Sheryl

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Irgendwo zwischen ihren alten Akten, inmitten Dutzender Klientenunterlagen, die wie ein geöffneter Fächer vergessener einsamer Herzen ausgebreitet auf dem Fußboden lagen, traf Sheryl die Erkenntnis wie ein Schlag: Ihr ging mit einem Mal auf, wer Johns geheimnisvolle Begleiterin war. Denn sie lächelte Sheryl von einem Foto in einer ausgeblichenen Aktenmappe entgegen.

Es handelte sich um Lady Isabella Denham, ehemals bekannt als Isabella Alpine und davor schlicht als Isabel Jones. Vor langer Zeit, noch vor ihrer Hochzeit mit Lord Denham, war sie ein zahlendes und äußerst aktives Mitglied von Love Birds gewesen.

Sheryl lachte laut auf und küsste siegestrunken die Aktenmappe. Sie hatte doch gewusst, dass sie die Frau irgendwoher kannte!

In der Akte fand sie mehr als genug Munition über Lady Denham – angefangen bei ihrem Alter über ihre Vorlieben bis hin zu den diversen Scheidungen. Es existierte eine lückenlose Aufzeichnung sämtlicher Verabredungen, die sie im Laufe ihrer zwei Jahre bei Love Birds wahrgenommen hatte: ein schier unersättlich wirkender Katalog gut aussehender Männer, die, wie Sheryl mit Vergnügen feststellte, alle erheblich jünger waren als die Klientin. Sheryl fand sogar ihre Handynummer! Ob die wohl noch stimmte?

Achtlos verstreut ließ sie die Ordner auf dem Boden liegen und setzte sich mit Lady Denhams Mappe an den Schreibtisch. Nun kannte sie also die Identität von John Cracknells geheimnisvoller Begleiterin. Jetzt benötigte sie nur noch ein paar hieb- und stichfeste Beweise für seine eheliche Untreue. Ihn beim Essen mit einer Frau zu erwischen, die nicht seine Ehefrau war, reichte da leider nicht aus. Sie brauchte mehr: einen unwiderlegbaren, schmiedeeisernen Nagel für Audreys Sarg.

Ihr Atem ging schnell und aufgeregt, als Sheryl zum Telefon griff. Himmel, war das ein Spaß! Sie konnte Audreys Gesicht schon genau vor sich sehen …

»Ja, bitte?« Isabella Denhams klare Stimme klingelte Sheryl in den Ohren. Es hörte sich an, als säße sie im Auto – vermutlich fuhr sie gerade von ihrem kleinen Stelldichein im Privet nach Hause. Ob John womöglich bei ihr war? Befanden sie sich vielleicht sogar auf dem Weg ins Hotel, zu einer Nacht wilder, leidenschaftlicher Liebesspiele?

»Lady Denham, ich hoffe, ich störe nicht. Hier ist Sheryl Toogood von der Love Birds-Partnervermittlung.«

»Love Birds? Was um alles auf der Welt wollen Sie denn? Und das um diese nachtschlafende Zeit? Das ist ja Jahre her!«

»Ich weiß. Entschuldigen Sie bitte die späte Störung.« Sheryl befleißigte sich ihrer einschmeichelndsten Honig-ums-Maul-schmier-Stimme. »Es ist nur so, dass ich gerade einen umwerfenden Adonis von einem Junggesellen in meine Kartei aufgenommen habe – ein echtes Sahneschnittchen! Und Sie wissen ja, was passiert, wenn ein gut aussehender, alleinstehender Mann auftaucht«, näselte sie, genießerisch ihr Lügennetz spinnend. »Es gibt immer ein gnadenloses Hauen und Stechen, weil jede ihn sich als Erste unter den Nagel reißen will. Gerade habe ich mich darangemacht, die passende Frau für ihn zu suchen – eine ebenbürtige Frau –, ehe es sich herumspricht und die Schlacht am kalten Büffet beginnt. Und da traf mich die Erkenntnis wie ein Schlag! Er wäre einfach der perfekte Mann für Sie! Also wollte ich Ihnen gleich Bescheid geben und mich erkundigen, ob Ihrerseits womöglich Interesse besteht, ihn kennenzulernen. Ich könnte heute Nacht unmöglich ruhig schlafen, wenn ich es nicht wenigstens versucht hätte, Sie beide miteinander bekannt zu machen!«

Eine lange Pause entstand.

»Ich nehme an … ich habe mich gefragt … sind Sie …« – Sheryl versuchte, so beiläufig wie möglich zu klingen – »momentan interessiert an neuen Herrenbekanntschaften?« Sie hielt die Luft an und wartete gespannt auf die Antwort.

Wieder musste sie lange warten. Sheryl kniff vor Spannung die Pobacken zusammen. Schier endlose Sekunden verrannen. Im Hintergrund hörte sie Lady Denhams Wagen diskret schnurren.

