KAPITEL 72
Stone wachte auf. Er fühlte sich benommen, doch sein Verstand begann langsam wieder zu arbeiten. Als er sich aufsetzen wollte, hielt eine Hand ihn fest. Agentin Ashburn blickte auf ihn hinunter.
»Was …«, setzte er an.
»Lassen Sie es langsam angehen«, sagte Ashburn mit beruhigender Stimme.
Stone schaute sich um. Er lag wieder im Krankenhaus. Er wollte die Augen schließen, riss sie dann aber auf, als die Erinnerung zurückkam.
»Chapman?«
»Die wird wieder. Ein paar Beulen und Abschürfungen. Genau wie bei Ihnen.«
»Donohue ist tot«, sagte er leise.
»Ja. Sie haben die Explosion gesehen?«
Stone nickte. »Sie saß in dem Pick-up.«
»Haben Sie eine Idee, woher die Bombe kam?«
Er berührte den Kopf und verzog das Gesicht. »Entweder war sie bereits am Wagen, als Donohue nach Hause kam, oder jemand hat sie hineingeschmuggelt, als wir mit ihr gesprochen haben.«
»Ihnen ist niemand aufgefallen?«
Stone schüttelte langsam den Kopf.
Ashburn setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett. »Ihr Anruf wegen Donohue hat mich überrascht. Wie sind Sie auf die Frau gekommen?«
»Ein Gefühl.«
»Wegen ihr?«
»Nicht unbedingt. Dieses Mal wollte ich mich einfach nicht an der Nase herumführen lassen.«
»Und Sie glauben, dass das bei dieser Ermittlung der Fall ist?«
Stone setzte sich auf. »Ich glaube, dass man uns manipuliert.«
»Wer? Haben Sie eine Idee?«
»Vielleicht ist er uns näher, als es uns lieb sein kann. Erinnern Sie sich, was Agent Gross sagte? Jemand beobachtete ihn.«
»Was hat Donohue gemacht? War sie diejenige, die mit dem Baum und der Bombe zu tun hatte, und nicht George Sykes?«
»Ich glaube schon. Sie hat versucht, den Verdacht auf ihn zu lenken. Haben Sie etwas in ihrer Wohnung gefunden?«
»Nein. Aber falls sie Reisedokumente für eine mögliche Flucht dabeihatte, liegen die in den Trümmern, und die durchsuchen wir noch immer. Doch es ist eher unwahrscheinlich, dass Papier etwas Derartiges übersteht.«
»Aber sie hatte eine Tasche dabei. Wir haben sie definitiv aufgescheucht. Ich glaube, sie wollte flüchten.«
»Da widerspreche ich Ihnen nicht.« Ashburn stand auf. »Sie hatten einen schweren Tag. Ein falscher Sicherheitsmann und Scharfschütze hätten Sie beinahe erschossen, und jetzt wären Sie um ein Haar in die Luft gesprengt worden.«
»Weiß jemand, dass ich hier bin?«
»Sie meinen Ihre Freunde? Nein, wir hielten es für das Beste, das für uns zu behalten.«
»Und Chapman geht es gut? Ehrlich?«
»Ehrlich.«
»Kann ich sie sehen?«
»Ich frage mal. Bin gleich wieder da.«
Weniger als eine Minute später öffnete sich die Tür. Es war nicht Ashburn. Chapman kam in einem Rollstuhl ins Zimmer. Auf ihrer rechten Wange und ihrer Stirn klebten Pflaster.
Stone zuckte zusammen und setzte sich wieder auf. Sein Blick huschte zu dem Rollstuhl, dann zurück zu ihr.
»Keine Sorge.« Chapman lächelte. »Ich kann laufen. Das ist nur die Krankenhausregel für Patienten, die sich in die Luft sprengen ließen. Ihr Amerikaner habt so viele verdammte Regeln.«
Stone stand die Erleichterung ins Gesicht geschrieben. Er lehnte sich zurück.
Sie hielt neben dem Bett an. »Was ist mit Ihnen? Funktioniert noch alles, wie es soll?«
Stone streckte die Arme aus und bewegte den Kopf. »Soweit ich es feststellen kann. Alles ein bisschen ramponiert, aber es funktioniert noch.«
»Beinahe hätten wir sie erwischt.«
»Beinahe zählt in diesem Geschäft nicht.«
»Was hat Ashburn Ihnen gesagt?«
»Grundsätzliches. Keine Spuren.« Er lächelte sie an. »Die wichtigste Information war, dass Ihnen nichts passiert ist.«
Chapman erwiderte das Lächeln. »Es freut mich, dass Ihre Prioritäten die richtige Reihenfolge haben.«
»Sie haben mir das Leben gerettet.«
»Das bedeutet, wir sind quitt.«
»Stimmt.«
»Aber Donohue war der letzte Strohhalm. Jetzt gibt es keinen mehr, mit dem wir reden könnten.«
»Sie irren sich. Da ist Fuat Turkekul.«
»Aber er ist unantastbar.«
»Nachdem man mich zweimal in die Luft gesprengt hat, ist nichts mehr unantastbar, soweit es mich betrifft.«
* * *
Als sie ein paar Stunden später das Zimmer betrat, versuchte Stone seine Überraschung zu verbergen, aber es gelang ihm nicht.
