Alice

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Alice stolperte zur Haustür herein und zog sich den Fahrradhelm vom Kopf, unter dem hochrote Wangen und platt gedrückte, verschwitzte Haare zum Vorschein kamen. Eine Dame zu sein erwies sich als wesentlich komplizierter – ganz zu schweigen von kostspieliger – als gedacht.

Kleid und Schuhe zu kaufen war eine Sache, aber so langsam lief die ganze Geschichte völlig aus dem Ruder. Ihre Ausstattung kostete ein Vermögen, und jede abgehakte Erledigung (wie beispielsweise den Nagellack auszusuchen) führte zu einer neuen Aufgabe (ihre Nägel in Form zu bringen). Es war eine albtraumhafte feminine Variation dieser russischen Matruschka-Püppchen, eine endlose Kette unablässigen Verschönerns, Stutzens und Zupfens. Und wenn die Vorbereitungen auf den Ball ihr schon eine Heidenangst einjagten, dann würde ihr die Vorstellung, tatsächlich dorthin zu gehen, wie der Countdown zu einem massiven chirurgischen Eingriff ohne jedwede Betäubung vorkommen. Langsam fragte sich Alice, ob Audreys Einladung zum Ball womöglich eine geniale Art der Folter war.

Der jüngste Ballnotfall drehte sich um die vollkommen lächerliche Frage des Make-ups. Oder vielmehr darum, dass Alice quasi in letzter Minute auffiel, keinerlei Schminkutensilien zu besitzen. Am Nachmittag hatte Hilary sie ganz beiläufig gefragt, wie sie sich für den Ball denn schminken würde. Noch nie hatte irgendwer Alice mit mehr Make-up im Gesicht gesehen als einem kaum wahrnehmbaren Hauch Wimperntusche um die Augen und einem kleinen Klecks Vaseline auf den Lippen. Alice war kreidebleich geworden. Make-up war eine ganz neue Hürde, die es zu nehmen galt. Eine rasche bürointerne Umfrage (Audrey war zum Glück gerade außer Haus) hatte ergeben, dass es selbst Cassandra für eine Katastrophe hielte, würde Alice vollkommen ungeschminkt zum Ball gehen. Bis dahin waren es aber nur noch vierundzwanzig Stunden, und Alice wusste gar nicht, wo sie anfangen sollte.

Zu Hause in ihrer Wohnung ließ sie die Einkaufstüte mit den frisch erstandenen Schminksachen auf den Sessel fallen und hörte die kleinen Töpfchen und Tiegelchen mit Creme und Farbe darin mit einem teuren Scheppern aneinanderklirren. Die letzten Stunden hatte sie damit zugebracht, sich unbehaglich im vollkommen unbekannten Terrain einer Kosmetikabteilung herumzudrücken, wobei sie geflissentlich den Blicken der Furcht einflößenden Verkäuferinnen ausgewichen war. Sie war sich vorgekommen wie Crocodile Dundee, während sie verdattert kleine Tuben mit lichtreflektierendem Dies und kaschmirzartem Das in die Hand nahm. Wehmütig fiel ihr Blick auf die Tüte mit den Einkäufen; wieder hundert Pfund zum Fenster rausgeworfen.

Alice schaute auf die Uhr. Die Zeit verging wie im Flug, und sie hatte bisher weder gekocht noch gegessen, geschweige denn sich die Beine rasiert, die Haare gewaschen oder sich die zwei Stunden Zeit genommen, die sie brauchen würde, um sich die Nägel zu lackieren, ohne Finger und Zehen mit anzumalen. Und nun musste sie auch noch die Sache mit dem Make-up hinbekommen. Der Abend erschien ihr plötzlich viel zu kurz.

Fest presste sie beide Hände auf den Bauch, um ihre hysterisch flatternden Nerven zu beruhigen. Es war schwer zu sagen, wovor sie sich am meisten fürchtete.

Zunächst war da die Panik davor, sich zwanglos mit Audrey unterhalten zu müssen.

Und nicht nur das, außerdem war auch noch Audreys endlose Liste von Regeln penibel zu befolgen. Und das waren so viele, dass Alice sich nicht mal mehr an alle erinnern, geschweige denn es vermeiden konnte, eine oder mehrere davon zu brechen.

Und schließlich die panische Angst davor, sich öffentlich in ihrem neuen Kleid und den hohen Schuhen zu zeigen. So ausstaffiert in ihrer eigenen Wohnung herumzustolzieren und sich als unwiderstehliche Femme Fatale zu fühlen war eine Sache, aber damit tatsächlich vor die Tür zu gehen? Sie, die unscheinbare, langweilige Alice Brown …? Bestimmt würde sie auf den hohen Absätzen stolpern und sich zum Affen machen.

Fehlte nur noch das Problem mit dem Schminken (warum hatte sie das nicht schon seit ihrem dreizehnten Lebensjahr geübt, so wie alle anderen auch?).

Zum krönenden Abschluss kam ihr dann auch noch der entsetzliche Gedanke, Sheryl Toogood wiederzusehen.

Direkt nach ihrem Gespräch mit Ginny hatte Alice eine kleine Nachtschicht eingelegt und Sheryl eine E-Mail geschrieben. Darin hatte sie ihr höflich für das Angebot gedankt und es freundlich, aber bestimmt ausgeschlagen. Je länger sie über Sheryl und ihre Vermittlungspraktiken nachdachte, desto übler wurde ihr. Sie fürchtete, dass Sheryl keine Frau war, die sich so einfach abweisen ließ, erst recht nicht von einem kleinen Fisch wie Alice.

Heute Abend würde ein flüssiges Abendessen genügen müssen, entschied sie und durchsuchte die Küchenschränke nach einer Flasche Wein. Zum Essen war sie viel zu nervös. Sie schaffte es gerade so, mit zitternden Händen ein Glas vollzuschenken. Kurz war sie versucht, den Wein einfach aus der Flasche zu trinken.