Lou
Trotzig stolzierte Lou an den Berufspendlern vorbei, drängelte sich durch die Menschenmassen und ignorierte die missbilligenden Blicke, die sie dafür erntete. Nichts konnte sie von ihrer Mission abhalten, die da lautete, so schnell wie möglich nach Hause zu kommen.
Sie wollte nichts lieber, als die Haustür hinter sich zuziehen, sich die Klamotten von gestern Abend vom Leib reißen und sich das Make-up aus dem Gesicht wischen. Ihre Aufmachung – die gestern noch so sexy gewirkt hatte – brannte nun wie ein giftiger Film auf ihrer Haut. Aber wenn sie sich jetzt vorstellte, wie sie in die siedend heiße Badewanne stieg, würde sie vermutlich gleich anfangen zu weinen. Und das kam überhaupt nicht in die Tüte.
Aus den Augenwinkeln sah sie, wie eine Geschäftsfrau sie mit unverhohlener Abneigung musterte und zweifellos Lous Ledermini und die Netzstrümpfe mit ihrem dezenten A-Linienkleid und den Strumpfhosen im dreistelligen DEN-Bereich verglich. Lou guckte sie herausfordernd an und hob dann ganz langsam den gestreckten Mittelfinger. Schnell schaute die Frau weg, mit hochroten Wangen, und Lou freute sich diebisch. Seit Jahren hatte sie niemandem mehr den Stinkefinger gezeigt!
Als sie den Bus um die Ecke biegen sah, zwang sie ihre Zwölf-Zentimeter-Stilettos zu einem ungelenken Sprint zur Haltestelle. Schnell kletterte sie hinein, übersah geflissentlich die unzähligen missbilligenden Blicke, die sie empfingen, und marschierte zu einem freien Sitzplatz. Der Bus fuhr los, und sie rechnete rasch nach, wie viele Minuten sie noch von zu Hause trennten.
Am Abend zuvor war der Plan ihr noch perfekt erschienen. Wie erhofft war Simon mittlerweile Stammgast in der Bar geworden. Es war harte Arbeit gewesen, aber nach und nach hatte Lou herausgefunden, dass er im mittleren Management einer Bank arbeitete und Spionagethriller, Kinofilme und Cidre mochte. Einmal im Monat besuchte er seine Eltern, er hatte immer saubere Fingernägel, und – das Wichtigste – er war Single. Es war an der Zeit, Operation Wir-vögeln-Mr-Nice-Guy zu starten. Sie würde es Kate schon noch zeigen. Falls Lou überhaupt jemals wieder mit ihr reden würde.
Außerdem fing sie ihren ursprünglichen Motiven zum Trotz langsam an, Simon zu mögen. Er war anders; so nett. Er betrank sich nicht bis zur Bewusstlosigkeit und begaffte nicht jede Frau, die hereinkam. Er war still und klug und stellte Lou interessierte Fragen. Vielleicht hatte Kate ja doch Recht mit ihrem Fester-Freund-Gefasel. Vielleicht wäre es wirklich ganz nett, jemand würde sie abends, wenn sie von der Arbeit nach Hause kam, fragen, ob sie einen schönen Tag gehabt hatte, ihr ein Glas Wein einschenken, sie irgendwann seiner Mutter vorstellen. Warum sollte ihr das nicht auch mal passieren, ausnahmsweise? Warum sollte der nette Junge von nebenan sich nicht in sie verlieben und mit ihr zusammen sein wollen?
Nach etlichen Wochen Smalltalk beschloss Lou schließlich, es sei genug des Vorspiels. Sie machte sich bereit zum Angriff.
Mit besonderer Sorgfalt legte sie sich ein Outfit zurecht. Simon war nicht wie die anderen Männer; er war schüchtern und zurückhaltend, und Lous zweideutige Anspielungen schien er stets zu überhören. Deshalb musste sie deutlicher werden und jegliche Zweifel ausmerzen: Mit Ledermini, Netzstrümpfen und High Heels machte sie ihre eindeutigen Absichten so deutlich wie irgend möglich.
