KAPITEL 28

Carmen Escalante wohnte in einer Maisonette ein paar Blocks vom Fluss entfernt. Das Haus befand sich in Sichtweite des Baseballstadions der Washington Nationals, hatte aber nicht von der Aufwertung profitiert, die anderen Straßen um das Stadion herum erfahren hatten.

Sie erreichten die Adresse, und Stone klopfte an eine Tür, die von mindestens drei alten Kugeleinschlägen vernarbt war, wie eine rasche Zählung ergab. Sie hörten, wie sich seltsame Geräusche näherten, Schritte und noch etwas anderes. Etwas, das deutlich hörbar auf den Boden knallte. Als die Tür geöffnet wurde, sahen sie eine zierliche Frau in den Zwanzigern, die an beiden Armen auf Metallkrücken lief, um ihre verkrüppelten Beine zu entlasten. Daher die seltsamen Geräusche.

»Carmen Escalante?«, fragte Stone.

Sie nickte. »Ja.«

Stone und Chapman zeigten ihre Dienstmarken vor.

»Wir sind hier, um Ihrem Bericht über eine vermisste Person nachzugehen«, sagte Chapman.

»Sie hören sich nicht wie eine Amerikanerin an«, sagte Carmen neugierig.

»Ich bin auch keine.«

Carmen schaute verwirrt drein.

»Können wir hereinkommen?«, fragte Stone.

Sie folgten ihr einen kurzen Flur entlang, der zu einem winzigen Zimmer führte. Die Einrichtung stammte aus dritter Hand, der Boden war mit Abfall übersät. Stone roch verfaulendes Essen.

»Ich bin in letzter Zeit nicht zum Saubermachen gekommen«, sagte Carmen, doch ihre Stimme klang gleichgültig. Sie ließ sich auf die Couch fallen und stellte ihre Krücken gegen die Armlehne des Möbelstücks. Auf beiden Seiten von ihr stapelte sich Zeug, das Stone nur höflich als Müll beschreiben konnte.

Stone und Chapman blieben stehen, weil es keine anderen Sitzgelegenheiten gab.

»Ich nehme an, Sie machen sich Sorgen«, begann Stone.

»Um meinen Onkel Alfredo, ja. Aber wir nennen ihn Freddy.«

»Wir?«

»Die Familie.«

»Ist sonst noch jemand hier?« Stone sah sich um.

»Nein, sie sind in Mexiko.«

»Also wohnen Sie hier bei ihm?«

Sie nickte.

»Und sein Nachname?«

»Padilla.«

»Wann haben Sie ihn zum letzten Mal gesehen?«, fragte Chapman.

»Vor zwei Tagen. Er wollte essen gehen.«

»Wissen Sie, wohin?«

»Ein Restaurant an der Sixteenth Street, in der Nähe der F Street. Er kommt ursprünglich aus España, mein Onkel. Die Familie meines Vaters, die Escalantes, sind auch aus España. Ist lange her. Gute Paellas in España. Er mochte seine Paellas, mein Onkel. Und dieses Restaurant, zu dem er geht, es hat gute Paellas.«

Stone und Chapman wechselten einen Blick. Offensichtlich dachten sie das Gleiche.

Dann war er ganz in der Nähe vom Lafayette Park.

»Darf ich Sie fragen, warum Sie mit dem Anruf bei der Polizei so lange gewartet haben?«, fragte Stone.

»Ich habe kein Telefon hier. Und ohne Onkel Freddy ich komme nicht weit herum. Ich dachte, er kommt bald nach Hause. Aber er kommt nicht. Also ich bitte eine Nachbarin, für mich anrufen.«

»Okay. Wissen Sie, was er angehabt hat, als er zu dem Restaurant ging?«

»Seinen blauen Jogginganzug. Er trug ihn gern, aber er hat nicht gern Training gemacht. Mir kam das komisch vor.«

»War er nicht in Form?«, fragte Chapman.

Carmen machte mit beiden Händen eine Bewegung, die einen dicken Bauch anzeigen sollte. »Er mochte seine Comida und sein Bier.«

»Wie kam er normalerweise nach Hause? Hatte er ein Auto?«, fragte Stone.

»Wir haben kein Auto. Er nimmt Bus oder Bahn.«

»Hat er gesagt, dass er nach dem Essen spazieren gehen will?«, fragte Chapman.

Carmen fing an zu zittern und zeigte auf den kleinen Fernseher, der auf einer Spanplatte stand. »Ich sehe, was passiert ist. Die Bombe. Onkel Freddy … er ist tot?« Eine Träne rann ihr über die Wange.

