Kate

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Insgeheim genoss Kate es, wenn sie und Tommy alle Vorsichtsmaßnahmen außer Acht ließen und ohne Verhütung miteinander schliefen. Natürlich wusste sie, wie unvernünftig das war, schließlich hatten sie sich gerade erst kennengelernt. Aber manchmal ging es einfach mit ihr durch. Und Tommy erging es allem Anschein nach ähnlich.

Wie beispielsweise heute Abend. Beide hatten sie unbedingt den neuen Blockbuster-Film im Kino sehen wollen. Aber nach gerade mal der Hälfte des Streifens, die sie so eng aneinandergeschmiegt verbracht hatten, wie die Armlehnen und die Riesentüte Popcorn zwischen ihnen es zuließen, hatte Tommy sich plötzlich zu ihr rübergebeugt und ihr mit seinem heißen Atem ins Ohr geflüstert: »Ich will dich.«

Keine sechzig Sekunden später stand Kate gegen die Trennwand eines Toilettenabteils gedrückt, und die Popcorntüte kippte um, sodass sich ihr zuckriger Inhalt auf den Boden ergoss wie ein Klischee aus einem nicht jugendfreien B-Movie, während Kate sich ganz dem Augenblick hingab. Kurz wünschte sie, Lou könne sie so sehen. Der würden bestimmt die Augen aus dem Kopf fallen. Die Kate, die Lou kannte – die alte Kate –, hätte niemals Sex auf dem Damenklo eines kleinen Kinos gehabt, dachte sie genüsslich. Die alte Kate hätte es erst gar nicht ins Kino geschafft; die säße jetzt noch brav am Schreibtisch, um Pressemitteilungen zu schreiben und umzuschreiben und noch mal umzuschreiben, bis sie absolut perfekt waren.

»Ich komme«, stöhnte Tommy ihr plötzlich ins Ohr.

Kate spürte, wie er sich zurückziehen wollte, und griff sanft, aber bestimmt an seinen Po und hielt ihn fest.

»Schon okay«, wisperte sie und spürte das Adrenalin gefährlich durch ihren Körper pulsieren.

»Sicher?« Tommy hielt inne und legte den Kopf in den Nacken, um sie anzusehen. »Ist das nicht zu gefährlich?«

Kate widerstand der Versuchung, ihm eine ehrliche Antwort darauf zu geben: dass die Gefahr dabei ja gerade das Kribbelnde war und dass die Vorstellung, dieser umwerfende, rebellische, raue Kerl, der sich einen Dreck darum scherte, irgendeine sinnlose Karriereleiter hochzuklettern, und der es schaffte, dass ihr Magen jedes Mal, wenn sie ihn sah, aufs Neue Purzelbäume schlug, sie schwängerte, so ziemlich das Erregendste war, was sie sich vorstellen konnte.

»Heute ist es okay«, keuchte sie. »Fick mich einfach!« Und damit zog sie ihn fest an sich und machte sich keine Gedanken mehr darüber, dass die alte Kate niemals das Wort mit F benutzt hätte.

Nachher war es viel zu spät, um wieder in die Vorstellung zu gehen und den Film zu Ende anzusehen. Außerdem hatten die Verfolgungsjagden und Explosionen ihren Reiz für sie verloren.

»Soll ich dir sagen, was ich jetzt am liebsten machen würde?«, fragte Tommy, als sie nach draußen in die kühle Abendluft traten. Schützend zog er Kates Hand in seine warme Armbeuge.

»Was denn?«, flüsterte sie mit großen verträumten Augen und schaute zu ihm auf.

Auch wenn sie ihm streng genommen die Wahrheit gesagt hatte, nämlich, dass die Wahrscheinlichkeit relativ gering war, an diesem Tag ihres Zyklus schwanger zu werden (die alte Kate lebte schließlich noch und hatte sich eigens an diesem Morgen auf der Webseite des staatlichen Gesundheitsdienstes informiert, an welchen Tagen eine Schwangerschaft eher unwahrscheinlich war), war sie doch noch ganz aufgedreht. Was sie getan hatte, war riskant und unglaublich aufregend gewesen, und es war sogar noch mehr als das. Stillschweigend hatten sie neues Terrain betreten.

»Zu dir nach Hause gehen und da weitermachen, wo wir eben aufgehört haben«, antwortete er mit einem schelmischen Grinsen. Kate hätte vor Freude herumhüpfen können wie ein kleines Kind. Gemeinsam machten sie sich auf den Weg zu ihrer Wohnung.

»Vermutlich sollten wir lieber demnächst Kondome kaufen, nur um ganz sicherzugehen«, bemerkte sie vernünftig und versuchte, sich ihre eigene Enttäuschung angesichts dieser Vorstellung nicht anmerken zu lassen.

»Richtig«, stimmte Tommy ihr gelassen zu. Und dann blieb er plötzlich stehen und nahm sie in den Arm. »Ach, zum Teufel damit! Du weißt, dass ich ganz verrückt nach dir bin, oder, Kate?«

Kates Herz machte einen Satz und schien dann stillzustehen. Sie schaute ihn an. Er war wirklich der umwerfendste Mann, den sie je gesehen hatte.

Vor einem teuer wirkenden Restaurant blieben sie stehen, und das weiche Licht aus dem Foyer, das auf die Straße fiel, leuchtete Tommy ins Gesicht.