Marisa Friedman trug einen weißen Rock, eine blaue Seidenbluse und flache Schuhe. Ihr Make-up war makellos, ihr Haar glänzte und fiel luftig auf ihre Schultern. In der einen Hand hielt sie eine schmale Handtasche, in der anderen eine Sonnenbrille. Sie richtete ihren durchdringenden Blick auf Stone und setzte sich auf den einzigen Stuhl im Zimmer.
»Wie ich sehe, überrascht Sie mein Besuch.«
»Als ich das letzte Mal in Ihre Nähe kam, machte man mir unmissverständlich klar, Sie verdammt noch mal in Ruhe zu lassen.«
»Wie viel wissen Sie wirklich? Ich meine, über mich.«
»Weaver war ungehobelt, aber informativ.«
»In unserem Beruf ist das manchmal gut, manchmal nicht.«
Stone setzte sich auf. »Warum sind Sie hier?«
»Ich habe gehört, was Ihnen zugestoßen ist. Ich wollte sehen, ob Sie in Ordnung sind.«
»Um das herauszufinden, hätten Sie nicht herkommen müssen. Ein Anruf hätte es auch getan.«
Sie schaute ihn an, blickte dann schnell zur Seite, stand auf und trat ans Fenster. »Es ist ein schöner Tag.«
»Vermutlich. Ich habe mir darüber noch keine Gedanken gemacht.«
Sie schaute weiter hinaus. »Als Kind hat mich das Wetter fasziniert. Ich war fest davon überzeugt, später mal Meteorologin zu werden.«
»Was ist passiert?«
Sie drehte sich zu ihm um. »Da bin ich mir nicht sicher. Ich habe alles richtig gemacht. Besuchte die richtigen Schulen. Dann machte ich einen Abstecher nach Harvard, um Jura zu studieren. Nach meinem Abschluss wollte ich mir ein Jahr freinehmen, durch Europa reisen und mir bei einer Firma in New York City einen Schreibtischjob suchen. Aber aus einer Laune heraus nahm ich an einem Seminar über die CIA teil, und im nächsten Augenblick sind all diese Jahre vergangen.« Sie wandte sich wieder dem Fenster zu. »Ich habe sehr viel Wetter gesehen.« Sie warf ihm einen Blick über die Schulter zu. »Aber anscheinend nicht annähernd so viel wie Sie.«
»Sie haben mit Weaver über mich gesprochen?«
Sie trat ans Bett. »John Carr. Ziemlich beeindruckend.«
Stone zuckte resigniert mit den Achseln. »Diesen Namen habe ich über dreißig Jahre lang nicht gehört, und jetzt höre ich ihn anscheinend dauernd.«
Sie schob den Stuhl näher ans Bett und setzte sich wieder. »Ich war überrascht, dass Sie mich gefunden haben. Ich hatte ja keine Ahnung, dass Sie mich an dem Abend, an dem ich Fuat besuchte, beschattet haben, bis Weavers Leute mich darüber informierten. Wie haben Sie das geschafft?«
»Sind Sie deshalb hier? Um sich zu vergewissern, dass Ihre Tarnung unversehrt ist?«
»Würden Sie nicht das Gleiche tun?«
»Ja, würde ich«, gab er zu.