Sobald Simon auftauchte, waren alle anderen Stammgäste vergessen. Lou scharwenzelte an seinem Tisch vorbei und griff sogar selbst ins Portemonnaie, um ihm noch ein Pint auszugeben, als es den Anschein hatte, er wollte nach Hause gehen. Schließlich – es war spät geworden, und die Bar leerte sich merklich – griff sie ihn sich.
»Noch Lust auf einen Absacker irgendwo?«
»Ähm, na ja. Ich glaube, ich habe schon genug getrunken«, antwortete er beschwipst.
»Ich dachte nur. Mein Stammtaxifahrer hat nämlich eben angerufen und mir gesagt, dass er mich heute Abend nicht abholen kann«, schwindelte Lou, ohne rot zu werden. »Vielleicht könntest du mich nach meiner Schicht zum Taxistand bringen?«
»Ähm.« Simon zögerte wenig begeistert. Lou merkte, wie er sich zusammenreißen musste, um nicht auf die Uhr zu schauen. Doch seine wohlerzogene Art gewann schließlich die Oberhand. »Klar«, entgegnete er.
Die erste Runde ging an sie. Bald wäre der Kerl Wachs in ihren Händen.
Absichtlich ging sie mit ihm zum schlimmsten Taxistand der gesamten Innenstadt, der mit den längsten Schlangen und den wenigsten Taxen. Nach zwanzig Minuten vergeblichen Wartens drehte sie sich gähnend zu Simon um und sagte: »Das wird nie was. Kann ich bei dir auf der Couch schlafen?«
Simon hustete. Noch bevor er etwas erwidern konnte, hatte Lou sich auch schon bei ihm untergehakt und dirigierte ihn weg vom Taxistand.
»Na komm«, sagte sie und kuschelte sich an ihn. »Mir ist eiskalt. Gehen wir.«
»Willst du meine …?« Höflich bot Simon ihr seine Jacke an.
»Dann frieren wir beide. Nein, am besten nimmst du mich einfach in den Arm.«
Gehorsam legte Simon ihr etwas steif den Arm um die Schultern, und sie gingen gemeinsam zu seiner Wohnung.
Lou zählte fest darauf, dass Simon – unter all der steifen Höflichkeit – im Grunde genommen auch nur ein Mann wie jeder andere war. Bei ihm zu Hause angekommen (eine Loft-Wohnung am Fluss; Kate würde morden für einen Mann mit so einer Wohnung), führte Lou ihn schnurstracks ins Schlafzimmer. Sie würde ihn schon noch dazu bringen, dass er sie wollte. Sie würde dafür sorgen, dass er vor ihr auf die Knie fiel und um mehr bettelte. Dann würde sie ihn reiten wie einen Hengst beim Grand National und ihn ficken, wie er noch nie in seinem kleinen Mittelschichtleben gefickt worden war.
Nach einer Stunde absolut nicht jugendfreien Vorspiels, bei dem Lou alles bis auf Stilettos und Ledermini ausgezogen hatte, war sie schließlich zu dem Schluss gekommen, dass es nun reichte mit den Sperenzchen. Außerdem wirkte er bereits ein wenig müde, und sie wollte ja nicht, dass er mittendrin einschlief. Also war sie auf alle viere gegangen, hatte ihren Rock hochgeschoben und ihn regelrecht angebettelt, sie von hinten zu nehmen. Zögerlich war er in sie eingedrungen, als wolle er ihr nicht wehtun, und sie hatte ihn ermuntert, ihr einen Klaps – aber richtig feste – auf den Po zu geben. Lasch war seine Hand daraufhin seitlich an ihre Hüfte geklatscht – mit der sexuellen Aggression eines Wackelpuddings –, worauf sie ihm eindrucksvoll gezeigt hatte, was sie meinte, indem sie sich selbst mit einem ohrenbetäubenden Knall auf die Pobacken gehauen hatte.