»Was ich damit sagen will, ist … Ich weiß, wir sollten vernünftig sein, aber …« Und dann grinste er. »Du kennst mich doch, Kate; ich spiele nicht gerne Spielchen – ich hab einfach keine Lust, die Regeln zu lernen. Sicher wirst du mir jetzt sagen, dass man erst soundso viele Dates abwarten muss, bevor man so was sagt, und dass der Mond in Konjunktion mit Jupiter stehen muss, und dass du dabei ein smaragdgrünes Kleid tragen solltest, aber zum Teufel damit. Ich lebe nun mal nicht gerne nach irgendwelchen Regeln. Also sage ich es dir jetzt einfach geradeheraus: Ich liebe dich, Kate. Ich liebe dich, ich liebe dich, ich liebe dich!«

Und so kam es, dass an einem Ort, den sie niemals ausgewählt hätte, mit einem Mann, den sie nie für möglich gehalten hätte, und in einem Outfit, das ganz eindeutig noch aus der letzten Saison stammte, Kates Herz aufglühte wie ein ganzes Feuerwerk und sie die magischen drei Worte sprach. Nun ja, streng genommen waren es eigentlich neun.

»Ich liebe dich, Tommy. Ich liebe dich über alles.«

Und dann gaben sie sich den wunderbarsten, romantischsten Kuss, den man sich vorstellen konnte.

»Und was die Verhütung angeht …«, fügte Tommy hinzu, als sie sich schließlich voneinander lösten und beide erst einmal tief durchatmeten. »Das musst du entscheiden. Aber wenn du mich fragst, was könnte schon schlimmstenfalls passieren? Du wirst schwanger, und wir beide leben glücklich bis ans Ende unserer Tage. Also, ich finde, das klingt gar nicht so übel!«

»Nein«, keuchte Kate, die vor Aufregung kaum ein Wort herausbrachte. »Ganz und gar nicht übel!«

»Dann wollen wir es also riskieren? Und wild und gefährlich leben?«

Überglücklich grinsten sich die beiden in der Dunkelheit an.

Da stolperte plötzlich eine Frau von den Stufen vor dem Restaurant mitten auf die Straße und zerstörte ihren besonderen Augenblick, weil sie wie blind in sie hineinrauschte. Sie schluchzte hysterisch, und ihre Tränen mischten sich mit Rotz, als sie nach Luft schnappend in die Abendluft hinausstürzte. Instinktiv streckte Kate die Arme nach ihr aus, um sie zu stützen, damit sie nicht hinfiel.

»Ms Cracknell?«, fragte sie verdattert. »Ist alles in Ordnung?«

Aber da rannte die Frau schon in Richtung Kino davon.

»Kennst du die?«, fragte Tommy und schaute der Gestalt hinterher, die immer kleiner wurde.

»Ich glaube schon.« Besorgt blickte Kate ihr nach. »Ich bin mir fast sicher, dass das die Dame von Table For Two ist, die Inhaberin der Agentur. Aber das kann eigentlich nicht sein. Normalerweise wirkt sie so … beherrscht.«

»Hey, wo wir gerade bei Table For Two sind … das habe ich dir noch gar nicht erzählt, was?«, fragte Tommy plötzlich, und seine Stimme klang angeregt amüsiert. »Erinnerst du dich noch an meinen Kumpel Steve? Tja, Alice ist ihm wohl auf die Schliche gekommen.«

»Auf die Schliche gekommen?«

»Ja. Also, es ist so: Steve ist eigentlich nicht da hingegangen, um die Frau fürs Leben zu finden. Er ist nur Mitglied geworden, weil er schon seit über einem Jahr keine Frau mehr ins Bett gekriegt hat, und irgendwie scheint er noch dazu der einzige Mensch im ganzen Universum zu sein, der es nicht schafft, im Internet einen One-Night-Stand klarzumachen. Seine Logik besagte, dass eine Frau, wenn sie verzweifelt genug ist, einer Partnervermittlung Geld zu bezahlen, um Männer kennenzulernen, vielleicht, eventuell, auch so verzweifelt sein könnte, dass sie mit ihm ins Bett steigt!«

»Er ist da nur Mitglied geworden, um Frauen abzuschleppen?«, fragte Kate ungläubig.

»So viele, wie sein Mitgliedsbeitrag hergibt.«

»Hab ich’s doch gewusst, dass da was faul war!«, rief sie. »Es kam mir fast vor, als hätte er seinen Text auswendig gelernt.«

»Hat er ja auch!«, meinte Tommy lachend. »Als er es irgendwann geschafft hat, eine Frau rumzukriegen, hat er es wieder und wieder mit derselben Masche versucht. Wobei seine Erfolgsquote trotzdem nicht besonders hoch war, eins zu zwanzig, würde ich mal schätzen.«

»Ich fasse es einfach nicht!«, staunte Kate. »Das ist so zynisch. So was würde ich sonst nur Lou zutrauen!«

»Tja, wie dem auch sei, deine Freundin Alice hat ihn auffliegen lassen«, fuhr Tommy fort, »und Steve bekam plötzlich keine Verabredungen mehr frei Haus geliefert. Also hat er bei Table For Two gekündigt und sich eine neue Agentur gesucht. Er hat alles genauestens geplant und ist dann gleich Mitglied in einem anderen Laden geworden. Die Chefin dort muss wohl ein unersättlicher männerverschlingender Vamp sein. Und nun bildet Steve sich ein, bei ihr landen zu können!«

»Dieser verlogene Mistkerl!«, entgegnete Kate gedankenverloren, während sie in nostalgischen Erinnerungen schwelgte. Denn plötzlich war ihr aufgegangen, wie sehr ihre beste Freundin ihr fehlte.