»Und?«
»Ausschlussverfahren. Sie waren an diesem Abend im Park. Adelphias Geschichte hielt bei näherer Betrachtung nicht stand. Turkekul war dort, um sich mit jemandem zu treffen.« Er zeigte mit dem Finger auf sie. »Sie waren die logische Wahl. Tatsächlich habe ich länger dazu gebraucht, als ich hätte brauchen sollen. Aber zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass man alles getan hat, um die Spur zu vernebeln.«
Sie wirkte nervös. Stone konnte sich denken, aus welchem Grund. »Sie haben Angst, dass es auch andere herausfinden könnten, wenn ich es herausgefunden habe?«
»Das ist die Geschichte meines Lebens, Agent Stone. Der Versuch, es herauszufinden, bevor man mich erwischt.«
»Wie haben Sie Turkekul erwischt?«
»Ein Dutzend Kleinigkeiten, die einzeln für sich genommen nichts bedeuteten, aber von immenser Bedeutung waren, wenn man sie zusammensetzte. Ich konnte es zuerst wirklich nicht glauben. Genauso wenig wie der NIC. Aber sobald sie anfingen zu graben, stellte es sich als die Wahrheit heraus. Fuats Afghanistan-Verbindung war der letzte Nagel im Sarg. Wir verfolgten diese Geschichte zurück zu Verbindungen in der ehemaligen Sowjetunion. Sein vorrangigster Agentenführer ist heute nur drei Sitze von der Spitze der Machthierarchie entfernt.«
»Und die Verbindung zu den russischen Drogenkartellen?«
»Kartell. Eigentlich gibt es nur eins, auch wenn es vielerlei Gestalt hat. Und die russische Regierung ist sein unverbrüchlicher Partner. Nicht nur gibt es einen gewaltigen Geldfluss, der Schaden, den der Drogenhandel einer ganzen Nation zufügen kann, ist viel tödlicher, als das Militär es je zustande bringen würde. Im Krieg sterben Soldaten an der Seite von ein paar Zivilisten. Die meisten Menschen werden jedoch nicht betroffen. In einem Drogenkrieg bekommt jeder die schmerzhaften Auswirkungen auf die eine oder andere Weise zu spüren.«
»Das ist mir klar.«
»Dann stellte sich das Problem, was man mit Turkekul machen soll.«
»Und die Lösung bestand darin, ihm genug Leine zu lassen, damit er sich daran aufhängt?«
»Nicht nur das. Wir brauchen die anderen, die ganze Befehlskette hinauf. Dass Fuat ein trojanisches Pferd ist, war für uns ein ernsthafter Rückschlag. Aber wenn wir das zu unserem Vorteil nutzen können, können wir es für die andere Seite zu einem schwerwiegenden Nachteil machen.«
»Viel Glück dabei.«
Sie stand auf und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Ich weiß, dass Sie sich sehr bemühen, diesen Fall zu lösen. Und ich weiß, dass Fuat darin verwickelt ist.«
»Aber Sie wollen nicht, dass ich zu energisch vorgehe, so energisch, dass ich damit Ihre Arbeit zunichtemache?«
»Ja.«
»Ich behalte das im Hinterkopf. Sie können Weaver ausrichten, dass Ihre Mission heute ein Erfolg war.«
»Er weiß nicht, dass ich hier bin.«
»Aber klar.« In Stones Stimme lag eine Schärfe, die ihn selbst überraschte.
»Er weiß es nicht«, sagte sie mit Nachdruck.
»Warum sind Sie dann wirklich hier?«
Sie seufzte. »Ich wollte Sie wiedersehen. Mich vergewissern, dass es Ihnen wirklich gut geht, obwohl man es mir gesagt hat. Schließlich sind Sie in die Luft geflogen.«
»Warum ist Ihnen das wichtig?«
Sie rückte näher an ihn heran. »Wir sind uns sehr ähnlich, John Carr. Nicht viele Leute tun das, was wir tun.« Ihre Züge entspannten sich, und sie schien durch ihn hindurchzusehen. »Ich habe viele Jahre meines Lebens als jemand gelebt, der ich in Wirklichkeit nicht bin.« Sie konzentrierte sich wieder auf ihn. »Ich weiß, dass Sie das sogar über einen noch größeren Zeitraum hinweg getan haben. Mir ist nie jemand wie ich selbst begegnet, bis ich Sie kennengelernt habe.« Sie berührte seinen Arm. »Deshalb bin ich hier. Vermutlich wollte ich mich davon überzeugen, dass ich nicht allein bin. Dass es da draußen noch andere wie mich gibt. Für Sie hört sich das vermutlich unlogisch an.«
»Nein, eigentlich nicht. Es ergibt sogar viel Sinn.«
Sie kam noch näher. »Es ist ein einsames Leben.«
»Das kann es sein, ja.«
»Sie sind schon sehr lange allein, das sehe ich.«
»Wieso?«
Langsam hob sie die Hand und berührte seine Wange. »Es steht einem ins Gesicht geschrieben. Das Gesicht lügt nicht, wenn man weiß, wonach man Ausschau halten muss.« Sie hielt inne. »Und wir beide wissen, wonach man Ausschau halten muss, nicht wahr?«
Sie nahm die Hand weg, und Stone schaute zur Seite.
»Es tut mir leid, wenn ich Sie in Verlegenheit gebracht habe«, sagte sie. »Ich wünschte nur …«
»Was?«
»Dass wir uns schon vor langer Zeit begegnet wären.«
»Vor langer Zeit hätte es nicht funktioniert.«
»Heißt das, es könnte jetzt funktionieren?«
Stone schaute wieder zur Seite. »Bei mir funktioniert es nie.«
»Sind Sie wählerisch?«
»Das ist es nicht. Selbst wenn ich wählerisch wäre, würden Sie … Nun, es ist nicht mehr von Bedeutung.«
»Es kann immer von Bedeutung sein. Selbst für zwei alte Krieger wie uns.«
»Ich bin alt. Sie nicht.«
»In diesem Geschäft sind wir alle alt.« Sie schwieg. »Wenn wir noch am Leben sind.«
Sie stand auf, strich noch einmal über seine Wange und drückte einen flüchtigen Kuss auf die Stelle.
»Passen Sie auf sich auf«, sagte sie. Einen Augenblick später war sie verschwunden.