Stone und Chapman wechselten erneut einen Blick. »Haben Sie ein Foto Ihres Onkels hier?«

Carmen zeigte auf ein schiefes Bücherregal an einer Wand. Darauf standen ein halbes Dutzend eingerahmte Fotos. Stone ging hinüber und betrachtete sie. Alfredo »Freddy« Padilla war auf dem dritten Bild von rechts. Er trug Jeans, dazu dieselbe blaue Joggingjacke, in der er in Stücke gerissen worden war. Stone nahm das Foto und zeigte es Chapman, die den Mann, den sie so oft auf dem Video gesehen hatte, auf Anhieb wiedererkannte. Sie nickte.

Stone stellte das Foto zurück und wandte sich an Carmen. »Haben Sie Familie, die kommen und bei Ihnen bleiben könnte?«

»Dann ist er tot?«

Stone zögerte. »Leider ja, fürchte ich.«

Carmen legte eine Hand vor den Mund und begann leise zu schluchzen.

Stone kniete vor ihr nieder. »Ich weiß, das ist ein schlechter Zeitpunkt, aber gibt es irgendeinen Grund, weshalb Ihr Onkel an diesem Abend durch den Lafayette Park gegangen sein könnte?«

Carmen fand eine innere Kraft, die Stone gar nicht bei ihr vermutet hätte, und riss sich zusammen. »Er liebt dieses Land«, sagte sie. »Wir sind erst vor Kurzem hierhergekommen. Ich, damit die Medicos mit meinen Beinen helfen können. Onkel Freddy kam mit mir. Meine Eltern tot. Er bekam Job. Er verdient nicht viel, aber tut sein Bestes.«

»Ihr Englisch ist sehr gut für jemanden, der erst vor Kurzem hierhergekommen ist«, stellte Chapman fest.

Carmen lächelte. »Ich lerne Englisch in Schule, schon als ich klein war. Und ich reise nach Texas. Mein Englisch ist das beste in mi familia«, sagte sie stolz.

»Und der Lafayette Park?«, drängte Stone.

»Er ging gern spazieren und hat sich immer Ihr Weißes Haus angesehen. Er sagte oft zu mir: ›Carmen, das ist größtes Land auf Erde. Ein Mann hier kann alles erreichen.‹ Er hat mich einmal mitgenommen. Er trug mich auf den Schultern. Wir sehen uns grande casa blanca an. Er sagt, Ihr Präsident wohnt dort. Und dass er großer Mann ist.«

Stone stand wieder auf. »Ja. Es tut mir sehr leid.«

»Gibt es jemanden, der zu Ihnen kommen und bei Ihnen bleiben kann?«, fragte Chapman.

»Ist schon in Ordnung. Ich war auch vorher schon allein.«

»Haben Sie andere Verwandte?«, beharrte Chapman.

Carmen schluchzte auf und nickte. »Ich habe Leute, die kommen und mich nach Mexiko zurückbringen.«

»Zurück nach Mexiko? Aber was ist mit Ihren Ärzten?«

»Nicht ohne Onkel Freddy«, erwiderte sie. »Meine Eltern tot bei Busunfall. Ich war auch in Bus. Deshalb sind meine Beine so. Onkel Freddy war auch in Bus. Sie nehmen raus seine Milz, aber er wird gesund. Er war wie ein Vater für mich.« Sie hielt inne. »Ich … ich will hier nicht ohne ihn leben. Nicht mal, wenn größtes Land auf der Welt ist.«

»Werden Sie uns anrufen, wenn Sie Hilfe brauchen?« Stone schrieb seine Telefonnummer auf einen Zettel und gab ihn ihr. Er zögerte kurz. »Könnten Sie uns etwas von Ihrem Onkel geben? Einen Kamm oder eine Zahnbürste? Damit wir …« Er verstummte.

Sie verließen Carmen mit ein paar Gegenständen, die Alfredo Padillas DNS enthielten, die sie mit den Überresten des Mannes vergleichen lassen würden. Sie versiegelten sie in Plastiktüten, die Chapman mitgebracht hatte. Stone war sicher, dass er der Tote war. Doch erst die DNS würde den endgültigen Beweis erbringen.

»Alfredo Padilla war eindeutig zur falschen Zeit am falschen Ort«, sagte Stone, als sie zum Wagen zurückgingen. »Und Carmen muss den Preis dafür zahlen.«

»Er hat auch einen ziemlich großen Preis bezahlt«, sagte Chapman nachdenklich.

Sie stiegen ein. »Und nun?«, fragte sie.

»Hoffentlich hat Agent Gross mehr Glück gehabt als wir. Aber irgendetwas sagt mir, dass wir uns nicht darauf verlassen sollten.«

Der Auftrag
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