KAPITEL 103

Der Camel Club drängte sich um Alex Fords Bett. Der Agent starrte sie an. Annabelle ergriff fest seine Hand, während ihr Tränen über die Wangen rannen.

Reuben und Caleb wechselten ein Lächeln. »Vergiss nicht, keine Blumen für den Mann«, flüsterte Reuben Caleb zu.

Stone trat näher ans Bett und betrachtete den Freund. Alex konnte noch immer nicht sprechen, und die Ärzte hatten sie gewarnt, dass das Ausmaß seiner Verletzungen noch unbekannt sei, weil Teile seines Gehirns in Mitleidenschaft gezogen worden waren.

»Möglicherweise wird er vollständig genesen. Möglicherweise aber auch nur teilweise«, hatte der Chirurg gesagt.

»Aber er wird leben«, hatte Annabelle erwidert.

»Ja. Er wird leben.«

Stone legte Alex sanft die Hand auf die Schulter. »Es ist … schön, dich wiederzuhaben, Alex«, sagte er stockend.

Alex blinzelte ihn nur an. Seine Lippen blieben ein schmaler Strich.

Annabelle beugte sich näher an ihn heran. »Wir werden dich auf jedem Schritt begleiten, Alex, auf jedem Schritt.«

Er drückte ihre Hand.

* * *

Spät an diesem Abend saß Stone in seinem Häuschen am Schreibtisch. Es gab viel, über das er nachdenken musste, aber eigentlich wollte er sich nicht damit beschäftigen. Er hatte das unbefristete Angebot, wieder für die Regierung zu arbeiten, in jeder gewünschten Position. Er hatte dem Direktor des FBI versprochen, sich deswegen bei ihm zu melden, hatte aber nicht gesagt, wann das sein würde.

Man hatte Carmen Escalante ins Zeugenschutzprogramm aufgenommen, für den Fall, dass Carlos Montoya seine Wut an ihr auslassen wollte. Stone bezweifelte, dass sie sich große Sorgen machen musste. Die Welt kannte jetzt die Wahrheit über Montoya und wusste, dass er hinter dem Anschlag im Lafayette Park und allem anderen steckte. Stone bezweifelte überdies, dass Montoya noch ein langes Leben hatte. Entweder würde jemand in seiner Organisation die Gelegenheit ergreifen und sein Kartell übernehmen, oder die Russen würden ihn umbringen, weil er versucht hatte, ihnen die lange Liste von Verbrechen anzuhängen. Oder die Amerikaner erwischten ihn.

Im Grunde war es Stone egal, wer ihn tötete.

Und die Nanobots, die Spuren von Bomben und Drogen verändern konnten? Nun, ihretwegen würden das ATF und der Rest der verbrechensbekämpfenden Welt noch viele schlaflose Nächte verbringen.

Obwohl er es nicht wollte, wandten seine Gedanken sich Marisa Friedman zu.

Sie hatte eine einsame Insel für sie gekauft.

Wir sind uns viel ähnlicher, als du jemals zugeben würdest, John Carr.

Da hatte sie sich geirrt. Sie waren sich überhaupt nicht ähnlich.

Oder doch?

Stone starrte auf die Schreibtischplatte und versuchte, die Folgen seiner plötzlichen Selbstzweifel in den Griff zu bekommen, als er den kleinen roten Punkt entdeckte, der über das alte, zerfurchte Holz zitterte. Er sah aus wie eine brennende Mücke. Der Punkt glitt weiter über den Tisch, sprang auf ihn über, erklomm seine Brust, huschte über sein Gesicht und verharrte dann mitten auf seiner Stirn, wie er vermutete.

»Ehrlich gesagt habe ich Sie früher erwartet«, sagte er in die Dunkelheit.

Mary Chapman tauchte vor ihm auf. Ihre Walther mit der Laserzielvorrichtung war auf ihn gerichtet.

»Tut mir leid, normalerweise bin ich pünktlich. Wann haben Sie es gewusst?«

»Ich weiß, dass der MI6 sich nicht den Luxus leisten kann, seine beste Agentin ohne guten Grund in Übersee herumlungern zu lassen. Sie hätten schon vor langer Zeit einen neuen Auftrag zugeteilt bekommen und in die Heimat zurückkehren müssen. Dass das nicht geschehen ist, hat mir verraten, dass Sie einen anderen Auftrag haben. Und es ging nicht allein darum, mich im Auge zu behalten. Hier gibt es eine Menge anderer Leute, die das erledigen können.«

»Gut gemacht. Aber ich bin auch geblieben, um Ihnen bei der Aufklärung dieses Falles zu helfen und Sie vor Schaden zu bewahren. War das nicht auch Watsons Aufgabe bei Holmes? Die Pistole zu tragen und hin und wieder zwielichtige Gestalten zu erschießen? Und über die Schlussfolgerungen des Meisters zu staunen?«

»Sie haben die Geschichten doch angeblich nie gelesen.«

»Ich habe gelogen. Tatsächlich habe ich sie geliebt. Aber ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen, dass es mir Spaß gemacht hat, den Watson für Ihren Holmes zu spielen.«

»Wer hat Sie beauftragt, mich zu töten? McElroy?«

»Sir James mag Sie wirklich. Er glaubte, dass ich Sie nur beobachte. Manche Dinge muss ich sogar vor meinem Paten geheim halten. Nein, wenn Sie nach dem Verantwortlichen suchen, würde ich an Ihrer Stelle in Ihrer näheren Umgebung suchen. Wir und die Yankees spielen sehr gut zusammen. Das wissen Sie doch.«

»Also Weaver?«

»Wie sagt ihr Amerikaner? Ich kann das weder bestätigen noch verneinen. Aber ich streite es nicht energisch ab.«

»Also beauftragt der Chef des NIC den britischen Geheimdienst, einen amerikanischen Staatsbürger zu ermorden?«

»Finden Sie es nicht toll, wie die verdammte Welt heutzutage funktioniert?«

»Was ist mit dem Präsidenten? Weiß er Bescheid?«

Hat mir der Mann in Camp David ins Gesicht gelogen? Nachdem ich ihm das Leben gerettet habe? Schon wieder?