Es wurde spät und immer später, aber Lou gönnte Simon keine Pause. Sie musste daran denken, dass Sekten ihre Opfer häufig einer Gehirnwäsche durch Schlafentzug unterzogen, und kam zu dem Schluss, das sei auch in seinem Fall eine gute Strategie. Sie zog jedes Register – stöhnen, sich winden und ihn anflehen, sie härter zu nehmen, fester anzufassen, so rücksichtslos zu sein, wie er wollte. Der Hals tat ihr weh von all den ekstatischen Verzückungsschreien. Irgendwann zählte sie nicht mehr mit, wie viele Orgasmen sie ihm vorgespielt hatte.
Und Simon hatte es gefallen. Oder etwa nicht? Okay, er war nicht ganz so begeistert bei der Sache gewesen wie der Taxifahrer und nicht halb so versaut wie Tony. Ihr Pornostar-Talk und ihre professionellen Positionswechsel schienen ihm ein wenig peinlich. Aber er hatte mitgemacht. Er hatte nicht Nein gesagt. Er war gekommen, verdammt noch mal!
Und trotzdem …
Hinten im Bus sitzend wand Lou sich unbehaglich, als sie daran dachte, wie verhalten er reagiert hatte. Begeisterung sah jedenfalls anders aus. Er hatte alles mit sich machen lassen, mehr aber auch nicht. Und als sie ihn endlich zum Ende kommen ließ, hatte er sich schnell die Decke bis zum Kinn hochgezogen, ihr verlegen eine gute Nacht gewünscht und fast auf der Bettkante geschlafen, so weit wie möglich weg von ihr.
Lou wandte den Blick vom Busfenster in ihren Schoß. Langsam dämmerte es ihr. Es hatte ihm keinen Spaß gemacht. Sie hatte ihn in die Ecke gedrängt, und er war zu höflich gewesen, um sie abzuweisen. Die Schamesröte stieg ihr brennend in die Wangen. Und dann fiel ihr Blick auf ihren Rock: Auf dem schwarzen Leder prangte ein kleiner, verkrusteter weißer Fleck; ein inkriminierender Beweis dafür, was sie letzte Nacht getrieben hatte. Brennend vor Scham kratzte sie den Spermaspritzer von ihrem Rock und fegte die Reste unauffällig auf den Boden.
Irgendwann bog der Bus schließlich ruckelnd in ihre Straße, und Lou stürzte erleichtert zum Halteknopf.
Beim Aufwachen hatte sie sich noch so gut gefühlt. Sie hatte es geschafft und sich einen netten, anständigen Kerl geangelt! Sie war neben ihm im Bett aufgewacht (die netten Jungs vögelten einen nicht einfach in einem dunklen Hinterhof, bei denen durfte man übernachten!), und sie war schon fast seine feste Freundin. Zufrieden hatte sie sich umgedreht, glücklich und erwartungsvoll Simons Rücken betrachtet und voller Vorfreude auf den Augenblick gewartet, in dem er sich zu ihr umdrehte und sie zärtlich in die Arme nahm.
Aber …
Er hatte sich nicht umgedreht. Er hatte sie nicht mal angeschaut. Nein, stattdessen war er, ohne sie eines Blickes zu würdigen, unauffällig aus dem Bett geschlüpft, hatte rasch seine Sachen zusammengesucht und sich angezogen. Was letzte Nacht passiert war, täte ihm leid, sagte er. Er hätte die Situation nicht ausnützen dürfen. Er werde ihr ein Taxi rufen und ihr das Geld für die Fahrt geben.
»Aber du hast mich doch nicht ausgenützt!«, hatte Lou ungläubig entgegnet. »Ich wollte es doch. Und du …« Sie hatte sich vorgebeugt und ihn streicheln wollen, dann aber gemerkt, wie er vor ihrer Berührung zurückwich. »Du warst großartig. Ein echtes Tier!«
Es werde nie wieder vorkommen, hatte er versprochen. Es täte ihm leid, ihr etwas vorgemacht zu haben.
