterhalten, so von Fachfrau zu Fachfrau.«

»Ach?«, entgegnete Alice verdattert. »Öhm, ja, das … das wäre sehr nett.« Nett? Das klang absolut beängstigend! Was um alles auf der Welt konnte Sheryl mit ihr zu besprechen haben?

»Gut, dann sind wir uns ja einig. Ich sage Sienna, sie soll alles arrangieren. Aber das muss unter uns bleiben; kein Wort zu Audrey. Sonst will sie am Ende auch noch mitkommen und verdirbt uns den ganzen Spaß.« Sheryl brach in perlendes Gelächter aus.

»Ähm …«, stammelte Alice. So wenig sie Audrey mochte, der Gedanke, sie zu hintergehen, behagte ihr ganz und gar nicht.

»Also, ich muss jetzt los.« Und damit klackerte Sheryl auch schon auf ihren hohen Absätzen davon. »War sehr nett, Sie und Ihre kleine Freundin zu sehen. Ich freue mich schon auf unseren Kaffee. Und versetzen Sie mich nicht, Alissss.«

»Ganz bestimmt nicht … Sheryl«, rief Alice ihr etwas linkisch hinterher. Aber da hatte die Menschenmenge Sheryl und ihre Brüste schon wieder verschluckt.

Ginny pfiff leise durch die Zähne.

»Was um Himmels willen war denn das?«

»Das war Sheryl Toogood«, murmelte Alice tonlos und starrte noch immer fassungslos der längst verschwundenen Erscheinung hinterher. »Sie ist die Chefin einer Konkurrenzagentur – Love Birds. Audrey kann sie nicht ausstehen.« Wieso hatte Sheryl sie angesprochen? Bisher hatte sie ja noch nicht mal geahnt, dass Sheryl überhaupt wusste, wie sie hieß.

»Kann ich gut verstehen!«, erklärte Ginny lachend. »So eine falsche Schlange. Wie sie dich am Arm gepackt hat. Wie eine Boa Constrictor, die dich zum Mittagessen verspeisen will.«

Alice schüttelte sich beim Gedanken daran, wie Sheryl ihr langsam die Luft zum Atmen abschnürte, während sie sie mit ihren glänzenden rot bemalten Lippen anlächelte. Was wollte Sheryl von ihr? Warum wollte sie sich mit ihr treffen?

»Na ja, in einer Sache muss ich ihr allerdings völlig Recht geben«, fuhr Ginny fort.

»Und zwar?«

»Du bist das beste Pferd im Stall von Table For Two! Siehst du?« Verschwörerisch stupste sie ihre Freundin in die Rippen. »Deswegen gehst du auch zum Ball. Weil alle wissen, was für eine großartige Partnervermittlerin du bist. Darum will sie sich auch mit dir auf einen Kaffee treffen. Du bist heiß begehrt!«

Nachdenklich schaute Alice der verschwundenen Sheryl hinterher. Darum ging es bestimmt nicht. Aber was um aller Welt konnte Sheryl im Schilde führen? Sie war zu beschwipst, um einen klaren Gedanken zu fassen. Aber immerhin noch so nüchtern, dass ihr eins klar war: Irgendwas stimmte da nicht.