»Das weiß ich wirklich nicht. Aber falls Weaver das ohne sein Wissen oder seine Zustimmung tut, ist das ganz schön dreist. Sie müssen wirklich ein böser Junge gewesen sein.«

»Ich teile so gut aus, wie ich einstecke.«

»Da mache ich Ihnen keinen Vorwurf.«

»Also sind Sie auf der anderen Seite des Teiches eine Attentäterin im offiziellen Auftrag?«

»So ähnlich, wie Sie es hier waren. Gelegentlich untersuche ich auch Fälle oder rette die Welt für die Königin, aber hauptsächlich knalle ich lästige Gegner ab.«

»Sie sind bestimmt sehr gut darin.«

»Das waren Sie auch. Vielleicht waren Sie sogar der Beste, den es je gab.« Sie legte den Kopf schief und lächelte ihn an. »Verraten Sie mir etwas. Haben Sie je einen direkten Befehl verweigert?«

Stone zögerte nicht. »Nur einmal. In der Army.«

»Sind Sie froh, so gehandelt zu haben?«

»Ja.«

»Haben Sie bei der Abteilung 666 je einen Befehl verweigert?«

»Nein.«

»Sind Sie froh, so gehandelt zu haben?«

»Nein. Das bedaure ich in meinem Leben am meisten.«

Sie senkte die Waffe und schob sie ins Halfter. »Nun, das ist mein eines Mal.«

Stone schien überrascht zu sein. »Warum?«

»Aus vielen Gründen, über die ich jetzt nicht reden möchte.«

»Haben Sie keine Nachteile, weil Sie die Mission nicht beendet haben?«

»Ich bin eine Frau, die im Angesicht von Widerstand gern ein Risiko eingeht.«

»Von nun an werden Sie immer auf Ihren Rücken aufpassen müssen.«

»Das tue ich schon, seit ich bei dem Verein mitmache.«

»Sehe ich Sie wieder?«

»Niemand weiß, was die Zukunft bringt.«

Sie drehte sich um und ging zur Tür. Dann schaute sie zurück. »Passen Sie auf sich auf, Oliver Stone. Ach, und noch etwas. Sie können Ihre Waffe jetzt wegstecken. Sie brauchen sie nicht. Jedenfalls nicht für mich. Aber drehen Sie Riley Weaver nicht den Rücken zu. Das wäre ein Fehler. Cheers.«

Einen Augenblick später war Mary Chapman verschwunden.

Langsam legte Stone seine Pistole zurück in die Schreibtischschublade und schob sie zu. Als er den Punkt auf seinem Schreibtisch entdeckt hatte, hatte er die Waffe auf die Öffnung in Kniehöhe der Tischverkleidung gerichtet. Er war froh, dass er nicht hatte schließen müssen. Die Chancen hatten gut gestanden, dass sie sich gegenseitig umgebracht hätten.

Obwohl es spät war, war Stone nicht müde. Er brauchte nicht mehr so viel Schlaf wie früher. Vermutlich das Alter. Er wartete noch eine Weile, dann stand er auf und ging spazieren. Er ging so weit, dass er die Stelle erreichte, an der alles angefangen hatte.

Nicht die Mördergrube. Dort hatte für John Carr alles angefangen.

Er schaute sich im Lafayette Park um. Hier hatte für Oliver Stone alles angefangen. Und aus vielen Gründen wusste er, dass dies der Ort war, an den er gehörte. Er schaute hinüber zum Weißen Haus, wo der Präsident zweifellos ruhig schlief, nachdem er knapp einem Attentatsversuch entkommen war.

Stone schritt die Wege des Parks ab und nickte den Sicherheitsleuten zu, die ihn gut kannten. Er fragte sich, ob Alex Ford hier je wieder auf Posten stehen und seine Pflicht als Sicherheitsbeamter tun würde. Beim Secret Service würde er nun eine Legende sein, ein Held für seinen Präsidenten und sein Land. Stone hätte es vorgezogen, seinen Freund gesund zurückzubekommen.

Seine Gedanken wandten sich Mary Chapman zu, die nun endlich wieder auf ihre Insel zurückkehren würde. Vielleicht würde er über den Großen Teich reisen, um sie wiederzusehen. Vielleicht.

Er setzte sich auf dieselbe Bank, auf der Marisa Friedman an dem Abend gesessen hatte, an dem die Explosion den Lafayette Park erschütterte. Das hatte alles in Bewegung gesetzt. Jetzt war es hier wieder leise und friedlich.

Stone schaute zu dem Ahornbaum, den man kürzlich in sein neues Heim gepflanzt hatte. Er sah aus, als hätte er schon immer dort hingehört.

Genau wie einige Leute.

Genau wie ich.

Oliver Stone lehnte sich zurück, nahm einen tiefen Atemzug und bewunderte die Aussicht.

Der Auftrag
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