»Aber wo liegt denn das Problem?«, hatte Lou wissen wollen. »Du bist Single, ich bin Single. Ich dachte, wir beide könnten … uns öfter sehen.«
Es täte ihm leid, aber er halte das für keine gute Idee.
»Aber wir hatten doch Spaß zusammen.«
Es sei kompliziert.
»Wie, kompliziert?«
Vielleicht nicht unbedingt kompliziert. Es sei bloß so, dass er momentan keine Beziehung wolle.
»Klar willst du das! Typen wie du wollen immer eine Beziehung«, hatte Lou beharrt.
Nach ein paar Minuten war er schließlich mit der Wahrheit herausgerückt.
Ja, er wolle tatsächlich eine Beziehung, aber nicht mit ihr.
»Eine Barkeeperin ist dir wohl nicht gut genug?«, hatte Lou verächtlich ausgespien. »Nicht anständig genug, um sie deiner Mami vorzustellen, was?«
Dann hatte er ein Taxi gerufen.
»Aber ich dachte, diesmal ist es anders«, hörte Lou sich betteln. »Ich dachte, wir wären auf der gleichen Wellenlänge!«
Lou sah ihre Haustür schon von Weitem und ließ sie nicht mehr aus dem Blick. Alles andere blendete sie aus, hörte nicht, wie ihre Stilettos auf dem Bürgersteig klackerten, hörte nicht die dröhnende Hupe eines Autos und das anzügliche Pfeifen eines vorbeigehenden Schuljungen. Mit Tunnelblick fixierte sie die Haustür. Drinnen konnte sie sich gehen lassen: die Klamotten ausziehen, die knallroten Lippen mit Klopapier abwischen und sich wie ein Häufchen Elend auf dem Teppich zusammenringeln.
Warum nur sahen die Männer sie nicht? Warum sahen sie nicht sie, sondern nur ihren Arsch oder ihre Titten oder ihr angemaltes Gesicht? Warum war es ihnen egal, dass sie klug war und interessant, alle Klassiker gelesen hatte, bei Quizshows wie Countdown ein echter Knaller war und bei Partys ein schlagfertiger, witziger und gerne gesehener Gast? Sie konnte es locker mit den anderen Mädels aufnehmen. Und mehr noch! Mit ihr konnte man sich über Politik und Sport unterhalten. Sie ging gerne wandern und ins Kino. Sie konnte einen ordentlichen Braten zubereiten für ihren Kerl, nett mit seiner Mutter plaudern und mit seinem Hund spielen.
Aber wie groß war die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mann das kapierte, fragte sie sich niedergeschlagen, wenn es nicht mal ihre beste Freundin merkte?
Kate.
Warum konnte sie nicht so sein wie Kate?
Wäre sie Kate, dann würde sie auf keinen Fall ihr Leben vergeuden, indem sie sich im Büro versteckte oder sich Gedanken darüber machte, ob ihre Hüften zu breit waren. Und sie hätte im Handumdrehen einen Freund. Kate war absolut liebenswert. Nicht wie sie. Sie war nur fickenswert. Gut zum Vögeln, aber nicht zum Verlieben.
Lou war vor der Haustür des Apartmentblocks angekommen. Und dann ließ sie die ganze böse Welt hinter sich, rannte die Treppe hinauf und achtete nicht mehr darauf, dass die Tränen ihr ungehindert über das Gesicht liefen.
Warum kapierte denn niemand, dass sie im Grunde genommen genau dasselbe wollte wie Kate? Einen Mann, ein Zuhause, eine Familie. Wobei sie das natürlich niemals zugeben würde. Die Leute würden sie auslachen. Sie war einfach nicht der Typ dazu. Aber was für ein Typ sollte das eigentlich sein? Wieso sollte Kate ein Monopol haben auf ein Märchen-Happy-End?
Lou knallte die Wohnungstür hinter sich zu, wand sich aus ihren Sachen und warf alles in die Wäschetonne. Und dann weinte sie. Ziemlich lange.