»Nun, Ms Toogood«, entgegnete Lady Denham schließlich knapp. »Ihrem unverschämt späten Anruf zum Trotz ist Ihr Timing wirklich ausgezeichnet.«

»Ach?«, erwiderte Sheryl ganz aufgeregt. Nur noch ein paar Schritte, und Lady Denham zappelte in ihrem Netz.

»Wie es der Zufall so will«, fuhr Lady Denham kurz angebunden fort, »hat einer meiner bisherigen Kavaliere mir heute Abend den Laufpass gegeben. Weshalb ich tatsächlich möglicherweise Interesse daran hätte, etwas über den neuen Herrn in Ihrer Kartei zu erfahren. Erzählen Sie mir mehr.«

Sheryl hörte ihr Herz laut in den Ohren pochen. Lady Denham hatte John als ihren ›Kavalier‹ bezeichnet. Also lief da was zwischen den beiden!

»Aber gerne doch, Lady Denham«, entgegnete sie zuckersüß. »Aber das mit Ihrem Kavalier ist ja wirklich schade. Was ist denn passiert?«

»Er hängt seinen Job beim Escort-Service an den Nagel.«

»Escort-Service?«, wiederholte Sheryl ganz kribbelig. »Dann kommt er also von einer Agentur?«

»Nicht von einer Partnervermittlungsagentur, nein. Das hatte sich für mich erledigt, als ich Lord Denham kennenlernte.«

Sheryl konnte ihr Glück kaum fassen. Lady Denham ließ sich ausquetschen wie eine reife Zitrone.

»Sagten Sie, der Herr sei von einem Escort-Service?«

»Ganz genau. Das macht die Sache so viel unkomplizierter. Alle Beteiligten wissen gleich, woran sie sind. Ich habe ihn von Geraldine vermittelt bekommen.«

»Geraldine?«

»Ja. Geraldine Ashby. Hören Sie, ich bin mir noch nicht sicher, ob ich wieder Mitglied Ihrer kleinen Agentur werden möchte, Ms Toogood, aber ich denke, es kann nicht schaden, wenn Sie mir ein bisschen über diesen Herrn erzählen. Vielleicht könnte man zu einer für beide Seiten befriedigenden Vereinbarung kommen, wenn der Herr meinen Ansprüchen genügt.«

Noch während Lady Denham am anderen Ende der Leitung sprach, rief Sheryl bereits die Google-Seite auf ihrem Computer auf und gab den Namen »Geraldine Ashby« ein. Unverfroren log sie Lady Denham daraufhin ein bisschen was von einem umwerfenden neuen Junggesellen vor, wobei sie darauf achtete, ihn nicht als allzu unwiderstehlich zu beschreiben. Schließlich säße sie ganz schön in der Tinte, sollte Lady Denham ihn tatsächlich kennenlernen wollen. Es gab ihn ja gar nicht.

Mittlerweile war eine Webseite mit dem Namen »G. Ashby Appointments« gefunden worden, und Sheryl klickte darauf.

»Hmm, tja, ich weiß nicht«, murmelte Lady Denham wenig überzeugt. »Klingt nicht unbedingt nach dem, was ich suche. Ich fürchte fast, Sie lassen ein wenig nach, Ms Toogood.«

»Ach, was soll’s!« Sheryl klickte auf den Button Unsere Escort-Herren und überflog rasch den kurzen Text am Anfang der Seite. »Wir begleiten Sie zu gesellschaftlichen Anlässen … Diskreter und professioneller Service.«

»Wir sollten uns bald mal zusammensetzen«, flötete sie vage ins Telefon und war mit den Gedanken schon wieder ganz woanders. »Demnächst zum Mittagessen.« Damit ließ sie den Hörer auf die Gabel fallen, ohne eine Antwort abzuwarten. Sie hatte bekommen, was sie wollte. Lady Denham als Kundin zu gewinnen gehörte nicht dazu. Neugierig klickte sie auf den Button mit der Aufschrift Galerie und hielt den Atem an, während sie die Auswahl der männlichen Begleiter durchsah.

Und tatsächlich. Da war er. John Cracknell. Das unverwechselbare Gesicht, ihr von vielen BdP-Bällen vertraut, lächelte ihr sympathisch vom Monitor entgegen. Nur dass er nicht John Cracknell hieß, sondern John Marlowe. Seine Interessen waren das aktuelle Weltgeschehen, Sport und Gärtnern. Er war einundvierzig, und man konnte ihn zum Höchstsatz der Agentur G. Ashby Appointments für einen Abend buchen.

Zufrieden lehnte Sheryl sich zurück und lächelte siegesgewiss.

»Erwischt!«, trompetete sie laut durch ihr leeres Büro.